„Wer nicht in soziale Beziehungen investiert, hat es schwer“

Alter Mann mit Enkel Domenico Ghirlandaio 1490

Andreas Kruse:„Wer nicht in soziale Beziehungen investiert, hat es schwer“

Jahrzehnte erforschte der Psychologe Andreas Kruse die Frage, wie sich der Mensch im Alter verändert und was wirklich wichtig wird.

Niemand ist eine Insel, nur für sich selbst.

Andreas Kruse promovierte in Psychologie und habilitierte sich an der Universität Heidelberg.
Er ist überzeugt: „Auch das Alter ist mit Kreativität verbunden. Es ist nie zu spät, etwas Neues anzufangen und das Leben bis zum letzten Moment zu gestalten.“

Es gibt für mich einen Punkt, bei dem ich denke, dass unsere Gesellschaft vielleicht etwas lernen könnte: In einer derartigen Krise wie einer Pandemie merken wir, wie verletzlich, wie fragil, wie endlich wir sind. Wir merken, wie wichtig es ist, dass wir gerade in dieser Verletzlichkeit, in dieser Fragilität ein deutlich höheres Maß an Solidarität verwirklichen – innerhalb unserer Gesellschaft, aber eben auch auf internationaler Ebene. Das sind Punkte die uns vielleicht zum Nachdenken bringen könnten, wie wir eigentlich unsere Existenz leben wollen. Und vor allen Dingen, dass das Leben nicht ein „immer weiter“ ist.

In einem Ihrer Bücher schreiben Sie: „70-Jährige, die regelmäßig körperlich und geistig trainieren, können eine höhere Leistungsfähigkeit aufweisen als 50-Jährige, die nur eine geringe körperliche und geistige Aktivität zeigen.“

Zumal das Selbstbild der älteren Generation überwiegend ein ganz anderes ist: Menschen über 65 Jahre, das sind doch die Best Ager, die Babyboomer. Diese Menschen fühlen sich ja nicht alt. Wie kann man also das gesellschaftliche negative Bild von älteren
Menschen, das in Zeiten von Corona noch ein bisschen negativer geworden ist, besser zusammenfügen mit dem Bild, das ältere Menschen von sich selbst haben?


Wir haben ja schon seit vielen Jahren die Erkenntnis, dass die gesellschaftlichen Bilder des Alters deutlich schlechter sind als das, was ältere Menschen für unsere Gesellschaft tun, was ältere Menschen für ihre eigene Lebensführung tun können und als die Kreativität im Alter. Die gerontologische Forschung hat sich immer sehr darum bemüht, in der Öffentlichkeit darzulegen, wie wichtig es ist, dass wir unsere Bilder vom Alter tiefgreifend reflektieren und auch revidieren. In der Hinsicht, dass wir sagen: Nur das
Faktum, dass wir älter werden, führt nicht dazu, dass wir unsere Kreativität verlieren. Im Gegenteil: Wir können sogar vor dem Hintergrund unserer Lebenserkenntnisse und unserer reflektierten Lebenserfahrung dazu beitragen, dass wir mit zunehmendem Lebensalter bestimmte Formen der Kreativität in stärkerem Ausmaß entwickeln und zeigen.

Die Tatsache, dass wir älter werden, führt nicht notwendigerweise dazu, dass unsere physiologischen Leitungskapazitäten dramatisch zurückgehen. Durch gute physische Aktivität können wir die Leitungskapazitäten trotz eines leichten Rückgangs weitgehend erhalten. Wir können unser Denken bis ins hohe Lebensalter hinein immer und immer wieder schärfen. Das heißt, wir müssen aufpassen, dass wir nicht den Fehler begehen und einer Person Kompetenzen, also auch Lernkompetenzen oder Gesundheitskompetenzen, absprechen, nur weil sie ein bestimmtes Lebensalter hat. Das ist
für mich sehr wichtig.

Mehr als die Hälfte der älteren Menschen lebt allein. Wochenlang konnten sie keinen Besuch bekommen. Menschen im Pflegeheim wurden stark isoliert. Wir alle brauchen aber Resonanz, um uns selbst als lebendig zu spüren. Ohne diese Resonanz, vereinsamen wir dann? Und vor allem: Was sind die Folgen dieser Einsamkeit?

Es gibt sehr gute Arbeiten, national und international, die uns zeigen, dass das Gefühl der Einsamkeit in allen Altersgruppen ein sehr bedeutsamer Risikofaktor für die psychische und körperliche Gesundheit ist. Das gilt im hohen Alter erst recht. Wenn Sie mit
älteren Menschen zu tun haben, die über ein ausgeprägtes Einsamkeitserleben berichten, dann wissen Sie, dass Sie es hier mit einer Risikogruppe zu tun haben, mit Blick auf die Psyche und die körperliche Gesundheit. Wir sind ohne Beziehungen eigentlich
nicht denkbar.
Das Leben ist immer ein Leben in Beziehungen und die fehlende Ansprache durch andere Menschen ist etwas, was der psychischen Gesundheit eines Individuums in höchstem Maße schlecht bekommt.

Das ist ein Punkt, über den wir viel intensiver nachdenken müssen. Und das beginnt damit, dass wir uns bewusst werden: Leben ist leben in Beziehungen. Leben ist nicht das Leben eines Solipsisten, der nur für sich ist und sich von seiner Umwelt völlig loslöst.
Das ist etwas, was man auch in gesellschaftlichen und politischen Erklärungen klarmachen muss. Man muss immer wieder hinzufügen: „Bitte achten Sie darauf, dass Sie in Beziehungen zu anderen Menschen bleiben. Bitte schauen Sie, wie Sie die Beziehungen
zu anderen Menschen aufrechterhalten können. Bitte fordern Sie beispielsweise auch in einer Institution ein, dass sie alles dafür tut, dass die Kontakte erhalten bleiben.“

Denn niemand ist eine Insel, nur für sich selbst, das merken wir in solchen Krisen besonders.


Rund um das Thema Einsamkeit: Menschen sind ja auch Wesen, die umarmt werden wollen, die Berührung brauchen. Wenn jetzt der Entzug von Berührung dazukommt, verschärft das die Vereinsamung?


Berührung ist natürlich schon etwas sehr Wichtiges. Man spricht beispielsweise, wenn es um gute Medizin und gute Pflege geht, davon, dass diese Medizin beziehungsweise Pflege auch eine gewisse Leiborientierung haben. Das bedeutet, dass wir uns den Körper immer als beseelt vorzustellen haben. Es gibt übrigens bis in die Anfänge der Philosophie hinein die Vorstellung, dass unser Geist in allen körperlichen Ausdrucksformen lebt und eben auch die Berührung eine zutiefst geistige Dimension trägt.

Es gibt noch ein ganz profanes Gefühl – Langeweile. Wenn man keine Abwechslung hat als älterer Mensch, dann breitet sich schon mal Langeweile aus.


Es ist ein unangenehmes Gefühl., besonders für alleinlebende Ältere. Da kann der Alltag ohne Abwechslung durchaus zur Belastungsprobe werden. Wie bekommt man solche langen Tage
herum, wenn man merkt, dass man einfach unzufrieden wird?

Deswegen halte ich es für so wichtig, dass man sich zunächst einmal auf mögliche Kontakte besinnt und sich die Frage stellt, ob es Menschen gibt, mit denen man regelmäßig Kontakt hatte und mit denen man den Kontakt wieder intensivieren will. Das ist für mich etwas sehr Bedeutsames. Da kommen wir zum Punkt der Eigeninitiative, die wir nutzen müssen.

Kreativität könnte auch ein Punkt sein. Sie selbst sind ja ein großer Liebhaber von Johann Sebastian Bach, über den haben Sie sogar ein Buch geschrieben.

Bach hatte ja Diabetes, er wurde nach und nach blind und hatte einen Schlaganfall. Trotzdem schrieb er in den letzten Jahren vor seinem Tod noch die h-Moll-Messe, dieses gewaltige Werk. Haben Sie als Altersforscher von Bach gelernt, dass man
selbst in Krisenzeiten im Alter noch kreativ sein kann?

Wenn man die Möglichkeit hat, solche Felder der Kreativität zu finden, dann sollte man sie auch unbedingt beackern. Das heißt, wenn Menschen im Laufe ihres Lebens Dinge gelernt haben, die sie in die Lage versetzen, kreativ zu sein, zu malen, Musik zu
machen, sich in der Natur zu bewegen, die Schönheit der Natur zu bewundern, andere Menschen zu inspirieren und zu motivieren, dass sie vielleicht auch ein bisschen aus ihrer Reserve herauskommen, dann sollte man alles dafür tun, um diese Formen von
Kreativität im Alter aufrechtzuerhalten.

Sie fragen mich, was ich aus meiner Beschäftigung mit Johann Sebastian Bach gelernt habe. Ich habe etwas gelernt, was ich auch in vielen Studien zum Thema hohes Alter, in Studien zum Thema schwere Erkrankung und in Studien zur Sterbebegleitung gelernt
habe: Die körperliche Entwicklung sagt nicht unbedingt vollumfänglich die seelischgeistige Entwicklung voraus. Das heißt, die körperliche Entwicklung folgt anderen Entwicklungsgesetzen als die seelisch-geistige. Übersetzt heißt das: Man kann auch bei
einer schweren Erkrankung, wenn man in einem guten Umfeld lebt, das einen durch soziale Kontakte unterstützt, und wenn man medizinisch-pflegerische gut versorgt ist, eine erhebliche seelisch-geistige Kreativität unter Beweis stellen.

Das erleben wir zum Teil sogar in der Hospizarbeit, das schwerstkranke, sterbende Menschen noch mal etwas Schöpferisches entwickeln, beispielsweise in der Art und Weise, wie sie mit jenen Menschen sprechen, die sie medizinisch, pflegerisch und sozial
unterstützen. Ich will sagen: Der Ausgangspunkt ist die Reflexion, das Nachdenken des Menschen über sich selbst, das Hineinhören in sich selbst – sozusagen das Prozesshafte der eigenen Psyche zu erkennen und wahrzunehmen. Wenn man das einmal tut,
wirklich in sich selbst hineinhört mit dem Ziel, die schöpferischen Bereiche der eigenen Person wahrzunehmen und dann den Mut hat, sich ihnen zuzuwenden, dann kann man in der Tat bis ins hohe Lebensalter eine große Kreativität zeigen.

Zum Abschluss hätte ich noch eine kleine Frage: Wenn Sie einen Rat hätten oder eine Weisheit, wie man diese Zeiten gut meistern kann, welcher wäre das?

Auf die eigenen schöpferischen Kräfte schauen und sich fragen: Was kann ich meinen Mitmenschen Gutes tun? Und vor allen Dingen sich immer der Tatsache bewusst sein, dass viele gesellschaftlichen Bilder des Alters, die heute vermittelt werden, im Grunde genommen nichts anderes als Vorurteile sind. Bewahre dir deinen eigenen Optimismus, bewahre dir den Glauben an deine Kräfte und versuche, dies zu leben. Sei nicht und werde nicht egozentrisch. Denke immer daran, dass der Mensch keine Insel für sich allein ist, sondern dass er nur in Beziehungen zu anderen Menschen ein gutes Leben verwirklichen kann.

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