Ontologische Unsicherheit

Es gibt nur Wahrnehmen und Mitgefühl.

Die Daseinserfahrung des Schizoiden oder Schizophrenen ist, so Laing, durch das Gefühl ständigen Bedroht-Seins gekennzeichnet, das er „ontologische Unsicherheit“ nennt, und von der Erlebnisgrundlage anderer Personen zu unterscheiden: „Wenn eine Position der primären ontologischen Sicherheit erreicht wurde, stellen die gewöhnlichen Lebensumstände keine fortwährende Bedrohung der eigenen Existenz dar. Wenn eine solche Lebensgrundlage nicht erreicht wurde, bilden die gewöhnlichen Situationen des tagtäglichen Lebens eine kontinuierliche und tödliche Bedrohung. Nur wenn man sich das klarmacht, ist es möglich zu verstehen, wie bestimmte Psychosen sich entwickeln können.“ Die permanente Vernichtungsangst äußere sich als Angst vor Verschlungenwerden, Implosion (zerstörerisches Eindringen der Realität ins Selbst) oder als Petrifikation (Versteinerung durch Schrecken) und Depersonalisierung.

„Nach Hegel ist die Welt ‚eine Einheit aus dem Gegebenen und dem Konstruierten‘. Es ist schwierig, festzustellen, was ‚gegeben‘ ist und was unsere ‚Konstruktionen‘ sind. Eine Möglichkeit besteht darin, zu vergleichen, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten die Welt erfahren. Bei der ersten Begegnung mit den Forschungsergebnissen der Anthropologie reagierten oder reagieren wir alle überrascht, ja ungläubig, auf die riesigen Unterschiede, die es in der Art des Erfahrens gibt.“

Modus und Morbus

Wenn es zutrifft, daß die Wandlung ins Verrückte eine menschliche Möglichkeit ist, und zwar eine durch ihre Abstrusität vor anderen Möglichkeiten ausgezeichnete, so ist sie dem menschlichen Mitsorgen, dem Verantworten ursprünglich verbunden. Sie ent-rüstet, insofern sie die wehrlose Seite unserer selbst anspricht. Sie wirft uns aus gewohnten Sicherungen, sie ent-setzt. Die Ahnung des eigenen So-werden-könnens oder der eigenen Beteiligung geht ein in den Umgang Angehöriger mit ihrem Verrückten. Dleser Umgang unterscheidet sich von demjenigen Angehöriger mit nichtverrückten seelisch Gestörten.

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Sie gehen nicht immer nett mit uns um. Aber davon lassen wir uns die Stimmung nicht verderben.


Man sollte indessen sehen, daß der Aufweis solcher lebensweltlicher
Gespinste um den Verrückten keine ätiologische Interpretation der Schizophrenien ist. Etwa so, daß der Mitmensch und die Gesellschaft durch ,,frustrierende“ Haltungen eine anfällige Minderheit schizophren machen, daß diese Minderheit durch schwer erträglichen gesellschaftlichen Druck in die schizophrene Modifikation und damit zugleich in die psychiatrische Institution getrieben wird, in der sich dann als autoritativ-detentiver Einrichtung die Aversion der Gesellschaft gegen die Verrückten fortsetzt usw. Oder gar: daß die Minorität der Verrückten die adäquate
Haltung in einer unerträglichen modernen Welt repräsentiere, während die Majorität der Normalen eigentlich verrückt sei und dies nur durch den Kunstgriff kollektiver Heuchelei sowie durch Deportation der wenigen Nicht-Verrückten kaschiere. Über solche sozio-dynamische Theoreme, die während der letzten Jahre – zumeist in polit-psychiatrischen Gewand – zu Dutzenden und zumeist an Soziologen-Schreibtischen fabriziert wurden, mag im Hinblick auf ihre therapeutische oder theatralische Brauchbarkeit die empirische Psychiatrie oder die Dramaturgie befinden.

Versuche eines Hineinleuchtens in die Fundamente des lebenswelt-
lichen Umgangs mit Verrückten sind nicht unmittelbar ins Therapeutische zu wenden. In der Einstellung der Unmittelbarkeit dem Alltag des Verrückten Züge ablauschen und diesen Alltag therapeutisch gestalten, sind zwei Dinge. Sie haben der Sache nach viel miteinander zu tun, aber das erste normiert nicht das zweite. Vermutlich ist es für den Psychiater nützlich, wenn er – lebensweltlich – in der Tragödie der Verrücktheit seine eigene Sache mitverhandelt sieht, und vielleicht ist es für den Verrückten nützlich, wenn der Psychiater ihn das spüren läßt. Nicht nur die abständige klinische Therapie, sondern auch psychotherapeutische Erfahrungen sprechen dafür, daß wirksames Helfen allein aus lebensweltlicher Einsicht nicht zu leisten ist.

Der Verrückte ist Grenzfall unsresgleichen. Dies in einem prinzipiellen Sinn und nicht ohne weiteres umdeutbar in die klinisch-psychopathologische These, der Schizophrene lebe eine Variation des durchschnittlichen Seelischen. Eine Erweiterung der privativen Beschreibung der ,,alteratio“ des Schizophrenen um eine positive Charakterisierung seiner Wandlung wird davon ausgehen müssen, daß und was der Verrückte in der Verirrung, im Wirbel des Wahns leistet und gestaltet. Wie notwendig es ist, die Erfahrung des Verrückten (in der doppelten Bedeutung dieses Genitivs) auf Fundamente zu bringen, welche vor einzelwissenschaftlichen Feststellungen liegen, erhellt auch aus der prinzipiellen Relativier-
barkeit aller psychiatrischen Aussagen über den Verrückten. Ein psy-
cho(patho)logisches Verstehen ist denkbar (und wird faktisch versucht), das den Schizophrenen mit dem Neurotiker gleichsetzt. Gesellschaften sind denkbar (und waren faktisch gegeben), die das Für-sich-sein vieler Verrückter integrieren konnten. Juristische, theologische und andere axiologische Ordnungen sind, denkbar (sie waren und sind realisiert), welche Verrücktheit mit Vergehen gleichsetzen und so fort.

Wird die Verrücktheit einmal nicht nach dem medizinischen Modell
des Morbus, sondern als Modus des Menschlichen vorgestellt, so kann das manche schwierig einzuordnenden klinischen Fakten angemessener sehen lehren. Die immense Häufigkeit der Schizophrenien jedweder Form und Ausprägung, ihre erstaunliche interindividuelle Variabilität heben diese Verfassungen aus den hereditär eindeutig fixierbaren ,,Prozessen“ heraus. Bei aller phänotypischen Fluoreszenz spurt die Verrücktheit indessen auf wenigen monotonen Bahnen. Das sind aber dieselben Bahnen,
auf welchen – nicht minder monoton – unsere Meinungen, Haltungen und Befindlichkeiten unterwegs sind. Offenbar konstituieren sich die ,,Anlagen“ leiblicher und seelischer Art, welche zur Schizophrenie disponieren, ähnlicher jenen breiten Bereitschaften, welche die intellektuelle und charakterologische Ausstattung der Menschen bestimmen. Viele der bisher bei Schizophrenen erhobenen somatischen, physiognomischen
und charakterologischen Befunde sind eher mit der Annahme einer fundierenden Ausstattungs-Varietät als mit denjenigen eines Prozesses zu vereinbaren. Das Argument des,,Prozeßfaktors“ entstammt vorwiegend dem klinischen Blick auf die Verläufe. Sieht man aber eingehender auf diese Verläufe, so leuchtet es häufig ein, etwa einfach-progrediente Verfassungen als konsequente Radikalisierungen primär abwegiger Haltungen aufzufassen, Schübe als psychodynamisch einsichtige Dekompensationen labiler personaler Gefüge usw. Das alles ergibt sich indessen nur dann,
wenn man den Schizophrenen somatisch und psychisch mit seinen Maßen mißt und nicht mit den Maßen der Durchschnittsnorm. Es steht dann um die ,“Patho“-Genese der Schizophrenen grundsätzlich nicht anders als um die Genese der sogenannten Psychopathen, des Schwachsinns als Variation, der Konstitutionsvarianten, nicht anders auch als um die Genese leiblicher und seelischer Durchschnittsausstattungen.
Diese Überlegungen können zeigen, wie die Normierung psychiatrischer Theorien über die Schizophrenien durch eine ursprünglichere Erfahrung der Verrücktheit möglich ist. Anders als der gängige psychiatrische Wissenschaftsbetrieb gingen wir hier auf die vergessenen Sinnesfundamente der Verrücktheit zurück, auf die Verrücktheit als eine unter anderen menschlichen Möglichkeiten. Dies ergab sich aus einer Analyse des befremdend-vertrauten Gespürs für die im Verrückten aktualisierte menschliche Ur-Möglichkeit. Es könnte Sache künftiger phänomenologischer Untersuchungen sein, den Ort der Verrücktheit in der Ordnung
menschlichen Seinkönnens genauer zu bestimmen.

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