Messie-Syndrom

So sieht es bei einem resozialisierten Messie aus.

Viele Menschen hängen an ihren Sachen, aber einigen fällt das Loslassen besonders schwer. Warum ist das so? Ein Gespräch mit Messie-Expertin Veronika Schröter.

taz: Frau Schröter, horten, also Dinge sammeln und aufbewahren, das machen wir ja irgendwie alle. Sonst hätten Aufräumexpertinnen wie Marie Kondo und Co nicht so einen großen Erfolg – aber wann wird es pathologisch?

Veronika Schröter: Jeder kennt die Problematik, sich von Dingen zu trennen. Aber nicht jeder wird an dieser Aufgabe scheitern. Wenn es nicht pathologisch ist, komme ich zum Beispiel wunderbar mit einem Aufräumcoach zurecht. Ich kann seine Tipps und Ratschläge sehr gut annehmen und umsetzen, fühle mich entlastet und atme durch. Weil es nicht andockt an etwas, das ich noch nicht verarbeitet habe.

Das heißt, je größer der Widerstand gegen das Ausmisten, desto größer das Problem?

Genau. Wenn ich meinen Klienten jemanden mitbringe, der mit Tipps ankommt, empfinden sie das als übergriffig – weil Pathologisches Horten eben keine Aufräumproblematik ist. Das musste auch ich als Messie-Expertin erst lernen.

Erzählen Sie!

Früher hat mich das Jugendamt regelmäßig zu betroffenen Familien nach Hause geschickt. Dort war es so voll, dass manchmal Schlafplätze nicht mehr klar definiert waren. Also haben mein Team und ich uns ans Aufräumen gemacht. Wir dachten: Um der Familie zu helfen, müssen mindestens drei Viertel der Sachen raus.

Aber das war nicht der Fall?

Obwohl die Eltern wussten, dass wir die Kinder aus der Familie nehmen müssen, wenn es so weitergeht, gab es bei dieser Thematik keine Bewegung. Die Mütter und Väter haben zwar vor lauter Angst mit uns aufgeräumt, solange wir da waren. Aber sobald wir weg waren, haben sie die leeren Stellen doppelt und dreifach wieder befüllt. Gleichzeitig hat es gegenüber den Kindern nur selten an emotionaler Zuwendung gefehlt. Da bin ich dann stutzig geworden. Denn wenn etwas direkt wiederkommt, das man versucht hat freizugeben, heißt das immer: Hinter der Welt der Dinge sind Themen verborgen.

Wenn Pathologisches Horten kein Aufräumproblem ist – was ist es dann?

Ich habe festgestellt, dass dem Pathologischen Horten eine sogenannte Wertbeimessungsstörung zugrunde liegt. Das bedeutet, die Betroffenen können gar nicht erst unterscheiden: Ist dieses Ding wichtig, wertvoll, nützlich, schön – oder nicht?

Also das Mantra von Marie Kondo: Does it spark joy?

Das können sie nicht beantworten, deshalb scheitern sie schon im Ansatz. Da können fünfzig Kulis nicht mehr funktionieren, Hauptsache, sie sind da.

Ich kenne einige Leute, die jetzt behaupten würden, sie hätten eben eine ausgeprägte Sammelleidenschaft.

Da gibt es einen ganz klaren Unterschied. Sammler sind stolz wie Harry. Die zeigen ihre Sachen gerne und sagen: Schau mal, was wir alles aus dem Ausland mitgebracht haben! Ein pathologischer Horter ist nicht stolz, der schämt sich.

Das heißt, pathologischen Hortern ist durchaus bewusst, was andere über ihre Wohnsituation denken.

Ja. Und das ist ihnen sehr, sehr peinlich. Die meisten beginnen eine Therapie, weil sie endlich wieder Menschen einladen wollen. Pathologische Horter leben wie in zwei Welten. So, wie sie in der Öffentlichkeit auftreten, würde kein Mensch glauben, dass ihre Wohnung – oder eins ihrer Zimmer – überfüllt ist. In der Regel gehören sie zur Mittel- und Oberschicht …

… was ja nicht gerade das gängige Messie-Klischee bestätigt. Woran liegt das?

In der Kindheit von pathologischen Hortern wurde oft mehr Wert auf Bildung gelegt als auf ihre emotionale Versorgung. Dementsprechend arbeiten sie später auch häufig in guten Positio­nen und erfüllen die Erwartungen, die die Gesellschaft an sie hat. In der Außenwelt können sie übrigens auch hervorragend aufräumen. Sie sollten mal sehen, wie der Raum nach der Gruppentherapie aussieht – der ist wie aus dem Ei gepellt.

Warum fällt es den Betroffenen so schwer, ihre eigenen Sachen objektiv zu bewerten und sich gegebenenfalls davon zu trennen?

Weil ihre Dinge für pathologische Horter nicht einfach nur Dinge sind, sondern Platzhalter, die verschiedene Funktionen erfüllen. Sie können etwa Beziehungsstellvertreter sein, die ihnen Halt, Geborgenheit und Trost geben. Im Gegensatz zu Menschen laufen Dinge nicht davon, die verlassen einen nicht. Andere Gegenstände wiederum, mit denen sich pathologische Horter umgeben, fungieren als Identitätsbezeugung. Durch sie spüren sie: Das bin ich, das interessiert mich, und ich kann alles jederzeit sehen.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich arbeite mit Klienten, die haben fünf Ausbildungen angefangen oder Stu­dien­gänge nie abgeschlossen. Die aufgehobenen Unterlagen zeigen ihnen: Das war mal deine Vision, da wolltest du hin. Und solange sie noch hier in Reichweite sind, klappt es vielleicht doch noch irgendwann.

Pathologische Horter können sich also nicht von ihren Dingen trennen, weil so gefühlt auch die damit verbundenen Träume und Ziele endgültig verloren gehen?

Richtig. Und, ganz wesentlich: Die Berge und Türme im Wohnraum können helfen, die Traumaschmerzen, die dahinterstehen, nicht fühlen zu müssen.

Was für Traumaschmerzen sind das?

Die Ursachen für Pathologisches Horten haben meiner Erfahrung nach vorwiegend mit Bindungserlebnissen in der Kindheit zu tun. Wovon drei Viertel meiner Klienten berichten, ist ein frühes Gezwungenwordensein. Die große Wunde im Leben dieser Menschen ist, dass sie nicht einfach sein durften. Sie mussten von klein auf den Erwartungen entsprechen, die die Eltern an sie hatten – welches Musikinstrument erlernt wird, welcher Beruf der richtige ist – und sind bis heute in einem heillosen Funktionsmodus. Sie haben zwar unglaublich vielseitige Interessen, aber konnten sie nie ausleben. Und das wird jetzt alles im Wohnraum geparkt.

Hört sich an wie eine späte Pubertät.

Ja, da gibt es eine ganz große Wutkraft, da die Rebellion gegen die Eltern in der Regel gar nicht möglich war. Als Erwachsene zeigen sie dann am intimsten Ort, dem eigenen Wohnraum, dass sie sich wehren. Und sagen unbewusst: Ihr habt mir so viel Müssen und Sollen und Enge übergestülpt, so, jetzt lasse ich alles stehen und liegen. Ein Symptom, an dem man pathologische Horter erkennt, ist übrigens das Aufschieben, da jede Aufgabe sofort mit Zwang gleichgesetzt wird. Das ist natürlich ein gewaltiges Missverständnis, da muss dann erst mal gedanklich aufgeräumt werden.

Drei Viertel berichten von einem frühen Gezwungenwordensein. Was sind die Ursachen beim restlichen Viertel?

Einige wurden überbehütet und durften nie lernen, wie man selbstständig lebt. Diese Menschen nimmt man am besten an die Hand und sagt: Heute gucken wir mal, wie man Wäsche so aufhängen kann, dass sie weniger Falten bekommt. Andere wiederum wurden in der Kindheit emotional im Stich gelassen. Eine Klientin bekam mit 13 noch einen Bruder, der war krank und hatte die volle Aufmerksamkeit der Eltern – und sie fühlte sich plötzlich, als ob es sie nicht mehr gab. Sie hebt bis heute alle Zeitungen des Vaters auf, um die Anbindung an ihn zu suchen, da sie ihn nicht wirklich gefühlt und erlebt hat.

Ist das Thema Loslassen eigentlich auch eine Generationenfrage? Es gibt ja diesen typischen Großelternspruch: „Nicht wegschmeißen, das kann man irgendwann noch mal gebrauchen!“

Ja, das ist typisch für Menschen aus der Kriegsgeneration – übrigens ebenfalls eine Ursache für Pathologisches Horten. Viele Überlebende haben nie eine Therapie bekommen, sie leben wie vereist in sich selbst und unterdrücken ihren Schmerz. Sie haben Besitztümer verloren, sie haben Menschen verloren. Und wenn sie die Welt der Dinge wiedererrungen haben, dann darf da bitte gar nichts gehen, denn jeder Verlust erinnert daran, dass der Bruder getötet wurde. Ihr Alibi ist oft: Das kann man ja alles noch gebrauchen. Aber eigentlich verhindern sie durch die Dinge um sie herum, den Schmerz fühlen zu müssen, der darunter liegt.

Wie so eine warme, kuschelige Daunen­jacke?

Ganz genau, das ist ein schönes Bild. Und deshalb kann man da unmöglich einfach mal schnell die Wohnung ausräumen. Außerdem: Ein Mensch darf so leben. Wenn es krabbelt, wenn es stinkt, wenn Nachbarn sich melden, dann muss man das natürlich differenzieren. Aber jeder hat ein Recht auf sein Eigentum.

In meinem Umfeld können die meisten Menschen sehr gut ausmisten – aber wehe, es geht ans Bücherregal. Eine Freundin sagte einmal, ihre Bücher hätten sie zu der Person gemacht, die sie heute ist. Würde sie sich von ihnen trennen, käme ihr das vor, als würde ein Teil von ihr verschwinden.

Das ist der klassische Gedanke, der auch einer Wertbeimessungsstörung zugrunde liegt – die Identifizierung mit den Dingen bis hin zum Gefühl: Wenn ich das jetzt weggebe, komme ich gar nicht mehr richtig vor. Aber wenn Bücher aus mir die Person gemacht haben, die ich bin, dann kann mir das kein Mensch nehmen. Und es wird auch kein Buch je bezeugen, dass ich dadurch zu dieser Person wurde.

Wie schafft man es, sich von diesem Gefühl zu entkoppeln?

Entscheidend ist, dass man versteht, welche Platzhalterfunktion die Dinge haben. Manche können sich zum Beispiel nicht von ihren alten Kleidungsstücken trennen, weil es damals eine Jugendliebe gab und sie den Falschen geheiratet haben. Darüber spreche ich dann mit den Menschen, die ich als Messie-Expertin zu Hause besuche.

Angenommen, ich habe den Verdacht, dass jemand in meiner Familie betroffen ist, aber die Person weigert sich, Hilfe zu suchen. Was kann ich tun?

Da gibt es eine ganz klare Regel: Angehörige sind die schlechtesten Ratgeber. Sobald sie meinen, helfen zu müssen, kommt es auf der emotionalen Ebene zu hierarchischen Verschiebungen. Bei den Betroffenen kommt nur an: Ich bin nicht gut genug, ich war es noch nie – und jetzt willst du mir auch noch meine Welt aufräumen! Deshalb ist es ratsam, auf der Beziehungsebene zu bleiben. Es geht darum, dem Menschen zu begegnen, nicht seinem Symptom. Und ihn in seinem Selbstwert zu stärken.

Darf man das Thema denn trotzdem ansprechen?

Wenn es die Beziehung erlaubt, kann man durchaus fragen: Fühlst du dich wohl? Mir ist so wichtig, dass es dir gut geht, und ich frage mich, warum du uns gar nicht mehr einlädst.

Und wenn es sich um den Partner oder die Partnerin handelt?

Wenn sich bei mir jemand meldet, der fragt, wie er seinen Partner zur Therapie bringen kann, sage ich immer: Haben Sie schon mal gehört, dass zu einer Problematik in einer Beziehung beide Parteien gehören? Suchen Sie sich zu zweit Unterstützung, Sie haben schließlich beide damit eine Not. Sie sagen: Ich halte es mit der Person nicht mehr aus. Die sagt: Ich halte es auch nicht mehr aus, weil der andere mir ständig Druck macht. Aber beide wollen gesehen und gehört werden.

Kann der Gedanke an diejenigen, die sich irgendwann mit all den Hinterlassenschaften beschäftigen müssen, beim Loslassen helfen?

Zu mir kamen schon Klienten, die sagten: Ich möchte nicht, dass meine Kinder später meine ganzen Sachen ausmisten müssen. Dann sage ich: Gut, damit fangen wir an, das ist Ihre Motivation. Und vielleicht landen wir dann sogar noch im Hier und Heute, sodass Sie selbst auch etwas davon haben – weniger Ballast und mehr Lebensfreude.

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