Ein doppeltes Übel: Hilflosigkeit und Langeweile.

Bin ich depressiv? Auch deshalb, weil die Gesellschaft es ist.

Depression: Woran kranken unsere Gesellschaften?

Sind Sie eher Prozac oder Paroxetin? Effexor oder Seroplex? Wenn Ihnen diese Namen nichts sagen, gehören Sie zu den wenigen, die vom modernen Übel der Depression verschont sind. Samuel Lacroix fragt nach den Hintergründen dieser psychischen Krankheit und geht mit einem Philosophen auf die Reise, der selbst schwer depressiv war.

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der Depression. Vor einigen Tagen hatte ich plötzlich den Gedanken, dass wohl mindestens die Hälfte meiner Freunde, wenn nicht sogar mehr, Antidepressiva nehmen. Was mich betrifft, so erfuhr ich aus einem Befund, nachdem ich kürzlich wegen eines kleineren Hautproblems im Krankenhaus war, dass ich womöglich an einer „Angststörung“ leide und dass eine „Konsultation mit einem niedergelassenen Psychiater ratsam wäre.“ Bin ich also der Nächste, der Tabletten nimmt? Und wer ist danach an der Reihe? Es scheint beinahe so, als würden wir ein Stück von Ionesco nachspielen. Nur dass wir, anstatt uns einer nach dem anderen in Nashörner zu verwandeln, depressiv werden.

EINE EPIDEMIE IN DER EPIDEMIE

Anfang der 2010er Jahre hieß es, dass etwa einer von zehn Franzosen von Depressionen betroffen sei. Während der Covid-Krise war eher die Rede von einem von fünf Franzosen. Die Erkenntnis ist gnadenlos: Wir haben es mit einer Epidemie dieser psychischen Krankheit zu tun. Stimmungstiefs, geringes Selbstwertgefühl, Schlafprobleme, Selbstmordgedanken, Suchtverhalten, Verlust von Gewicht, Lebensfreude und Interessen… Die verschiedenen Symptome nehmen zu und sind bei einer immer größeren Anzahl von Menschen zu beobachten. Aber woher kommen sie? Woran erkrankt unsere Gesellschaft?

Der britische Philosoph Mark Fisher hat viel über das Phänomen der Depression geschrieben, das ihn 2017 selbst in den Suizid getrieben hat: „Depression heißt der böse Spuk, der mein Leben lang an meinen Fersen klebt,“ schreibt er in Gespenster meines Lebens (2014). In seinen Augen ist sie die Krankheit der Moderne und des Kapitalismus schlechthin – genauer gesagt, des von ihm so genannten „kapitalistischen Realismus“. Er beschreibt damit die Vorstellung, dass es keine Alternative zum aktuellen Wirtschaftssystem gibt, so dass es heute leichter ist, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Fisher präzisiert: „In einem Ausmaß wie in keiner anderen Gesellschaftsordnung ernährt und reproduziert der Kapitalismus die Stimmung der Bevölkerung.“ (Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?, 2009)

Als System, das selbst „bipolar“ ist und zwischen Euphorie und Depression schwankt, bestimmt der Kapitalismus die individuellen Neigungen und ist verantwortlich für sprunghaftes Verhalten und eine erhebliche Dosis Stress. „Der Ausdruck ‚Wirtschaftliche Depression‘ ist selbstverständlich nicht zufällig entstanden“, erläutert Fisher. Er ist überzeugt: „Ohne Delirium (…) kann das Kapital nicht funktionieren.“ Dieses „Delirium“ zeigt sich sowohl im dem System eigenen Wahnsinn als auch in all den psychischen Krankheiten, die innerhalb des Systems entstehen. Letztere müssen „politisiert“ werden, denn es handelt sich dabei nicht so sehr um individuelle und private Probleme als um solche, die systematisch und konstitutiv in der kapitalistischen Moderne angelegt sind.

DIE BANALITÄT DER ÜBEL

Denker wie Gilles Deleuze oder Michel Foucault haben in Bezug auf Schizophrenie oder Wahnsinn einiges an Vorarbeit geleistet. Aber die Dringlichkeit besteht darin, „viel gewöhnlichere und alltägliche psychische Störungen zu politisieren,“ so Fisher, denn gerade ihre Banalität ist das Problem. Er weist darauf hin, dass im Jahr 2009, als er Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? schrieb, Depressionen in Großbritannien die am häufigsten behandelte Krankheit des National Health Service waren. „Anstatt [Stress und Verzweiflung] so zu behandeln, als sei das einzelne Individuum dafür verantwortlich, sich selbst um eine psychologische Notlage zu kümmern, anstatt also die weitreichende Privatisierung von Stress, die in den letzten 30 Jahren stattgefunden hat, zu akzeptieren, müssen wir eine andere Frage stellen: Wie konnte es zur Normalität werden, dass so viele Menschen, und insbesondere so viele junge Menschen, als psychisch krank angeführt werden?“

Hilflosigkeit und Langeweile – unsere Gesellschaft lässt keinen entkommen, niemand und niemals.

Es ist wahr, dass die inflationäre Verwendung von Antidepressiva – aber auch von Selbsthilfebüchern, um ein weiteres Beispiel zu nennen – zeigt, dass wir das Problem auf individueller Ebene behandeln. Wir haben es mit einem jungen Mann zu tun, der den ganzen Tag weint? Mit einer jungen Frau, die unfähig ist, ihr Bett zu verlassen? Das kann nicht angehen! Behandeln wir sie, geben wir ihnen Medikamente! Führen wir sie zur Erleuchtung, indem wir ihnen einen Meditationsführer schenken. Es ist offensichtlich, dass auf diese Art und Weise die Symptome behandelt werden, ohne deren Ursache wirklich zu hinterfragen. Und wenn wir denn nach einer Ursache suchen würden, dann durch eine Psychotherapie, durch die individuelle Geschichte des Kranken. Natürlich können persönliche Traumata zu schweren psychischen Störungen führen, aber wenn so viele Menschen in Depressionen verfallen, hat die Krankheit dann nicht auch etwas mit der kollektiven, sozialen und politischen Ordnung zu tun

ALLES IST ERLAUBT, NICHTS IST MÖGLICH

Der britische Philosoph Fisher spricht von einer „reflexiven Ohnmacht“, um den Nährboden für Depressionen zu beschreiben: Wir wissen, dass die Dinge schlecht stehen, dass wir aber nichts dagegen tun können. Die Umweltkatastrophe und das Fehlen einer zentralisierten Regierung, eines klar identifizierbaren politischen Akteurs, an den man sich wenden kann, um einen Kurswechsel einzuleiten, sind unter anderem die Zutaten für eine solche Hilflosigkeit – die wiederum depressive Störungen hervorruft. Wer hat schließlich die Schlüssel in der Hand? Der Staat? Europa? Die CAC 40? Die UN? Man möchte handeln, der Flucht nach vorn entgegenwirken – aber man kann es nicht.

Das Schwindelerregende ist, dass wir mehr Handlungsspielraum haben als je zuvor. Wir leben nicht mehr in traditionalistischen Gesellschaften, die von starren Prinzipien regiert werden. Wir haben für gewöhnlich Zugang zu einer Vielzahl von Konsumgütern; Räume, in denen sich unsere individuellen Freiheiten grundsätzlich entfalten können. Es ist ein besonderes Merkmal der Depression, dass sie in einem System entsteht, dass theoretisch von einer großen Freizügigkeit gekennzeichnet ist. Während eine Neurose die Störung eines Individuums ist, dem etwas verboten wird, ist eine Depression vielmehr das Übel eines Individuums, das versteht, dass es zwar das Recht hat, „hemmungslos zu genießen“ – um eine berühmte Parole der 68er-Bewegung zu zitieren – dass es aber gleichzeitig enorm schwierig ist, dies auch wirklich in die Tat umzusetzen.

Um es mit den Worten des marxistischen Soziologen Michel Clouscard (1928-2009) zu sagen, ist derjenige, der depressiv ist, sich bewusst geworden, dass „alles erlaubt, aber nichts möglich ist.“ (Néofascisme et idéologie du désir, 1973) In der Tat, so erklärt auch Fisher, „existiert zwar eine vage Ahnung, dass ‚irgendwas fehlt‘– aber kein Verständnis dafür, dass dieser verfehlende Genuss nur jenseits des Lustprinzips zugänglich sein könnte.“ Denn wer an einer Depression leidet, ist nicht unbedingt anhedonisch, also nicht in der Lage, Freude oder Genuss zu empfinden: Eine Depression kann auch durch die Unfähigkeit gekennzeichnet sein, etwas anderes zu tun, als immer und immer wieder nach Genuss zu suchen, wozu der Kapitalismus seinem Wesen nach einlädt. Nur weil ich in kürzester Zeit Zugang zu dem Hamburger meiner Wahl, einer bestimmten Droge oder jedem erdenklichen Porno habe, bedeutet dies noch lange nicht, dass mein Genuss real, vollkommen und authentisch ist. Und die Unzufriedenheit, die auf die unmittelbare Befriedigung eines sich ständig erneuernden Konsumtriebs folgt, lässt uns in einen zerstörerischen Überdruss versinken, der charakteristisch für bestimmte Formen der Depression ist.

Wir sind also vor allem deswegen depressiv, weil wir auf unterschiedliche Art und Weise von einem doppelten Übel betroffen sind: Hilflosigkeit und Langeweile. Was können wir angesichts dieser abgründigen Erkenntnis tun? Wahrscheinlich sollten wir anfangen, diesen Zustand als untragbar zu betrachten und die Frage der psychischen Gesundheit zu politisieren, um daran zu erinnern, dass ein System, das Individuen und insbesondere die Jugend depressiv macht, schlicht und einfach dysfunktional ist. Das ist die Voraussetzung für eine Heilung, die nicht auf einem individuellen, sondern auf einem kollektiven Gegengift beruht.

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