Wahrheit, Täuschung und Lüge

„Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, dass die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. Und darum ist die Aufgabe, das verborgenste Seelische bewusst zu machen, sehr wohl lösbar.“ Sigmund Freud

Die Lüge gehört zur Psychologie des Alltagsverhaltens. Sie ist in jedem sozialen Kontext einsetzbar und mit jeder denkbaren Motivstruktur zu verbinden. Definitorisch ist davon auszugehen, dass nur dann von einer Lüge gesprochen werden kann, wenn eine bewusste Entscheidung des Akteurs vorliegt (nicht vollständig aufrichtig zu sein) und das Opfer keine Zustimmung zu dieser Verhaltensvariante gegeben hat. So wie man nicht nicht kommunizieren kann (Watzlawick), so kann man demnach nicht leben ohne zu lügen und dennoch unterscheiden sich Menschen beträchtlich hinsichtlich der Häufigkeit sowie der eingesetzten Technik des Lügens und vor allem bezüglich der implizierten Destruktivität. Es werden bedeutende Motivstränge des Lügens sowie die gängigen Techniken und deren Vor- und Nachteile erläutert. Die beiden großen Forschungszweige der Psychologie zur Aufdeckung von Lügen werden skizziert (der Lügendetektor und die Analyse der Körpersprache).

Ein Mensch, der nicht lügen kann.

Die allgemeine Psychologie der Lüge

Da Lügen ein zentrales Verhaltensmerkmal zwischenmenschlicher Beziehungsgestaltung ist, gehört das Handwerkszeug des Lügens zur Grundausstattung und muss schon in frühester Kindheit trainiert werden. Das psychologische Paradoxon ist: Obgleich die Lüge alltäglich ist, so wird sie doch in allen Kulturen als moralisch verwerflich klassifiziert. Dies impliziert unausweichliche intrapsychische Konflikte. Es ist zu vermuten, dass die negative Bewertung zivilisatorisch den Zweck hat, das Lügen ein wenig einzudämmen.

Interessant ist wissenschaftsgeschichtlich, dass in den entsprechenden Lehrbüchern der Psychologie regelmäßig ein entsprechendes Kapitel fehlt. In der Subdisziplin der „Allgemeinen Psychologie“, in welcher Sprache, Denken, Lernen und Verhalten beheimatet sind, wäre bei der Alltäglichkeit des Phänomens ein Kapitel zur Lüge zu erwarten. Und ein weiteres bemerkenswertes Charakteristikum psychologischer Forschung zur Lüge verdient der Markierung: Das Hauptinteresse gilt nicht der Entstehung und intrapsychischen Dynamik der Lüge, sondern deren Erkennen und Aufdecken (Körpersprache, Lügendetektor).

Die oben beschriebene Doppelmoral zeigt sich zunächst eindrucksvoll darin, dass die psychologische Forschung nahe legt, dass diejenigen Menschen, die von anderen als ehrlich, authentisch und offen – also wenig lügend – eingeschätzt werden, besonderes soziales Ansehen genießen. Nicht-lügen gehört zu den sozial am meisten geschätzten Eigenschaften.

Volker Sommer untersucht das tierische und menschliche Täuschen, Tarnen und Tricksen aus evolutionsbiologischer, kulturgeschichtlicher und psychologischer Sicht

Das Belegmaterial, das Sommer dafür zusammengetragen hat, ist imposant und resultiert nicht nur aus seinen eigenen Forschungsarbeiten, sondern auch aus denen vieler seiner Kolleginnen und Kollegen, von Jane Goodall und Diane Fossey, Frans de Waal, Byrne und Whiten, Robin Dunbar, Gregory Bateson, Michael Tomasello, Richard Alexander, von seinem akademischen Mentor Christian Vogel und etlichen mehr. Die Leser erfahren dabei Verblüffendes über die taktischen Täuschungsmanöver unter Primaten, wie Affen einander Bären aufbinden und mit der Absicht, den Täuschenden zu täuschen scheinbar „Gedanken lesen“ können; wie ein „falscher-Eindruck-erwecken“ zum sozialen Werkzeug wird und wo die (tierischen) Grenzen der Bluffs liegen. Eine oft auch zum Schmunzeln anregende Auswahl aus den Sternstunden geduldiger Beobachtung, von denen 253 Episoden auch in einem Sonderheft der Zeitschrift Primate Report des Deutschen Primatenzentrums Göttingen versammelt sind.

Parallel zu dieser empirisch-fachwissenschaftlichen Ebene erzählt Sommer auf einer zweiten die  Kulturgeschichte der ethischen Bewertung von Lug und Trug.  Das war seit jeher ein Großthema für Theologen und Philosophen, für Dichter, Künstler und Realpolitiker, und je nach Zeitumständen und Standpunkt pendelte diese Bewertung zwischen pragmatischer Lizenz und kompromissloser Verurteilung. Sommer lässt dazu viele gewichtige Stimmen zu Wort kommen, unter anderen von Homer, Platon, Aristoteles, Augustinus, Thomas von Aquin, Luther, Machiavelli, Descartes, Spinoza, John Locke und Rousseau, David Hume, Münchhausen, Rudolpf von Ihering, Büchner, Kant und Schopenhauer, Wilhelm Busch, Georg Simmel, Friedrich Alverdes und Winston Churchill. In vielen Zitaten zeigt sich, dass die Lüge schon früh als der Menschennatur zugehörig akzeptiert wurde, als ‚anthropologische Konstante‘, als Überlebenstechnik wie etwa bei Nietzsche:
„Der Intellekt entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung, denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen einen Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiss zu führen versagt ist.“ (aus Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn, 1896)


Lügen ist im Kern (sozusagen losgelöst vom konkreten Kontext) die Manipulation des anderen Menschen (ohne dass dieser es bemerkt also) mit dem Zweck, einen Vorteil daraus zu erreichen. Und (ganz wesentlich): Der erzielte Vorteil soll nicht vollständig gezahlt werden. Der Aufwand des Lügens wird also geringer eingeschätzt als die Mühe der Offenheit. Lüge und Täuschung erscheinen dem Lügenden als eine „preiswerte“ Vorteilsnahme.

Noch ein Mensch, der nicht lügen kann.


Da Lügen trotz seiner Alltäglichkeit als moralisch verwerflich angesehen wird und da die Aufdeckung einer Lüge mit viel Ungemach verbunden ist, kann geschlossen werden, dass jede Lüge als intrapsychischer Vorgang mit einem energetisch aufwändigen, Zeit und Aufmerksamkeit kostenden Prozess verbunden ist. Lügen ist Stress und Stress löst eine Vielzahl körperlicher Reaktionen aus. Und zugleich werden – bei halbwegs gelungener Sozialisation – immer innere Konflikte und ein individuell unterschiedliches Quantum an Schuldgefühlen damit erkauft. Der je individuelle Preis der Lüge errechnet sich also aus der je spezifischen Persönlichkeitsstruktur.

Es ist festzuhalten: Lügen kostet das Gehirn Energie und Zeit (es blockiert also andere Prozesse im Gehirn) und löst zahlreiche körperliche Reaktionen aus. Es bedarf eines komplizierten Vorgangs der Güterabwägung und – wenn man nicht eine allzu schnelle oder leichte Überführung riskieren möchte – bedarf es einer erheblichen sozialen Intelligenz: Man muss die Fähigkeit besitzen, den sozialen Kontext differenziert zu analysieren, man muss zur Perspektivenübernahme fähig sein, um vorauszuberechnen, wie der Empfänger der Lüge die Situation erlebt und bewertet. Weiterhin ist eine beachtliche Merkfähigkeit erforderlich, weil Nachfragen vom Opfer oder von Dritten zu erwarten sind und Widersprüche tunlichst vermieden werden müssen, da sie immer der Anfang der Aufdeckung sind. Zusätzlich, und das ist der schwierigste Teil des Prozesses, muss ein hoher Aufwand betrieben werden, damit man sich nicht beim Vorgang des Lügens durch unpassende Tonlage, durch Sprechpausen oder inadäquate Mimik, Gestik und Körperhaltung verrät.

Der skizzierte intrapsychische Konflikt bildet natürlich soziale Normen ab und ist auf komplexe, aber widersprüchliche Weise gesellschaftlich kontextualisiert. Kinder lernen in der Schule, dass Aufrichtigkeit erwartet wird und Zuwiderhandlung nachteilig ist, während zugleich jede Nachrichtensendung schwerste folgenlose Lügen dokumentiert. Eine gesellschaftlich hoch angesehene Institution zelebriert seit Jahrhunderten die Doppelmoral: die Institution nämlich, die moralisch die Lüge geißelt und in der Sozialisation einen beträchtlichen Aufwand treibt, um die Lüge als verwerflich zu brandmarken, ist zugleich diejenige, die sich von Anbeginn an virtuos der Lüge bedient. Die katholische Kirche verwendet diese Sozialstrategie (Doppelmoral) routiniert seit Jahrtausenden. Beispiel: Sie betrieb in Deutschland lange Jahre Beratungsstellen für ungewollt Schwangere und bescheinigte diesen ihren Besuch, sagte aber offiziell, dieser Schein sei kein Schein im eigentlichen Sinne des Gesetzes, obgleich er vom Staat als solcher anerkannt wurde: es war der Schein-Schein erfunden („Ceci n’est pas une pipe“). Und noch raffinierter: Sie geißelt die Lüge und stellt zugleich den Lügenden ein Ritual zur Verfügung, das den inneren Konflikt minimiert: die Beichte. So kann man vor den Augen Gottes lügen und erhält durch Buße ein leichteres Gewissen, also Über-Ich-Entlastung.

In diesem Kontext muss eindringlich auf die enorm destruktive Kraft des Lügens hingewiesen werden. So alltäglich die Lüge sein mag, sie kann in bestimmten Kontexten eine dramatisch zerstörerische Seite haben: Bestimmte Lügen in spezifischen Kontexten können Menschen zerstören, in den Selbstmord treiben und für den Rest des Lebens ein Vertrauen in das eigene Ich, in die eigene Wahrnehmung und die Antizipierbarkeit des Lebens nehmen. Lügen können also andere Menschen zerstören und der Lügende hat meist die Fähigkeit, dies zu antizipieren. Lügen können eine massive Aggression sein und nicht reparierbare Schäden verursachen und zwar im persönlichen wie auch im gesellschaftlichen Lebensraum.

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Blog

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert