Eine narzisstische Mutter kreist nur um ihre eigenen Bedürfnisse. Töchter und Söhne, die davon betroffen sind, arbeiten sich oft ein Leben lang daran ab. Doch man kann lernen, sich abzugrenzen.
Wenn Kirsten Peschkes Mutter anruft, herrscht immer Alarmstufe Rot. Sie erwartet, dass die Tochter alles stehen und liegen lässt und sich ihr zuwendet. Dass Kirsten Peschke, Mitte 40, vor einiger Zeit ein Unternehmen gründete und zwei kleine Kinder hat, kümmert sie nicht. Ist Peschke nicht auf der Stelle verfügbar, macht sie Druck: „Du wirst ja wohl fünf Minuten Zeit für deine Mutter haben. Sag deinen Kindern, sie sollen mal ruhig sein. Das ist jetzt wichtig!“ Peschke kann das Ausrufezeichen am Ende des Satzes förmlich hören. Und sie spürt, welche Wirkung diese Sätze noch immer auf sie haben. Lange hat sie versucht, es ihrer Mutter rechtzumachen, alle ihre Erwartungen zu erfüllen und ihren Anschuldigungen zuvorzukommen. Doch es war nie genug.
Die Mutter lamentierte, die Telefonate eskalierten. Peschke empfand ihr Verhalten als übergriffig, verhedderte sich aber trotzdem in Gedankenspiralen: Ist das alles meine Schuld? Bin ich eine schlechte Tochter? Sie grübelte viel und entschied sich schließlich für eine Therapie. Die Therapeutin erkannte schon nach zwei Sitzungen, was los war: Peschkes Mutter verhielt sich wie eine Narzisstin. Peschke fiel aus allen Wolken: Narzissten – waren das nicht Typen wie Donald Trump?
Doch Stefan Röpke, Oberarzt in der Psychiatrie der Berliner Charité, stellt klar, dass Narzissmus sich auch anders äußern kann, etwa in demonstrativ zur Schau gestellter Labilität.
Chronische Schuldgefühle
Diese Spielart, der „verborgene“ oder „vulnerable“ Narzissmus, sei weniger bekannt, aber nicht minder zerstörerisch als der offene Narzissmus. Insgesamt liegt jeder zehnte Deutsche auf diesem Narzissmus-Spektrum. „Vulnerable Narzissten geben sich schwach und zerbrechlich, damit sich ihr gesamtes Umfeld um sie dreht. Sie sind Meister der Manipulation“, sagt Röpke. Wer nicht auf sie eingehe, werde emotional erpresst oder abgewertet. Wenn Kinder davon betroffen sind, ist das verheerend. Eine narzisstische Mutter ist nicht in der Lage, auf ihre Kinder einzugehen oder eine emotionale Nähe zu ihnen aufzubauen.
Sie sieht ausschließlich ihre eigenen Bedürfnisse. Nur können die Kinder ihr Verhalten kaum hinterfragen und die Beziehung auch nicht beenden, denn sie sind von den Eltern abhängig. „Als Kind denkt man natürlich, dass das Verhalten und die Ansprüche der Eltern angemessen sind“, sagt Kirsten Peschke. „Man kennt es ja nicht anders.“ Narzissten hatte sie sich immer anders vorgestellt – laut, dominant, größenwahnsinnig. So war ihre Mutter aber nicht. „Ich habe sie immer als schwach und labil erlebt.“ Ihre Mutter habe sie vom Teenager-Alter an als beste Freundin, Ersatzpartnerin und Therapeutin beansprucht. „Sie hat bei jeder Gelegenheit betont, sie habe niemanden außer mir, der ihr zuhört, keiner verstehe sie so gut wie ich.“
„Lass mich hier alleine auf dem Sofa sitzen“
Dann hat sie Peschke vorgejammert, wie schwer sie es mit ihrem Ehemann oder Peschkes jüngeren Geschwistern habe. Peschke fühlte sich geschmeichelt, dass ihre Mutter so große Stücke auf sie hielt, wollte ihren Erwartungen gerecht werden. Also tat sie, was von ihr erwartet wurde: Sie hörte ihrer Mutter zu, verteidigte sie gegen die anderen Familienmitglieder, machte nie Stress. War sie einmal nicht für ihre Mutter verfügbar, fühlte Peschke sich schuldig. Wenn sie als Jugendliche tanzen gehen wollte, seufzte die Mama: „Ach ja, geh dich ruhig amüsieren, und lass mich hier alleine auf dem Sofa sitzen.“ Später studierte Peschke in der Nähe ihres Heimatorts und fuhr jedes Wochenende nach Hause. „Ich dachte, alles bricht zusammen, wenn ich nicht da bin.“
Die Anhänglichkeit der Mutter deutete sie als Ausdruck ihrer Liebe. Die Selbstbezogenheit dahinter erkannte sie erst Jahre später. Stefan Röpke sagt, viele der betroffenen Kinder bekämen nur dann Zuspruch, wenn ihr Verhalten der Mutter diene. „Viele, die so aufwachsen, haben noch als Erwachsene mit einem niedrigen Selbstwert zu kämpfen.“ Sie täten sich schwer, anzunehmen, dass jemand sie um ihrer selbst willen lieben könnte. Genauso wie sie ihre eigenen Bedürfnisse nur schwer spüren oder ausdrücken könnten. Denn es drehte sich ja immer alles um die Mutter. Peschke spürt diese Unsicherheit und ein chronisch gewordenes Schuldgefühl bis heute.
Ein leerer Tisch
„Ich fühle mich für alles und jeden verantwortlich.“ Selbst wenn eine Pandemie ausbricht, stürze sie das in Selbstzweifel: „Tue ich genug? Oder bin ich zu nachlässig?“ Kinder narzisstischer Eltern haben im späteren Leben ein erhöhtes Risiko, an Depressionen, einer Suchterkrankung oder anderen Belastungsstörungen zu erkranken. In der Charité fragten immer mehr Opfer von Narzissten an, berichtet Röpke. Sein Eindruck ist, dass das Bewusstsein dafür gestiegen, die Tabuschwelle gesunken ist. 1,2 Prozent der Männer und 0,7 Prozent der Frauen in Deutschland leiden an einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Der „verborgene Narzissmus“ wird auch „weiblicher Narzissmus“ genannt, weil er Frauen häufiger betrifft als Männer.
Besonders heikel ist, dass die Kinder aus Familien mit einem narzisstischen Elternteil nur selten vom anderen Elternteil oder anderen Bezugspersonen aufgefangen werden. Oft litten die Partner von Narzissten ebenfalls an psychischen Problemen und schafften es nicht, ihnen Grenzen zu setzen, sagt Röpke. In vielen betroffenen Familien sei die Beziehung der Eltern zerrüttet. Andere Bezugspersonen, Großeltern zum Beispiel, Tanten oder Onkel, würden von der narzisstischen Person systematisch bekämpft und abgewertet. Häufig torpedierten sie diese Beziehungen so lange, bis sie zerbrächen. „Narzissten ziehen eine Spur der Verwüstung hinter sich her, sie zerstreiten sich mit Nachbarn, Kolleginnen, Verwandten“, sagt Röpke.
Nicht mal einen Satz wie „Ich habe dich gern“
Peschke erkennt heute, wie ihre Mutter sie gegen ihre Oma und ihren Vater ausgespielt hat. Erst durch die Therapie hat sie verstanden, dass sie die Schuld für die ewigen Auseinandersetzungen nicht bei sich suchen muss. Seitdem kann sie sich besser abgrenzen. Wenn die Mutter anfängt, am Telefon schlecht über andere zu reden, über ihre Schwester etwa oder ihren Ehemann, legt sie auf. Sie erwarte inzwischen auch nichts mehr von ihrer Mutter, sagt sie. Der Druck, den sie jahrzehntelang empfand, ist von ihr abgefallen. An diesem Punkt ist Myriam Sommer noch nicht ganz.
Sie kann die Sehnsucht danach noch nicht ablegen, dass ihre Mutter sich nur einmal so verhielte, wie sie sich das ausmalte: Anteil nähme an ihrem Leben, Nähe zuließe, Geborgenheit ausstrahlte. Als Kind wünschte sie sich, ihre Mutter würde ihr mal ein Schulbrot schmieren oder einen Geburtstagskuchen backen. Aber der Tisch blieb leer. Nicht mal einen Satz wie „Ich habe dich gern“ hat die heute Siebenundzwanzigjährige jemals von ihrer Mutter gehört.
Sommer hat sie sogar darum gebeten, aber die Mutter bringt ihn einfach nicht über die Lippen. Als Myriam Sommer vor etwas mehr als zwei Jahren in eine tiefe persönliche Krise stürzte und sich nichts so sehr wünschte wie Zuspruch und Mitgefühl von ihrer Mutter, kam wieder nichts. Stattdessen drehte die Mutter jedes Gespräch so, dass es am Ende wieder um sie kreiste: Für sie sei diese ganze Situation auch belastend.
Kritik ist unmöglich
Das war der Moment, in dem Sommer dämmerte, dass etwas grundsätzlich nicht stimmte. Sie fing an zu googeln, nach „empathielos“, „selbstbezogen“, „distanziert“. Die Suchmaschine lieferte eine Trefferliste, die auf einen Begriff zusammenschnurrte: Narzissmus. Sie besorgte sich Bücher darüber und fand das Verhalten ihrer Mutter dort vielfach gespiegelt. Seitdem kann sie besser mit der Situation umgehen, auch wenn immer ein Rest Unsicherheit bleibt, weil sie, wie viele andere Betroffene, keine gesicherte Diagnose hat. Aber immerhin kann sie sich das Verhalten ihrer Mutter nun erklären. Röpke weiß, wie schwer es ist, sich von einer narzisstischen Mutter zu lösen.
„Die Beziehung zu unseren Eltern ist unsere erste Beziehung und prägt uns grundlegend. Einige Betroffene arbeiten sich ein Leben lang daran ab.“ Sie wollen das Elternteil ändern, denken immer, ihre Mutter müsste doch dieses, sollte doch jenes. „Das führt aber zu nichts. Eine narzisstische Mutter ist nicht in der Lage, auf Bedürfnisse der Kinder einzugehen. Man muss verstehen, dass man nur seinen eigenen Umgang damit ändern kann.“ Auf eine Therapie ließen sich Narzissten nur sehr selten ein – sie seien überzeugt, das Problem liege nicht bei ihnen, sondern bei allen anderen. Auch nur die leiseste Kritik anzubringen, sei so gut wie unmöglich.
Alles anders machen wollen
Sommer hat das oft erlebt: „Da wird gelogen und abgestritten, die Worte werden einem im Mund verdreht, oder es folgt direkt ein Gegenangriff mit den unglaublichsten Vorwürfen.“ Peschke und Sommer haben mittlerweile Strategien entwickelt, um sich von ihren Müttern abzugrenzen. Während Peschke inzwischen weit entfernt von ihrer Mutter lebt, spricht Sommer nur noch über unverfängliche Themen mit ihr: das Wetter, den Tag bei der Arbeit. Ihre Gefühle klammert sie aus. Wird es dennoch laut, bricht sie das Gespräch ab und geht.
Und doch kommt ihr das emotionale Erbe aus der Kindheit immer wieder in die Quere, etwa wenn sie an ihre eigene Familienplanung denkt. Wie wird das sein, wenn sie eines Tages Kinder hat? Sie will es anders machen als ihre Mutter, besser, unbedingt, aber wird ihr das gelingen? Oder droht sie in die Muster zurückzufallen, die sie kennt? Sie will alles dafür tun, dass es nicht so kommt. Sie trifft sich regelmäßig mit einer Selbsthilfegruppe für Töchter narzisstischer Mütter und tauscht sich mit anderen Betroffenen aus, um das Problem so gut wie möglich in den Griff zu kriegen. Sie weiß genau, was es bedeutet, wenn jemand keine Verantwortung für sein Leben übernimmt und die Schuld immer bei den anderen sucht. Das will sie um jeden Preis vermeiden.