Tinder et al.

Frauen wählen härter aus, Männer wischen erst einmal alle nach rechts. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Alle Männer, mit denen ich einmal darüber gesprochen habe, gehen so vor.

Seit zehn Jahren nutzen Millionen von Menschen die Tinder-App, um einen Partner zu finden. Das Online-Dating habe zu einer kollektiven Erschöpfung geführt, sagt die Sozialpsychologin Johanna Degen. Und zu komischen Momenten beim Sex.

Als die Tinder-App im September 2012 auf den Markt kam, sagten viele eine «Dating-Apokalypse» voraus. Ist sie eingetroffen?

Nein. Aber das Online-Dating hat Folgen, die 2012 noch nicht abschätzbar waren. Man möchte sich heute die Liebe verfügbar machen. Man versucht, über eine möglichst grosse Anzahl potenzieller Dates sicherzustellen, dass man das Glück findet. Das funktioniert nicht. Nach zehn Jahren Tinder sind wir in einer kollektiven Erschöpfung. Tinder hat sich erschöpft.

Die Anthropologin Helen Fisher spricht vom «romantischen Erschöpfungszustand», den uns die Dating-Technologie beschert habe: Niemand habe uns beigebracht, wie diese Apps zu handhaben seien. Es wird noch mehr belogen und betrogen. Hat Tinder die schlechtesten Seiten im Menschen zutage gefördert?

Man muss es nicht verteufeln. Die Applikation selber zwingt kein Verhalten auf und hat keine Moral, sie orientiert sich am Nutzungsverhalten. Durch die Arbeit mit sehr vielen Probanden erschüttert mich allerdings schon, wie viele enttäuscht sind und sich abgewertet fühlen. Man ist verletzt und verunsichert vom Ghosting.

. . . dies das neudeutsche Wort für den französischen Abgang, also das Verschwinden ohne Ankündigung.

Werde ich geghostet, kann das negative Ansichten, die ich über mich selbst habe, verstärken. Man denkt: Okay, er hat recht, ich bin ja wirklich hässlich. Man projiziert das negative Selbstbild in das Verhalten des andern und meint, die Ablehnung habe mit einem selbst zu tun. Man ist gestresst von den vielen Möglichkeiten, findet es unromantisch, dass alles parallel läuft und man nach dem Date bereits das nächste Date plant.

Zum Anbändeln braucht es doch Zeit.

Ja. Aber zur beschleunigten Logik der Dating-Apps gehört, dass Dates im Alltag nebenbei abgehandelt werden können. Man geht zusammen joggen oder macht für den Baumarkt ab, damit man möglichst wenig Zeit verliert, wenn aus dem Treffen nichts wird.

Das Online-Dating zeichnet sich durch die Wahl einer Nicht-Wahl aus: Um denjenigen zu finden, der zu einem passt, geht man viele Beziehungen ein, die man gleich wieder beendet. Was ist daran romantisch?

Es ist eine neoliberale Haltung, zu denken, dass man immer noch jemand Besseres, Schöneres, Klügeres findet. Das ist natürlich Quatsch, denn wenn immer die nächste tolle Option um die Ecke wartet, wird man sich nie festlegen. Die Nutzer erleben das selber verletzend. Grosse Gefühle werden so verhindert. Dabei suchen wir doch gerade danach! Wir wollen Liebe finden, aber wir verhalten uns so, dass das genau nicht passieren kann.

Also hat das Online-Dating eine Kultur der Lieblosigkeit befördert, wie die Soziologin Eva Illouz sagt?

Das ist zu kurz gefasst. Menschen haben sich dank Dating-Apps gefunden. Über die Hälfte der Beziehungen in den letzten fünf Jahren sind so zustande gekommen. Online-Dating ist inzwischen verbreiteter und erfolgreicher als das Kennenlernen über Arbeitskollegen. Auch jene profitieren von Tinder, die schüchtern und beim Flirten ungeübt sind.

Oder so Liebeskummer überbrücken?

Gerade Männer erleben nach einer Trennung oft grosse Einsamkeit und wissen nicht, wie sie wieder jemanden kennenlernen können. Die sagen dann, Tinder habe sie gerettet.

Und trotzdem hört man vor allem die krassen Geschichten. So scheint Tinder auch für Seitensprünge und bei Verheirateten beliebt zu sein.

Das stimmt. 46 Prozent der Leute beim Online-Dating sind in einer Beziehung. Die Frage ist, ob man es schon Betrügen nennen kann, wenn jemand ein aktives Profil auf Tinder hat. Die Geschichte dazu: Eine Frau entdeckt, dass ihr Mann auf Tinder ist. Sie weiss dies dank ihrer Freundin, die dort einen Partner sucht. Nun erstellt die Frau ein Fake-Profil und «matcht» mit ihrem Mann. Er antwortet ihr. Er schreibt aber gleichzeitig, dass er vergeben sei. Das hat sie beruhigt. Denn so sieht sie, dass er ihr treu ist.

Wie grosszügig.

Manche wünschen sich sogar explizit, dass ihr Partner sein Tinder-Profil behält, nachdem sie sich online kennengelernt haben. Sie sagen sich: Ich möchte nicht, dass er nur bei mir bleibt, weil er keine Alternativen hat.

So kann er weiterhin seinen Marktwert testen und sie sich über ihr Glück freuen, von ihm ausgewählt worden zu sein?

Es gibt tatsächlich Leute, die gehen schnell auf die Toilette tindern, wenn sie ihr Partner mal nervt. Sie holen sich ein Kompliment von jemand anderem ein oder betreiben Sexting. Das Online-Dating erlaubt es einem also auch, Beziehungsbedürfnisse niederschwellig auszulagern.

Ist Tinder zur Dating-App für Gelegenheitssex geworden?

Nein. Sex als explizites Motiv rangiert im untersten Drittel der Motive. Unterhaltung, Neugier und natürlich Die-grosse-Liebe-Finden sind wichtiger. Oft kommt mehreres zusammen. Man möchte eine gute Zeit haben, freut sich, wenn eine Freundschaft entsteht, und manchmal ist es bloss Sex. Auch gut.

Gerade Frauen beklagen sich über Männer, die nach dem One-Night-Stand verschwinden.

Sowohl Frauen wie Männer beklagen sich gegenseitig über ihr Dating-Verhalten. Frauen sagen, die Männer seien entweder Player oder verzweifelt. Die Männer unterstellen den Frauen, dass sie umtriebig seien.

Mit «umtriebig» meinen Sie wohl, dass es Männern missfällt, wenn Frauen zu leicht zu haben sind?

Ja. Es datet sich erfolgreicher, wenn man in der Geschlechterrolle bleibt. Proaktive Frauen daten nicht besonders erfolgreich. Viele Nutzer wünschen sich dieses geschlechtsspezifische Verhalten. Der Mann soll die Frau ansprechen, und die Frau spielt das Spiel um das Nein. Das ist doch auch schön. Aber darüber kann man kaum noch sprechen nach #MeToo: Es gibt ein kokettes Nein, das nicht zu verwechseln ist mit einem expliziten Nein.

Frauen verstehen: Frau: „Nein“ -> Vielleicht; Frau: „Vielleicht“ -> Ja;
Frau: „Ja“ -> Beeil Dich bitte!

Sondern?

Beim Spiel um das Nein entsteht eine Spannung. Die Frau fordert den Mann damit nicht auf, Grenzen zu überschreiten. Sie testet vielmehr sein Interesse, er soll sich um sie bemühen. So merkt sie, wie ernst es ihm ist, und so bleibt sie auch unabhängiger. Die Spannung zwischen den Geschlechtern verschwindet, wenn wir so tun, als wären Frauen und Männer gleich.

Wird so nicht auch der Flirt definiert?

Genau. Gleichzeitig wird viel in das Verhalten des andern hineininterpretiert. Reagiert dieser dann anders als erwartet, ist man masslos enttäuscht.

Haben Sie ein Beispiel?

Eine Frau, sie lebt in Berlin, schreibt einen Mann an und begrüsst ihn mit «hello». Er schreibt zurück: «Where are you from?» Darauf löscht sie ihn. So hat es eine Probandin erzählt. Sie war richtig wütend und meinte, dass es auf Tinder nur Idioten gebe. Wie der darauf komme, dass sie Ausländerin sei? Alles ist aufgeladen beim Online-Dating. Jeder erwartet vom anderen das Schlechteste.

Laut Studien machen Dating-Apps noch einsamer. Wer so oft zurückgewiesen wird, gerät in eine Abwärtsspirale. Können Sie das bestätigen?

Ja, sogar aus eigener Erfahrung. Für meine Forschung habe ich eigene Profile erstellt, mit meinen eigenen Bildern. Denn ich möchte fühlen, was ich bei anderen untersuche. Und ich kann sagen: Es tut weh. Es ist extrem unschön, wenn man ein Match hat und mich die Person zwanzig Minuten später wieder löscht. Da hilft dann auch das Wissen nichts, dass der Typ erst einmal alle Matches auf Ja gewischt hat. Das ist nämlich eine männliche Strategie, während Frauen härter auswählen.

Auf Dating-Apps sehen auch alle gut aus. Man stellt sich so vorteilhaft wie möglich dar, braucht Filter, wählt die beste Perspektive für Selfies, manche sollen sich sogar von Coachs beraten lassen für den Tinder-Auftritt. Erhöht die App den Druck, schön zu sein?

Es geht sogar über die App hinaus. Menschen verlieren Gewicht, um bessere Chancen zu haben, sie gehen zum Coiffeur, bevor sie Bilder von sich posten. Manche entscheiden sich auch für Schönheitsoperationen, um erfolgreicher zu sein. Frauen lassen sich die Schamlippen verkleinern, um besseren Tinder-Sex zu haben.

Was ist Tinder-Sex?

Kommt es bei einem Date zu Sex, will man weiterhin wie auf den Profilbildern aussehen. Sex wird beim Online-Dating oft als oberflächlich erlebt, weil man den Sex vor die Intimität stellt. Man will etwas darstellen im Bett, der Sex wird profilhaft. Ein Mann hat mir erzählt, dass sich sein Date die Lippen nachgeschminkt habe beim Sex. Oder die Frau will nicht von hinten, weil der Bauch dann schwabbelig aussieht.

Man versucht, weiterhin das Bild von sich aufrechtzuerhalten, das den andern online angesprochen hat?

Viele fragen sich ängstlich: Was passiert, wenn er oder sie mich in meiner Fehlerhaftigkeit sieht? Wenn man dann so früh schon Sex hat, bevor man sich wirklich nah ist, passen viele auf, dass sie im Bett gut aussehen. Sie pudern sich oder wollen nicht schwitzen. Frauen sagen auch: Ich möchte nicht kommen, da mein Gesicht dabei komisch aussieht. So hat man garantiert schlechten Sex.

Das heisst, die Nutzer selbst schaffen mit Bildern Erwartungen, an denen sie dann beim Date scheitern?

Ja, und der Stress ist ja begründet. Manche Probanden haben uns erzählt, dass sie zum Date gegangen seien und der andere rechtsumkehrt gemacht habe, als er sie sah.

Das hat trotzdem niemand verdient.

Es findet eine Abwertung statt. Männer sagen: Wenn die sich mit Filter fotografiert hat, will ich sie gar nicht treffen. Oder einer hat gesagt: 98 Prozent der Frauen auf Tinder sind schön. Aber wenn ich mich auf der Strasse umsehe, sehe ich diese Frauen nicht, also kann ich mir ausrechnen, wie die meisten Frauen auf Tinder in natura aussehen. Hinter solch abwertenden Aussagen steht das Gefühl, in eine Falle gelockt zu werden.

Manche Leute tindern während eines Dates unter dem Tisch oder auf dem WC weiter. Sind das viele?

Das sind wenige Nutzer, ein Extrem. Häufiger geht man schnell auf Tinder, wenn der andere auf der Toilette ist. Man tut das oft aus Gewohnheit und denkt sich nichts dabei.

Hat sich verändert, wie man sich auf Tinder präsentiert?

Die Bilder werden immer gleichförmiger. Jeder stellt ein Selfie von sich in sein Profil, ein Reisebild, dann eines mit Freunden, um zu signalisieren, dass man sozial ist. Auf einem Bild zeigt man den ganzen Körper, auf einem anderen die Zähne.

Was sind beliebte Selbstbeschreibungen?

Viele Aussagen sind inhaltslos. Ich mag Strand und Cocktails. Manche schreiben in ihre Profile, wen sie nicht möchten: keine Fleischesser, keine Rucksackträger, keine Rotweintrinker, keine Surfer. Ich denke jeweils: Mensch, die Liebe kann doch auch erweitern, du weisst doch gar nicht, ob der Surfer dir nicht die schönsten Strände der Welt zeigt!

Hat die Pandemie das Dating verändert?

Ja. Was man während der Lockdowns notbedingt machen musste, nämlich sich im virtuellen Raum zu treffen oder einen Partner zu suchen, haben die Leute beibehalten. Dass das Verhältnis zwischen den Geschlechtern politisch so aufgeladen ist, hat den Trend verstärkt. Der öffentliche Raum hat sich verengt. Viele haben auch diese checklistenhaften Profile mit ins analoge Dating genommen und fragen das ab: Trägst du einen Rucksack, trinkst du Rotwein, bist du ein Surfer? Dann wird nichts aus uns.

Viele macht es unglücklich, aber alle tun es. Wie kann man aus dieser Spirale von Erwartung, Enttäuschung und Abwertung wieder herausfinden?

Man müsste nach höheren Werten handeln, wie ich das nenne. Man überlegt sich: Finde ich es schön, wenn man mich ghostet? Dann ghoste ich auch nicht. Finde ich es schön, wenn ich eine von vielen bin, die jemand datet? Dann date auch ich nur einen auf einmal.

Das ist wohl leichter gesagt als getan?

Es gibt sie ja schon, die Frauen und Männer, die gesund online daten. Sie bauen künstlich Verlangsamung und Hürden ein. Sie fordern beim andern ein, exklusiv zu schreiben. Oder sie sagen: Ich kann dich erst in zwei Wochen treffen, am liebsten in einer anderen Stadt, und warum gehen wir nicht in die Oper? Sie zwingen sich, in die Beziehung zu investieren. Online-Dating heisst nicht, dass man die Partnersuche nicht würdevoll angehen kann.

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