Resonanz

Die Sonne scheint, ein Wind weht: Naturerlebnisse berühren – wenn man sich berühren lassen will

Der Soziologe Hartmut Rosa über die Überforderung der Menschen durch ein Leben voller To-do-Listen.

Herr Rosa, aus Ihren Vorträgen und Büchern spricht eine tiefe Sorge um die seelische Verfassung des modernen westlichen Menschen. Was beunruhigt Sie?
Dass in unserer Gesellschaft offenbar fundamental etwas schiefläuft. Es geht darum, wie Menschen sich zum Leben stellen. Die Wut nimmt zu, sie richtet sich gegen andere, aber irgendwie auch gegen das Leben selbst, das uns scheinbar nicht mehr gibt, was wir uns von ihm versprochen haben. Aggression als Reaktion ist die eine Seite, psychische Krankheiten wie Burnout und Depressionen die andere.

Was quält uns aus Ihrer Sicht?
Ich habe dafür einen etwas sperrigen Begriff geprägt: Alltagsbewältigungs-Verzweiflungsmodus. Jeder kennt das: Von morgens bis abends begegnet uns die Welt als Aggressionsfläche, in der wir ständig Dinge bewältigen und bearbeiten müssen. Dies besorgen, das erledigen, den anrufen, das wegschaffen. Das Leben als einzige, ausufernde To-do-Liste. Das geht schon morgens im Bad los.

Inwiefern?
Ich sehe in den Spiegel und denke: Diese Falte müsste weg, der Bauch auch, das Haar sollte voller sein. Immer erhalte ich die Botschaft: Tu was.

Aber ich sende sie mir ja selbst.
Das ist es ja gerade. Der Optimierungswahn ist verinnerlicht. Diese gefühlten To-do-Listen schwellen in uns immer mehr an. Die Zahl der Dinge, die wir glauben tun zu müssen, wird so groß, dass wir sie gar nicht mehr bewältigen können, egal, wie sehr uns der technische Fortschritt scheinbar Zeit verschafft. Und das zwingt uns in eine Welthaltung, die ich als Aggressionsverhältnis bezeichne: Ich bin immer unzufrieden und frustriert.

Es geht nicht mehr ums Wollen, sondern nur noch ums Sollen.
Genau. Man sollte pro Tag zehntausend Schritte gehen. Man sollte sich rechtzeitig um die Altersversorgung, seine Fitness, die alten Eltern, die Familie, die Freunde, den Job, den tollen Kindergeburtstag, die Beziehung, den Garten oder die nächste Feier kümmern. Jeder könnte diese Liste beliebig verlängern. Und fertig werden wir nie.

Was ist die Alternative?
Was wir ja tun, ist, Dinge zu erledigen und zu optimieren. Wir versuchen, möglichst viel von der Welt unter Kontrolle zu bringen. Das ist nicht per se schlecht. Aber wir wünschen uns offenbar etwas anderes. Es geht um ein neues Gleichgewicht. Wir haben eine tiefe Sehnsucht nach einer anderen Art des In-der-Welt-Seins, eine Sehnsucht nach Resonanz. Und um die geht es.

Resonanz heißt ja in der Physik so etwas wie Mitschwingen …
Ja, das trifft es auch auf der sozialen Ebene. Wir möchten von etwas berührt und bewegt, ja, nennen wir es ruhig „ergriffen“ werden. Das kann Musik sein, das können Begegnungen sein, Naturerlebnisse, Reisen oder ein Buch. Es geht darum, dass wir uns im übertragenen Sinne von etwas anrufen lassen und dann auch „aufhören“. Ich mag dieses Wort: Wir halten inne und hören hin.

Resonanz – Kontakt zum Lebendigen

Es geht also um Kontakt, Verbundenheit, um Offenheit, um wechselseitiges Senden und Empfangen. Auch im übertragenen Sinne. Natürlich kann uns ein Musikstück nicht im wortwörtlichen Sinn anfassen, aber wir beschreiben unbewusst Resonanz, wenn wir sagen: „Das Lied berührt mich“ oder „Dieses Bild spricht mich an“. Meist geschieht das im Zustand eines unbewussten Zulassens. Man kann nicht beschließen, dass einen der Garten erfüllt. Man kann nicht wollen, dass einen ein Bild berührt. Und man kann sich auch nicht vornehmen, sich zu verlieben. Es geschieht. Resonanz ist, wenn die Welt antwortet, obwohl man gar nicht bemerkt hat, dass man gefragt hat.

Sehr viele Menschen suchen und finden dieses Gefühl in der Natur. Im Kontakt zum Lebendigen, Ursprünglichen. 

Aber die Menschen lesen ja, gehen auf Konzerte, sie reisen, begegnen einander.
Aber in welchem Modus? Es geht darum, dass wir auch wirklich innerlich auf das antworten, was uns anruft. Dass wir eben mitschwingen, uns einlassen und selbstwirksam etwas oder jemanden „da draußen“ zu erreichen vermögen. Das haben viele verlernt. Wir müssen die Dinge in uns wirken lassen und uns dann von ihnen im besten Fall verwandeln lassen. Man fühlt sich nur lebendig, wenn man sich berühren und verwandeln lässt.

Was meinen Sie mit verwandeln?
Dass das Erlebte etwas in uns auslöst und uns positiv verändert: die Stimmung, Einstellungen, Haltungen. Gibt es nicht auch für Sie das Buch, das Ihr Leben veränderte? Das Lied, das etwas Neues in Ihnen zum Klingen brachte und Ihnen neue Horizonte eröffnete? Das Gespräch, das Sie nachhaltig erfüllte?

Im Zen ist das: verlieben.

„Wir fragen nie nach dem Sinn des Lebens, wenn wir verliebt sind.“ – Osho

Sich zu verlieben, ist das Reifste und Realistischste, das man tun kann. Es gibt dem Leben Energie, erfüllt einen mit positiven Einstellungen, erzeugt Großzügigkeit und verschönt jeden Augenblick. Verliebtsein verscheucht augenblicklich das Gefühl der Sinnlosigkeit und des Ausgeschlossenseins, das viele Menschen quält. Der Körper wird gesund, das Herz ist glücklich.

Verliebt zu sein ist unser Naturzustand. Die eigentliche Frage, die wir uns stellen sollen, lautet daher: Warum sind wir nicht die ganze Zeit verliebt?

Ja, aber das ist so selten.
Eben. Viele von uns machen ja die Erfahrung, dass wir meist dieselben bleiben, egal, wie viel Welt wir in Reichweite bringen. Nehmen Sie das Reisen: Immer schneller wechseln die Oberflächen. Wir reisen hier- und dorthin. Man sucht Exotik in der Fremde und bleibt doch immer derselbe, weil man sich fast nie berühren und verwandeln lässt. Manche schließen das sogar systematisch aus.

Wie denn das?
Indem sie zum Beispiel Kreuzfahrten machen. Man bleibt da, von kleinen Trips abgesehen, eigentlich immer auf dem Schiff, weil man mit dem Anderen nicht wirklich in Kontakt treten möchte. Man will es sehen, streifen, sich aber nicht wirklich berührbar machen. Denn das bedeutet, sich auch verwundbar zu machen. Jedes Risiko soll ausgeschlossen werden. Wir nehmen unser sicheres Zuhause mit in die Welt. Aber so entsteht kein Gefühl von Lebendigkeit.

Also raus mit dem Rucksack und den Wanderstiefeln und mitten rein in die Fremde?
Schon besser. Aber machen wir uns nichts vor: Resonanz kann nicht erzwungen werden. Man kann sie nicht herstellen und übrigens auch nicht kaufen. Wir versuchen das immer, aber es klappt meist nicht.

Warum nicht?
Weil wir so unser Resonanzbegehren in ein Objektbegehren verwandeln. Wir kaufen Kleidung, schöne Autos, buchen eine Safari, zahlen ein teures Konzertticket. Wir denken: Ich habe bezahlt, jetzt muss es toll werden. Und sind dann oft enttäuscht. Man kann das Berührtwerden nicht erzwingen, nur erhoffen. Wirkliche Resonanz ist unverfügbar. Das ist hier der zentrale Begriff.

Den müssen Sie erläutern.
Unverfügbarkeit heißt, dass wir nicht sagen können, wann und wo die Resonanz eintritt. Und man weiß nie, was dabei herauskommt. Wirkliche Resonanzerlebnisse sind grundsätzlich ergebnisoffen. Aber genau diese Ergebnisoffenheit, eben das Unverfügbare, ist für viele offenbar eine Zumutung. Sich auf etwas einzulassen, ohne zu wissen, was dabei herauskommt, klingt für sie unvernünftig. Man hat ja genug zu tun.

Heißt das nicht auch, dass wir das Scheitern wieder mehr zulassen müssen?
Absolut. Wer nur Dinge tut, von denen er weiß, dass sie klappen, verhindert ja gerade das Unverfügbare. 

Nichts ist schöner als Scheitern. Habt ihr es schon einmal ausprobiert? Wenn man mal erste Erfolge im Scheitern hat, kann man fast nicht genug davon bekommen.

Gehen wir mal ins Private. Ist die Liebe nicht auch Unverfügbarkeit in Reinkultur?
Ja, schon im Hinblick auf das Eintreten dieses emotionalen Ereignisses. Liebe ist nicht planbar. Und wenn sie dann da ist, erfahren wir in einer Liebesbeziehung am deutlichsten, dass wir den anderen nicht vollständig verfügbar machen können und dürfen. Das muss ein dynamisches Wechselverhältnis bleiben. Liebe kann nur erfahren werden, wenn der andere unverfügbar, aber erreichbar ist. Die totale Kontrolle über den anderen wäre die pure Langeweile, dann hätten wir eine Art Liebesroboter. Wir können Liebe nicht planen, sie nicht erzwingen und sie auch nicht einseitig halten. Wir müssen uns auf sie einlassen. Mit allen Risiken.

Was suchen wir im anderen?
Antworten. Wir wollen uns verstanden und aufgehoben fühlen, wir wollen angenommen werden und uns bewegen, aber uns auch durch das Fremde inspirieren lassen. Nicht nur von Menschen, auch von Erlebnissen oder der Natur.

Es ist die wachsende Angst vor dem, was Hartmut Rosa das „Weltverstummen“ nennt: „Wenn wir uns von nichts mehr anrufen und verwandeln lassen, oder wenn wir auf die zahlreichen Stimmen da draußen nicht mehr selbstwirksam zu antworten vermögen, sind wir innerlich tot, versteinert, kurz: resonanzunfähig.“ Es ist das Leben in den immer gleichen Bahnen, das Rosa meint. Wir funktionieren, statt zu leben. Wo sind die Begegnungen, die Dinge, die uns anrühren und verwandeln, unsere Stimmung aufhellen, festgefahrene Haltungen infrage stellen?

So mancher kennt das. Dieses stumme Ertragen. Und die stille Sehnsucht nach einem anderen, echten, gelingenden Dasein. Das nagende Gefühl, dass da draußen das Leben weitergeht und pulsiert, aber einem selbst sagt das alles nichts mehr. Man ist in der Welt, man funktioniert, aber die Welt verblasst und wird stumm.

„Zurück zur Natur“ ist ja gerade im Trend.
Bisher ist das vorherrschende Verhältnis gegenüber der Natur auf der Makroebene immer noch ein aggressives. Wir verbrauchen, beherrschen und vergiften sie. Natur ist nutzbare Biomasse. Die Folgen sind unter anderem der Klimawandel und das Artensterben. Und dennoch machen wir weiter. Kaum ein Winkel der Welt, der nicht durchforstet und nach Verwertbarem durchkämmt wird. Aber es stimmt: Das Unbehagen darüber nimmt zu. Das Umdenken – oder besser Umfühlen – hat begonnen. „Zurück zur Natur“ ist ja nicht nur ein Slogan. Dahinter steckt ein tiefes Bedürfnis vieler Menschen, wieder mit dem Umgreifenden, dem Urgrund der Existenz, verbunden zu sein.

Sie klingen jetzt wie ein idealistischer Philosoph. Sind Sie ein Romantiker?
Ich bin ein großer Bewunderer der Aufklärung. Aber in der Epoche der Romantik wurde die Idee der schützenswerten Kindheit geboren, wurden die Konzepte der partnerschaftlichen Liebe und der Freundschaft formuliert, wurde der Natur und der Kunst ein Eigenwert zugesprochen. Wenn Sie diese Dinge meinen, dann können Sie mich gern auch einen Romantiker nennen. Aber das bedeutet nicht, dass man blind werden darf für die Realität sozialer Verhältnisse.

Ihre Analysen klingen sehr einleuchtend. Aber was kann ich als Einzelner tun? Ich kann ja nicht ständig ergebnisoffen durch den Wald wandern.
Sollten Sie aber mal. Natürlich nicht ständig. Aber es wäre ein Anfang. Ich bin Soziologe. Ich schreibe keine Glücksratgeber für Individuen. Ich forsche und analysiere. Und ich will ja gerade eben nicht alles dem Individuum zumuten und rufen: Du musst dein Leben ändern.

Sondern?
Natürlich können wir nicht aufhören zu arbeiten und müssen weiterhin Dinge erledigen. Die Art und Weise, wie wir der Welt begegnen, ist zu großen Teilen institutionell vorbestimmt. Am Arbeitsplatz, im Supermarkt, beim Sport – überall begegnen wir der Welt in diesem ständigen Steigerungsmodus.

Dem wir nicht entfliehen können.
Kommt darauf an. Eigentlich hören wir den ganzen Tag über kleine Resonanzappelle. Wir antworten nur nicht. Man kann sich trotz der Alltagsbewältigung öffnen, neugierig sein, ausgetretene Pfade verlassen, Dinge auch mal geschehen und sich treiben lassen. Eben „aufhören“. Es sind die kleinen Momente und Begegnungen, die den Unterschied machen. Mit dem Kollegen reden, statt eine Mail zu schreiben, beim Konzert das Handy in der Tasche lassen, den Partner, die Kinder, die Freunde wirklich wahrnehmen, dem Obdachlosen auf der Straße einen Blick schenken und vielleicht auch einen Euro. Schon habe ich einen kleinen Resonanzmoment. Es gibt viele kleine Spielräume, die wir nutzen können, um nicht nur zu funktionieren.

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