Oliver Sacks

„Ich bin auch ein Denker – was die meisten Menschen nicht sind“: Oliver Sacks (1933–2015)

„Ich bin auch ein Denker – was die meisten Menschen nicht sind“: Oliver Sacks (1933–2015)

Der Neurologe Oliver Sacks schwankte selbst zwischen Depression und Manie. Beim Schreiben, wenn er von sich erzählte oder die Welt der Autisten und Tourette-Fälle erklärte, geriet er in Ekstase. Wie in seinen privaten Briefen: Darin war er wieder ein ganz anderer.

Im September 1983 schreibt Oliver Sacks an Lawrence Weschler, einen Journalisten aus New York: „Ich liebe Briefe, die sich mit Forschungsarbeiten und Problemen beschäftigen, aber ich liebe auch Geschichten und Erzählungen in Briefen; und am meisten liebe ich es, wenn man beides mit ihnen verbindet, ein Problem, Probleme, eingebettet in eine Geschichte – eine narrative Philosophie, eine narrative Wissenschaft.“

Der schreibende Neurologe hinterließ, als er 2015 starb, nicht nur ein umfangreiches Werk an „klinischen Geschichten“, wie er sie selbst nannte. Seine Bücher, von „Zeit des Erwachens“ bis „Eine Anthropologin auf dem Mars“ über seine Patienten, waren Bestseller. Er schrieb über Musik, Bewusstseinsströme und über sich selbst als Kind in „Onkel Wolfram“ und über sein ganzes Leben kurz vor seinem Tod in „On the Move“.

Oliver Sacks schrieb eigentlich immer. „Ich kann nonstop schreiben“, teilte er noch den Empfängern seiner ausführlichen Briefe mit, die selten aus nur einem Blatt bestanden. Wie besessen soll er alles, was ihm in den Sinn kam, mit zwei Fingern seiner Reiseschreibmaschine eingehämmert haben. Seine Briefe handelten auch von seiner Liebe zu Briefen und von großen Briefeschreibern der Literaturgeschichte, Goethe, C. S. Lewis, Locke. Und Sacks.

200.000 Bögen hat Kate Edgar, die sich als Lektorin über drei Jahrzehnte durch die „Sturmflut meiner Manuskripte“ (Sacks in einem Brief an sie) gekämpft hat, nun zu einem 1000-seitigen Buch gemacht. Briefe an die Familie und an Freunde, an Kollegen und Patienten, an Verleger, Kritiker und Leser und an große Namen. Schon der junge Sacks hat seine Briefe nicht verschickt, ohne die Durchschläge seiner Korrespondenzen für sich und die Nachwelt zu bewahren. Später hat er sie fotokopiert. Da hatte einer, der in Oxford Medizin studiert hatte und vor der Heimat und seiner Familie nach Amerika geflohen war, nach Kalifornien, Großes vor.

Im Juli 1961, Sacks ist 27, schreibt er seinen Eltern, dass er sich lieber der Wissenschaftsgeschichte als der Medizin zuwenden würde. „Auf diese Weise kann ich vielleicht meine lange, lange Ausbildung in Naturwissenschaft und Biologie und Medizin mit meinen anderen Interessen und meiner Schreibneigung vereinbaren und ein recht angenehmes und einträgliches Leben führen. Wisst Ihr, in Wahrheit hätte ich nie Arzt werden sollen.“ Arzt bleibt er dann doch, zunächst in San Francisco, später in Los Angeles und schließlich in New York, mit seinen Präparaten als „Puzzle des menschlichen Gehirns“ und der von ihm zitierten Neurologenweisheit: „Ein neurochirurgischer Patient ist ein Präparat, das sprechen kann.“

Aber dann schreibt er los. Über Migräne und Tourette, Demenz und Parkinson. „Wie viele meiner Patienten neige ich zu einem ‚obstruktiv-explosiven‘ Charakter, dergestalt, dass ich manchmal beim besten Willen nicht in der Lage bin, zu denken oder zu schreiben und dann wieder nicht damit aufhören kann.“ Da werden Briefe selbst zu Zeugnissen seines manischen Schreibens: „Die ganze Welt war nicht mehr als eine Tabula rasa, auf die ich meine Metaphern projizieren konnte. Am letzten Montag um 11:20 Uhr hatte ich ein unglaubliches, adamitisches Gefühl der Wiedergeburt. Ich fühle mich vollkommen befreit aus dem Käfig der Neurose, aus dem vierdimensionalen Netz der Paranoia (Familie: Judentum: Medizin: Amerika). Obwohl mein Zustand libidinös geprägt ist, verspüre ich im Moment keinerlei explizite Sexgelüste, weder homo- noch heteroerotischer noch fetischistischer oder sonst irgendeiner Art. Doch das ganze Universum ist meine Fut. Meine Leser sind meine Fut. Meine Wörter und Gedanken sind mein Penis.“ Der bedauernswerte Adressat, ein alter Schulfreund.

In seinen Briefen ist Oliver Sacks ein anderer. Kein weiser Riese, der aus Hirnschäden, aus Fällen, wieder Menschen mit Geschichten macht, der Krankheiten zu „Seinsweisen“ erklärt und damit nicht nur bei seinen Patienten ist, sondern auch ganz bei sich. Bei sich ist er auch in den Briefen, allerdings nicht immer angenehm für die, an die sie mal gerichtet waren, und für jeden, der sie heute liest. Da fühlt ein Schriftsteller sich unverstanden und schreibt seinen Rezensenten. Da stellt er sich auf die Schultern höherer Riesen, von Pythagoras („göttlich“) bis Newton („unterhaltsam“). Und da setzt er seine Fanpost auf an W. H. Auden („Ich würde mich zutiefst geschmeichelt fühlen, würde mir ein solches Gedicht gewidmet“), Susan Sontag („Ich hatte das Gefühl, einer Denkgemeinschaft anzugehören“), Francis Crick („Ich vermute, wir haben alle mehrere einander überschneidende und sich wechselseitig durchdringende Leben“) oder Björk („Ich war sehr geschmeichelt, dass Du mich ‚den David Attenborough des Gehirns‘ genannt hast“). Robin Williams, der ihn in der Hollywood-Verfilmung von „Awakenings“ („Zeit des Erwachens“) verkörpert hat, schreibt er: „Aber ihr – als Schauspieler, Dramatiker – erschafft ebenfalls Welten.“

Auch mit Alexander Romanowitsch Lurija schreibt er sich („der Briefwechsel mit ihm war der wichtigste meines Lebens“). Sacks gilt als Begründer der „Pathografie“, wie er sie selbst nannte, des klinisch-literarischen Erzählens. Ihr Erfinder war Lurija. 1971 erschien in der Sowjetunion „Der Mann, dessen Welt in Scherben ging“. „Ich habe ständig solche Gedanken, wenn ich Patienten behandle: Immer sage ich zu mir: ‚Was würde Lurija jetzt denken? Wie würde er die (phänomenalen und prozeduralen) Probleme hier formulieren?‘“, schreibt ihm Sacks, stolz, dass Lurija ihm eine außergewöhnliche Begabung attestiert. Seine Briefe würzt er mit Kierkegaard und Nietzsche und Gedanken über seinen eigenen Geist: „Ich kann nicht so tun, als wäre ich einfach ‚der Mann auf der Straße‘; ich bin ‚auf der Straße‘, aber ich bin auch ein Denker, was die meisten Menschen nicht sind.“ Als Lurija stirbt, schreibt Sacks den Nachruf in der „Times“ auf seinen „Vater“ als „romantischem Wissenschaftler“.

Sacks spielte die Rolle für die ganze westliche Literatur und Wissenschaft. Schon 1965 teilte er den Eltern mit: „Ich sehe mich als eine Art von Vermittler, mit wenigen eigenen Ideen, aber der Fähigkeit, die Ideen anderer besser auszudrücken, als sie selbst es können. Eine Art neuropathologischer Talmudist.“ Eine moderne Renaissance-Gestalt, die Bach spielte, Gewichte stemmte, jeden Morgen schwamm, seit seiner Kindheit im Periodensystem der Elemente ebenso zu Hause war wie in der Welt der Primzahlen – und wieder versöhnte, was die Aufklärung geschieden hatte: Leib und Seele, Materie und Geist, Natur und Kultur. Oder wie er es selbst auf Sacksisch formulierte: „Ich empfing den Auftrag, ein Astronom des Inneren zu werden.“ „Gelegentlich werde ich gefragt, ob ich Arzt oder Autor bin – ich bin beides, immer, ich kann das eine vom anderen nicht trennen“, schrieb er an ein Komitee, das ihm als Arzt und Autor einen Preis verleihen wollte.

In der Tradition von Freud und Jung war Sacks auch ein Feuilletonist der Seele. Sein Lieblingssubjekt war, neben seiner Mutter („Sie ist eine Frau, die sich von der Sexualität zugleich überwältigt und erschreckt fühlt“), sein eigenes Ich („letale Neurose“). Als die Mutter 1974 starb, schrieb er: „Selbst wenn jemand sein ganzes Leben von Todesängsten heimgesucht wurde, kann er seinen Tod, wenn er kommt, vielleicht nicht willkommen heißen, aber doch mit gelassenem Einverständnis hinnehmen.“

Dann stirbt er selbst. Im Januar 2006 stellt man bei Sacks, der auch über das Sehen einiges geschrieben hat, über Farbenblindheit und optische Täuschungen, ein Melanom hinter der Netzhaut seines rechten Auges fest. Die Strahlentherapie macht ihn beinahe blind, sein linkes Auge ist vom Grauen Star getrübt. Er sieht auch Dinge, die er eigentlich nicht sehen sollte. Und er handelt mit dem Melanom: „Du kannst mein Auge haben, aber lass den Rest von mir in Frieden.“ Fast neun Jahre lebt und schreibt er auf den Tod hin, auch in seiner Autobiografie: „Ich stelle fest, dass ich ins Präteritum eintauche.“ Das Jahr 2015 fängt mit Metastasen in der Leber an. Sacks nimmt in der „New York Times“ von seinen Lesern Abschied, geht zu einem Rabbi, liest „Geist und Materie“ von Erwin Schrödinger zur Metaphysik, stellt seine Memoiren fertig – und schreibt Abschiedsbriefe.

„Mit mir geht es rasch zu Ende, und ich weiß nicht, wie lange ich noch bei Bewusstsein und Vernunft bin“, schreibt Oliver Sacks seinem Verlag. Er stirbt 2015 im August, mit 82 Jahren. Mit dem großen Wort „Bewusstsein“ schließt er erst im Sterben seinen Frieden.

Oliver Sacks: Briefe. Rowohlt, 1008 S., 48 Euro

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