Fremdgehen

Jede Entscheidung hat ihren Preis. Und manchmal ist der wichtigste Moment im Leben der, der nicht passiert.

Fremdgehen ist verlockend, stürzt Beziehungen aber in tiefe Krisen. Es geht um Schuld, Integrität und Wahrheit. Hier spricht eine Paartherapeutin über die Frage: Lohnt sich das?

Frau Bellabarba, kaum eine langjährige Beziehung scheint gegen Untreue gefeit.

90 Prozent der Bevölkerung in Deutschland heutzutage halten Fremdgehen für falsch. Aber ungefähr ein Viertel der Menschen in monogamen Zweierbeziehungen hat das, was wir Affären nennen.

Warum tun Leute etwas, das sie ­moralisch fragwürdig finden?

Mich interessiert ja immer die Gegenfrage: Warum tun Menschen etwas nicht? Immerhin bleiben drei Viertel der Menschen treu, wenn die Umfragen stimmen. Im Fremdgehen liegt eine große Verlockung: Es macht Spaß, es wertet uns auf, es ist aufregend, der Sex ist neu und meistens toll. Deshalb ist wichtig zu verstehen: Welches Nein leitet uns? Und warum wird dieses Nein in bestimmten Situationen übergangen? Diese Frage lässt sich auch therapeutisch gut nutzen.

Entscheidet man sich bewusst, dieses innere Stoppschild zu übergehen?

Retrospektiv wird es oft verbrämt. „Ich bin da so reingerutscht“: Das ist die Quintessenz der Abwehr der Verantwortung für das eigene Handeln. Manche Affären sind überzeugte Liebesbeziehungen, über Jahre hinweg. Begriffe wie Affäre oder Seitensprung werden dem nicht gerecht.

So etwas passiert nicht einfach?

Verliebtheit jederzeit, Schwärmereien, Sympathie, eine Anziehung. Wenn wir Menschen in ihrer Ambivalenz und Komplexität realistisch einschätzen, verstehen wir: Das ist völlig normal. Aber ich entscheide mich, was ich daraus mache, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Ohne kleine Schritte der Annäherung kommt es nicht zu dem, was wir als Affäre oder Fremdgehen bezeichnen. Manchmal ist der wichtigste Moment im Leben der, der nicht passiert.

Wäre Ihr Rat als Therapeutin also: Finger weg?

Ich bin weder die Mutti noch der Pfarrer. Ich mache höchstens deutlich: Für jede Entscheidung, die ich treffe oder nicht treffe, zahle ich einen Preis.

Und was ist der Preis, je nachdem?

Wenn ich mich gegen den süßen Kollegen aus der Rechtsabteilung entscheide, entgeht mir ein aufregendes Entertainment. Wenn ich es mir „gönne“, riskiere ich das Ende meiner primären Beziehung, die seelische Verletzung von Menschen, die ich liebe, und den Verlust der Achtung von Menschen, die ich mag. Und nicht zuletzt: Es konfrontiert mich mit dem komplexen Gedanken, dass ich nicht nach meinen Werten lebe. Die meisten Menschen halten Lügen und Betrügen ja für falsch.

Ist der Mensch gemacht für Sex und Liebe nur mit einer anderen Person? Oder geht die Monogamie gegen unsere Natur?

Der Mensch ist dafür gemacht und gleichzeitig nicht. Wir sind Bindungswesen: Bis wir uns selbst Schuhe anziehen können, ist eine kleine Giraffe längst in der Welt unterwegs. Deshalb bleibt unser Bedürfnis nach Bindung zeitlebens stark. Gleichzeitig ist auch unser Wunsch nach Autonomie existenziell. Weil wir beide Bedürfnisse haben, trägt die Idee der Treue einen Widerspruch in sich.

Ist uns das bewusst?

Unsere romantische Idee von Liebe mit ihrem Konzept der Seelenverwandtschaft tut so, als würde der Wunsch nach Autonomie nicht existieren. Deshalb besteht kein Problembewusstsein. Als wäre eine exklusive Bindung mit Sicherheitsgarantie der Normalfall. Ich finde das absurd. Ein bisschen Realismus täte der Sache tut.

Wenn eine Affäre rauskommt, ­geraten Paare oft in die dramatischste Krise ihrer Beziehung . . .

Am Anfang wird das durchaus analog zu einer Traumatisierung erlebt. Das kann sich anfühlen, als würde sich unter einem ein Abgrund auftun. Den Betroffenen fehlt nicht nur die Zukunft, was schon schlimm genug ist. Ihnen fehlt ein gemeinsames Verständnis von der Vergangenheit, von der Identität ihrer Beziehung. Diese Verunsicherung ist unbeschreiblich schmerzhaft: Damals am Meer, das war so eine schöne Zeit, hier die Fotos, mit den Kindern, was haben wir gelacht – und plötzlich das Wissen: Der Partner hat die ganze Zeit mit jemand anderem getextet.

Trotzdem haben Sie in einem früheren Interview zu mir gesagt: Mit ­Paaren, bei denen einer fremdgegangen ist, arbeiten Sie besonders gern.

Ja, ich mag die Arbeit an dieser Thematik besonders. Anders als sonst in der Paartherapie ist das Thema Fremdgehen auch mit moralphilosophischen Fragen verbunden. Es geht um Verantwortung und Vertrauen, um Schuld und Vergebung. Und um die Frage der persönlichen Integrität: Wie will ich als Subjekt meines Treueversprechens dieses leben? Und was bedeutet dann Mäßigung, was Verzicht? Das sind Kardinaltugenden.

Klingt nicht besonders sexy.

Unsere Kultur ist gegenwärtig sehr von einem Geist geprägt, der besagt: Nimm deine Bedürfnisse ernst! Verwirkliche dich! Dieses Argument höre ich auch in der Paartherapie oft: Ich dachte, das brauche ich jetzt! Das finde ich eine interessante Formulierung, weil damit der Anspruch einhergeht: Da steht mir etwas zu. Aber warum ist etwas, das ich brauche, wichtiger als der Schmerz, den ich dir zufüge, indem ich es mir nehme? Da kommt die Verantwortung ins Spiel.

Und die Schuld, oder?

Absolut: Eine Person hat sich zu etwas entschieden, was der anderen Person Schmerzen zufügt. Anders als sonst in der Paartherapie finde ich es da nicht verkehrt, von Schuld zu sprechen.

Welche Möglichkeiten hat denn die betrogene Person, die Dinge in ihrem Sinne zu beeinflussen? Ist es besser, den Partner hochkant rauszuschmeißen und Bedingungen zu stellen? Oder muss man bei allem Schmerz ein gewisses Verständnis entwickeln?

Es ist wichtig zu gucken, aus welcher Dynamik heraus das Fremdgehen entstanden ist. Also: nicht die Beziehung, die mit einer Krise konfrontiert ist, mit denselben Mitteln retten wollen, mit denen sie vorher geführt wurde. Stellen wir uns vor, wir sind in einer liebevollen, kuscheligen, vielleicht auch langweiligen Beziehung. Jetzt bricht jemand aus und spürt sich selbst in einer anderen Form. Wenn ich da versuche, die Ursprungsbeziehung zu erhalten, indem der Betrogene zum verständnisvollen Co-Therapeuten wird, ist das keine Entwicklung – sondern dieselbe lauwarme Ursuppe, aus der die Krise entstanden ist.

Interessant.

Wenn dieses Paar eine Zukunft haben will, wäre mein Vorschlag: Versuchen wir besser, den Anteil zu integrieren, der in der Affäre gelebt wurde. Der Sexualtherapeut Ulrich Clement sagt: Ein Drittel der Paare trennt sich. Ein Drittel kehrt zur alten Ordnung zurück. Und für ein Drittel gilt: Never let a good crisis go to waste. Machen wir doch wenigstens was draus.

Das passt zu der gängigen Annahme: Die Affäre ist ein Symptom. Irgendwas in der Partnerschaft fehlt, man ist unzufrieden.

Bei manchen ist das so, aber längst nicht bei allen. Affären entstehen auch aus glücklichen, liebevollen und sexuell erfüllenden Beziehungen.

Das wäre der nächste Mythos: Es geht vor allem um Sex.

Auch das trifft manchmal zu. Die Gesamtheit der Dynamik ist aber viel komplexer.

Der Sexualtherapeut Ulrich Clement sagt: „Eine Affäre rührt an eine unbewusste Sehnsucht.“

Da hat er recht. Die Affäre hat etwas mit mir zu tun, mit dem, was ich für mich in meiner Entwicklung, in meinem Leben, in meiner Beziehung zurzeit nicht realisiere. Vielleicht habe ich etwas von mir selbst verloren. Deshalb ist die Affäre immer der Versuch, ein Problem zu lösen – wenn auch vielleicht nicht die ideale Lösung. Auf jeden Fall ist sie der gelungene Versuch, beide Grundbedürfnisse, Bindung und Autonomie, gleichzeitig zu verwirklichen.

Haben Sie ein Beispiel?

Vielleicht sind meine wilden Anteile, die ich in meinen Zwanzigern spüren und ausleben konnte, ein Stück in den Hintergrund getreten. Ich lebe ein domestiziertes Leben in einem Beruf, der nicht gehalten hat, was ich mir mal versprochen habe, in einer Ehe, die gut und stabil ist, aber das Gegenteil von gefährlich und wild. Meine Kinder fordern mich als erwachsenen, verantwortungsvollen Menschen. Wo bleibt jetzt dieser alte Anteil?

Verschüttgegangen in Anbetracht der Umstände . . .

Und dann ist da diese andere Person, die das vitalisiert und zum Leuchten bringt. Mich stört es, wenn das Fremdgehen banalisiert wird. Von wegen: Es geht nur um Sex – nein. Das sind zum Teil wirklich ganz individuelle, existenzielle Themen, die im Fremdgehen erlebbar werden.

Ihr Beispiel gilt als Klassiker. Sind Männer in der Lebensmitte besonders anfällig für Außenbeziehungen?

Das entspricht nicht meiner therapeutischen Erfahrung. Und mich stört, dass wir den Männern unterstellen, dass sie in einer bestimmten Lebensphase ein größeres Bedürfnis nach narzisstischer Aufwertung hätten. Frauen sind genauso häufig untreu wie Männer. Interessanter finde ich eine neue Scham bei betrogenen Frauen.

Was meinen Sie?

Früher war es eine Beschämung für die Frau, wenn sie betrogen und von ihrem Mann verlassen wurde. Heute werden Frauen auch beschämt, wenn sie bleiben. Das haben wir damals bei Hillary Clinton gesehen, die von feministischer Seite angegriffen wurde. Das Selbstverständnis früher war: Stand by your man, egal was passiert. Heute heißt es: Wie kann eine Frau sich so was bieten lassen?

Das entspricht nicht dem Bild einer starken, unabhängigen Frau?

Früher konnten Frauen nicht gehen, weil sie in jeglicher Hinsicht abhängig waren. Heute können sie gehen. Das macht die Entscheidung zu bleiben nur stärker.

Wer definiert, wo Fremdgehen anfängt?

Das Paar selbst. Das ist genau der Punkt: Wir müssen miteinander für uns stimmige Abmachungen treffen.

Wie bitte?

Heutzutage braucht es in jeder Beziehung Absprachen darüber, welche Grenzen unsere Intimität schützen sollen. Meine Großeltern sind 1904 in Rom geboren, sie kamen aus einfachen Verhältnissen. Der normative Korridor, den Kirche und Gesellschaft vorgaben, war schmal. Das hat sich verändert. Wer heute eine Beziehung eingeht, muss Abmachungen treffen: Was soll Treue in unserem Leben bedeuten? Was kann ich dir versprechen und was nicht?

Das heißt, man sollte sich in regelmäßigen Abständen fragen: Schatz, wie halten wir es mit der Treue?

Das schadet nie. Denn es ist weder selbstverständlich noch wahnsinnig leicht, treu zu bleiben. Ganz abgesehen davon, dass die Leute zum Teil sehr eigenwillige Vorstellungen haben, was Monogamie bedeutet.

Inwiefern?

Ich unterrichte an der Medical School Berlin den Kurs „Paar- und Sexualtherapie“. Wenn dort das Thema Fremdgehen dran ist, nehme ich bei den Studierenden einerseits einen großen Wunsch nach offenen Beziehungen wahr. Gleichzeitig gibt es ganz hohe Ansprüche an Exklusivität. Ein Beispiel: An eine andere Person zu denken, für die ich ein bisschen schwärme, ist Untreue. Das finde ich eine brutale Ansage, ein Gefängnis der Herzen. Die privaten, kleinen Gedanken in meinem Kopf gehören auch noch dir? Das halte ich langfristig nicht für hilfreich.

Wie gut funktioniert das mit den offenen Beziehungen?

Konsensuelle nichtmonogame Beziehungsformen wie zum Beispiel Polyamorie sind ebenfalls eine Herausforderung, weil die Komplexität der Beziehungsdynamik sich erhöht, sodass die Beziehungspartner in einem viel höheren Maße kommunikationsfähig sein und bleiben müssen. Das braucht eine Haltung und eine emotionale Kompetenz, die nicht jedem zugänglich ist. Für die Paare, die ich sehe, ist es eine Überforderung, zu anstrengend, zu kompliziert. Aber ich glaube, dass das für viele gut laufen kann. Die verantwortungsvolle Entscheidung, dass man mehrere Menschen gleichzeitig lieben kann, dürfte unserem inneren Verständnis von Liebe eigentlich entsprechen. Der liebe Gott liebt ja auch nicht nur mich allein. Wenn man das leben kann, finde ich den Gedanken einigermaßen zauberhaft.

Kann man sich davor schützen, betrogen zu werden?

Schmerz gehört zum Leben dazu. Das Risiko, das Potential, die Gefahr: Alles kann passieren. Es gibt keinen Schutz.

Kann man diesen schlimmen, traumatischen Schmerz denn heilen?

Selbstverständlich. Das heilt nicht immer. Aber wenn Sie als Paar weitermachen wollen, muss das heilen und inte­griert werden. Man kann schon sagen: Eine Beziehung, die eine solche Krise übersteht, indem sie an dem Drama wächst, ist ordentlich solide. Respekt.

Entscheidend ist, ob das verlorene Vertrauen zurückkehrt, oder?

Das ist ein Prozess, der braucht und braucht und braucht. Und vielleicht wird es nie wieder so, wie es mal war. Das ist aber auch nicht notwendig. Ich kann eingeschränkt vertrauen.

Das reicht?

Vertrauen ist eine Entscheidung, die wir für uns selbst treffen. Unser Leben beruht ja darauf, dass wir vertrauen: dass mein Kaffee nicht vergiftet ist, dass mir kein Helikopter auf den Kopf fällt. Ich brauche dieses Vertrauen, um mich in der Welt wieder einigermaßen sicher zu fühlen – Misstrauen und Angst sind ein Gefängnis für mich selbst. Ich vertraue nicht, weil der oder die andere es verdient hätte. Ich schenke mein Vertrauen, ein Akt der Freiheit.

Wir müssen noch über das Verzeihen reden.

In jeder Auseinandersetzung mit so einer Krise wird Verzeihen ein Thema werden. Nicht am Anfang, vielleicht auch nicht auf halber Strecke, aber irgendwann. Wie verzeihe ich, was verzeihe ich, was verzeihe ich nicht? Und was brauche ich dafür? Viele Menschen, die betrogen haben, werden da auf einmal sehr ungeduldig und sagen: Ich habe mich doch schon hundertmal entschuldigt! Und meine Partnerin oder mein Partner ist immer noch sauer! Dabei gilt: Ich kann mich nicht entschuldigen. Ich kann nur um Entschuldigung bitten.

Auf einmal hält der betrogene Partner alle Fäden in der Hand.

Die maximale Hilflosigkeit wechselt die Seite, und der Partner, der betrogen hat, drängt auf Erlösung. Da muss man therapeutisch sehr verlangsamen. Denn: Wenn die Schuld vergeben wird, ist auch ein Band gelöst. Ich habe keine Ansprüche mehr, du schuldest mir nichts mehr. Dann kann wirklich eine neue Beziehung beginnen. Aber das muss wohlüberlegt sein.

Klingt doch erstrebenswert.

Aber man zahlt einen Preis. Die moralische Oberhand ist eine sehr bequeme Position, weil ich dem anderen ununterbrochen Vorwürfe machen kann. Viele stellen sich da einen Liegestuhl auf und bleiben ihr restliches Leben darauf sitzen.

Letzter großer Begriff: Wahrheit. Darum geht es auch immer, oder?

Leider. Die Vorstellung ist: Wenn ich retrospektiv zurückverfolgen kann, was passiert ist, erlange ich die Kontrolle über unsere Vergangenheit wieder. Dieser Impuls ist nachvollziehbar. Ich kann aber nicht rekonstruieren, was war.

Also ist es doch am besten, das mit den Affären einfach zu lassen?

Wenn wir Eros als anarchische Kraft begreifen, was wir realistischerweise tun sollten, verstehen wir, warum wir die skurrilsten und blödesten Fehltritte riskieren. Aber diese Kraft kann uns auch Transzendenz und ein existenziell bedeutungsvolles Erleben verschaffen. Das ist nicht trivial. Wie gesagt: Eine Affäre ist ein begnadeter Zustand, der mit großen narzisstischen Aufwertungen verbunden ist. Man sieht sich in den Augen der anderen Person als das phantastischste Wesen der Welt. Wer würde das nicht wollen? Ich muss also sehr gute Gründe haben, die es für mich, mit allen meinen Anteilen, erstrebenswert machen, darauf zu verzichten.

Da kann keine langfristige Beziehung mithalten.

Diese Ernüchterung teile ich nicht. Eine Bindung, die mit den Jahren realistisch geworden ist, kann Unvergleichliches: Wir werden geliebt, obwohl wir so sind, wie wir sind.

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