Kulturschock

„Dschungelkind“ Sabine Kuegler

Sabine Kuegler wuchs im Urwald von West-Papua auf. Als sie im Alter von 17 Jahren nach Europa zog, erlebte sie einen Kulturschock. Hier erzählt sie, wie sie viele Jahre später, todkrank und von den Ärzten aufgegeben, in den Dschungel zurückkehrte – und dort Heilung fand.

WELT: Frau Kuegler, Sie sind mit Ihrer Familie im Urwald aufgewachsen und mit 17 Jahren nach Europa gezogen. Sie berichten von einem schrecklichen Kulturschock. Was war so schlimm?

Kuegler: Wir haben uns vorgestellt, dass Deutschland ein wunderschönes Land ist, wo die Straßen voller bunt gekleideter Menschen sind, wo es Läden gibt, in denen man alles bekommt, was man möchte. Ich habe immer gedacht, da die Menschen in Deutschland alles haben, was man sich vorstellen kann, müssen es die glücklichsten Menschen der Welt sein. Und dann stand ich mit 17 plötzlich alleine an diesem Bahnhof. Meine Sensoren sind durch das Aufwachsen im Urwald sehr stark ausgeprägt, ich konnte jede Emotion von jedem Menschen um mich herum spüren. Und ich dachte, da sollte Glück sein. Aber es war komplett anders, die Menschen waren gestresst, wütend und aggressiv.

Hier möchte ich auch jede Emotion von jedem Menschen um mich herum spüren können.

Hinzu kam noch, dass man, um sich im Urwald zurechtzufinden, Farben sehen muss. Und plötzlich befand ich mich in einer Welt, wo alles nur grau war. Ich habe keine Farben mehr gesehen und das hat eine panische Angst in mir ausgelöst. Es war, als wäre ich plötzlich blind.

Begrüßungsritual der Fayu: Sabine mit ihrem Freund Tuare

WELT: Sind die Menschen in Deutschland unglücklicher als die im Dschungel von West-Papua?

Kuegler: Das Leben hier in Deutschland ist einerseits wunderschön und unglaublich luxuriös. Andererseits trägt es auch dazu bei, dass die Menschen sehr viel einsamer sind. In der Stammeskultur ist die Gruppe, das soziale Zusammensein der Lebensmittelpunkt, deshalb gibt es dort keine Einsamkeit und keine Depression. Emotional lebt man dort viel gesünder. Es gibt nicht den wahnsinnigen Druck und Stress, den wir in Deutschland haben. Ich hatte nie gelernt, wie man mit der Verantwortung für sich selbst umgeht. Dafür lebt man in Deutschland körperlich gesünder, es gibt Ärzte und Krankenhäuser.

WELT: Ist das der einzige Vorteil von Deutschland?

Kuegler: Ein anderer ist die Freiheit, die dadurch entsteht, dass sich hier jeder seine eigene Struktur schafft, statt gemeinsam die Struktur des Stammes zu tragen. In der Stammeskultur gibt es keinen Individualismus, das heißt, man hat keine eigene Identität. Die Identität basiert auf der Identität der Gruppe. Das findet man bis heute noch viel in Asien. In der westlichen Welt kann man sich besser selbst entfalten und entwickeln, kreativer sein. Deshalb sind wir auch eine Gesellschaft, die so weit entwickelt ist, weil jeder die Fähigkeit hat, etwas beizutragen. In Deutschland muss man sich seinen eigenen kleinen Mini-Stamm aufbauen und wenn man das verstanden hat und schafft, ist man auch nicht so einsam.

WELT: Sie haben vier Kinder zwischen 21 und 31 Jahren. Hatten die, nachdem sie Ihre Erzählungen gehört haben, keine Sehnsucht, auch im Urwald zu leben?

Kuegler: Sie sind ja im Westen aufgewachsen und haben ihr Leben hier. Zwei von ihnen sind schon mal mitgekommen und haben sich das angeschaut, aber in den tiefen Urwald würde ich sie nicht mitnehmen, das wäre mir zu gefährlich.

WELT: Aber Sie selbst haben es als Kind nicht als gefährlich empfunden.

Kuegler: Nein, überhaupt nicht, ich bin da aber auch aufgewachsen. Sicherheit hat ja nicht in erster Linie mit der Umgebung zu tun, außer natürlich in Situationen wie Krieg. Es geht eher darum, wo man groß geworden oder programmiert worden ist, um zu überleben. Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Wenn meine Kinder über die Straße gehen, können sie automatisch Distanz und Geschwindigkeit eines Autos abschätzen. Ich kann das nicht. Mein Gehirn kann das nicht so schnell bearbeiten.

Dafür ist mein Gehirn automatisch auf die Gefahren des Urwalds programmiert. Für mich ist deshalb der Urwald viel sicherer als das Leben hier. Auch sonst: Obwohl Deutschland zwar ein Sozialsystem hat, ist es hier so, dass man, wenn man keine Arbeit findet, kein oder kaum Geld hat und das Leben hart ist. Im Stammessystem würde man immer gut überleben, man braucht kein Geld. Jeder hat eine Hütte, einen Garten, etwas zu essen, eine Gruppe um sich.

WELT: Vor zehn Jahren, im Alter von 40, sind Sie wieder in den Urwald gereist. Sie waren schwer krank, die europäischen Ärzte hatten Sie aufgegeben. Im Dschungel haben Sie ein Heilmittel gesucht, obwohl Sie noch nicht einmal genau wussten, welche Krankheit Sie hatten.

Kuegler: Das wissen wir eigentlich bis heute nicht. Die naheliegendste Vermutung ist, dass es sich um einen Parasiten handelte. Besonders in Gebieten, wo wenige Menschen leben, gibt es noch viele unerforschte Krankheiten. Als ich gemerkt habe, dass etwas nicht stimmte, ging ich zu Ärzten und jeder hatte eine andere Diagnose. Ich habe wahnsinnig viel probiert über die Jahre, jedes Antibiotikum, chinesische Medizin, buddhistische Medizin, Homöopathie, Diäten, Meditation. Man hat die Ursache einfach nicht gefunden.

Die Symptome wurden schlimmer, bis man mir irgendwann gesagt hat, dass da nichts mehr zu machen wäre. Da wurde mir klar, dass ich noch eine Chance habe: In den Urwald zurückzugehen, in dem ich die Krankheit wohl bekommen habe. Ich dachte, vielleicht gibt es dort jemanden, der die Krankheit und ein Heilmittel dagegen kennt.

Im Dschungel von Westpapua

WELT: Sie sind dann fünf Jahre im Dschungel geblieben. Wie war es für Sie, Ihre Kinder so lange nicht zu sehen?

Kuegler: Es hat mein Herz gebrochen. Diese Jahre kriegt man nie zurück. Aber ich wusste, ich habe zwei Möglichkeiten: Entweder ich bin noch eine Weile mit meinen Kindern zusammen, bereite sie auf das Ende vor, und dann bin ich für immer weg. Oder ich gehe für eine Weile weg, nutze diese kleine Chance, die da ist und finde ein Heilmittel und komme wieder, weil auch erwachsene Kinder eine Mutter brauchen. Ich würde niemandem wünschen, in der Situation zu sein, das zu entscheiden.

WELT: Hatten Ihre Kinder Verständnis für Ihre Entscheidung?

Kuegler: Ich habe ihnen nicht gesagt, warum ich weggehe. Sie müssen sich vorstellen, was für eine Qual das für meine Kinder gewesen wäre, zu wissen, dass ihre Mutter am Sterben ist und in den Urwald geht. Sie wären jeden Tag aufgewacht und hätten sich gefragt, ob ihre Mutter noch lebt. Ich habe ihnen gesagt, dass ich dort ein Projekt habe. Aber ich glaube, sie haben es geahnt. Sie kannten mich ja, wussten, was für ein Muttertyp ich bin, und dass es sich um etwas ganz Schlimmes handeln musste, wenn ich sie zurücklasse, ohne zu wissen, wann ich zurückkomme.

WELT: Das Heilmittel haben Sie erst nach vier Jahren gefunden. Eigentlich war es ja schon ein Wunder, dass Ihr Körper noch so lange durchgehalten hat, oder?

Kuegler: Die Einheimischen haben ein großes Wissen über Krankheiten, viel mehr, als wir das immer annehmen. Das Erste, was sie nach meiner Ankunft taten, war, meine Ernährung auf das absolute Minimum zu reduzieren. Jahrelang habe ich eigentlich nur von Kokosnüssen und Süßkartoffeln oder deren Wurzeln gelebt. Alles andere hat man mir nicht mehr gegeben und aus irgendeinem Grund hat das geholfen, sodass ich weiterleben konnte, bis wir ein Heilmittel fanden. Wir gingen also in verschiedene Gebiete, Dörfer, Stämme, immer tiefer in den Urwald hinein, und haben rumgefragt. Manche Dinge, die mir dann gegeben wurden, haben überhaupt nicht geholfen, andere haben die Symptome zumindest für eine Weile reduziert. Bis wir dann das Heilmittel gefunden haben.

WELT: Was war das für ein Mittel?

Kuegler: Es war ein starkes Gift, das von der Baumrinde eines seltenen Baumes stammt, dessen Harz rot wie Blut ist. Sie haben meinen Körper vergiftet, um den Parasiten abzutöten. Aber es hat mich auch fast umgebracht. Das hat man mir vorher auch gesagt: „Du wirst das Gefühl haben, dass du stirbst, aber du wirst nicht sterben.“

WELT: Woher wusste man, dass Sie daran nicht sterben würden?

Kuegler: Das frage ich mich auch. Sie haben es ja nicht mit einem Löffel abgemessen, sondern geschätzt: „ungefähr so viel von dem Saft und ungefähr so viel von dem Saft“. Aber sie hatten Erfahrung.

WELT: Und danach waren Sie für immer geheilt?

Kuegler: Die Krankheit kam nicht wieder. Aber es hat lange gedauert, bis mein Körper sich wieder aufgebaut und von dem Gift erholt hatte, etwa einen Monat, bis ich mich wieder einigermaßen bewegen konnte, und etwa ein Jahr, bis ich wieder absolut gesund war.

WELT: Und trotzdem wollten Sie nach der Heilung nicht sofort wieder nach Deutschland zurück, sondern planten kurzzeitig, für immer im Urwald zu bleiben.

Kuegler: Ja, das ist ein interessantes Phänomen. In einem Stammessystem gibt man seine Identität auf, weil man im Urwald nur in einer Gruppe überleben kann. Und als ich dort war, fing ich an, mich immer mehr selbst zu verlieren, das heißt, alles, was außerhalb des Urwaldes war, existierte für mich nicht mehr. Da mein Gehirn ja aus meiner Kindheit schon so programmiert war, fing ich dort wieder an, wie eine Stammesperson zu denken und zu handeln. Und die Leute dort kennen nur das, was gerade da ist. Was abwesend ist, existiert für sie nicht. Ich bin da immer weiter reingerutscht.

Zweitens hatte ich panische Angst, zurückzugehen, weil meine Erinnerungen an den Westen viel damit zu tun hatten, dass ich die Welt nicht verstanden habe. Die Kommunikation in Deutschland war schwierig, ich hatte immer das Gefühl, ich sei in Gefahr. Im Urwald fühlte ich mich komplett sicher. Ich dachte, wenn ich aus der Wildnis weggehe, werde ich sterben.

Mit Pfeil und Bogen: Bruder Christian, Freund Tuare und Sabine

WELT: Der Anstoß, trotz Ihrer Angst zurück nach Deutschland zu gehen, kam dann von außen.

Kuegler: Ja, deshalb sollte man in diese Gegenden nie alleine gehen, es wäre zu gefährlich. Micky, mein Begleiter, hat meine Entwicklung mit angesehen und gesagt: „Wir müssen zurück“. Ich habe mich aber dagegen gewehrt. Irgendwann hat er gesagt: „Jetzt ist Schluss, wir gehen“. Plötzlich bekam ich Panik, da er für mich zur Gefahr wurde. Da habe ich dann sehr stammesmäßig reagiert.

WELT: Sie haben ihm mit Pfeil und Bogen ins Bein geschossen.

Kuegler: Ja, das ist auch ein großer kultureller Unterschied. Wenn man in Deutschland jemanden anschießt, bekommt man eine Strafanzeige. In einem Stammessystem aber wäre es viel schlimmer, die Ehre einer Person zu beleidigen, als sie anzuschießen. Für viele hier im Westen ist das schwer zu verstehen. Hier ist es akzeptiert, sich emotional, also mit Worten anzugreifen. Wenn Sie aber jemanden im Stammessystem beleidigen, bringen Sie sich in Lebensgefahr. Denn der Beleidigte sieht sich dann im Recht, Sie umzubringen.

WELT: Trotzdem hat man Sie nach Ihrem Schuss loswerden wollen.

Kuegler: Ja, aus dem Stamm verwiesen zu werden, ist die härteste Strafe. Aber ich bekam sie nicht nur deswegen. Ich gehörte nicht dorthin, weil ich für die Einheimischen weder Mann noch Frau war. Jeder, der Unruhe mitbringt, wird vom Stammessystem ausgewiesen, da es um das Überleben der Gruppe, nicht des Einzelnen geht. Micky war es, der mich wachgerüttelt hat, der gesagt hat: „Deine Verantwortung liegt nicht hier, du gehörst nicht mehr in diese Welt. Das ist vorbei.“ Obwohl ich wusste, dass er recht hatte, war das für mich sehr schwer zu akzeptieren.

WELT: Und Sie waren ein Störfaktor, weil Sie als Frau den Wunsch geäußert haben, mit den Männern auf die Jagd zu gehen? Sie beschreiben das Erlebnis der Jagd sehr eindrücklich, es sei für sie „wie ein Orgasmus“, also ein großes Lusterlebnis gewesen, ein Tier zu töten.

Kuegler: Genau, ich wurde als Jägerin oder vielmehr Jäger großgezogen, hatte das Jagdadrenalin in mir und das spüren die Stammesangehörigen, deren Sinne ganz anders entwickelt sind als bei uns in Europa. Das heißt, ich war für sie weder Mann noch Frau. Dieses Jagdadrenalin ist für das Lusterlebnis verantwortlich. Was Sinn macht, da Jagen im Urwald körperlich fast unmenschlich anstrengend ist. Also muss der Körper etwas entwickeln, was die menschliche Spezies dazu bringt, weiter zu jagen, weil sie es ja zum Überleben braucht. Das Jagdadrenalin sorgt für ein High, man wird so süchtig, dass man unbedingt wieder jagen gehen möchte.

WELT: Gehen Sie in Hamburg auch auf die Jagd?

Kuegler: Nein, nie. Es reizt mich nicht, denn hier braucht man es nicht zum Überleben. Hier sitzt man auf dem Hochsitz und wartet, bis ein Tier vorbeikommt. Mit dem Gewehr zu jagen ist auch etwas komplett anderes als mit Pfeil und Bogen, so wie ich es gemacht habe.

Sabine Kuegler mit ihren Fayu-Freunden

WELT: Gehen Sie oft in den Wald oder haben Sie andere Hobbys, die Sie aus Ihrer Kindheit mit nach Deutschland gebracht haben?

Kuegler: Komischerweise überhaupt nicht. Viele Leute denken immer, ich würde auf dem Land leben. Das Land ist wunderschön, aber ich bevorzuge die Stadt. Ich bin ein Extremmensch. Der Urwald ist das eine Extrem, die Stadt das andere.

WELT: Sie waren in Deutschland zweimal verheiratet, mit einem Fayu sind Sie nie eine Beziehung eingegangen. Auch, weil die Menschen dort Sie wegen Ihres Jagdinstinkts nie ganz als Frau angesehen haben, oder? Das wäre also auch nicht möglich gewesen?

Kuegler: Wenn ich jetzt im Nachhinein mit meinen 50 Jahren zurückblicke, denke ich, dass, wenn ich jemanden von dort geheiratet hätte – vielleicht nicht unbedingt einen Fayu, aber jemanden aus Indonesien –, mein Leben einfacher gewesen wäre, vielleicht auch zufriedener. Ich kenne einige, die wie ich aus einer westlichen Familie stammen, die mit 17 oder 18 Jahren jemanden von dort geheiratet haben. Und ich muss sagen: Sie sind heute alle glücklich. Aber so ist das nun mal im Leben, es sollte eben nicht sein.

WELT: Sie beschreiben, wie Ihre und die Ankunft Ihrer Eltern in West-Papua den Einheimischen dort ein friedlicheres Leben ermöglicht hat. Sie haben den Fayu einen Weg gezeigt, zu vergeben und Konflikte ohne Kriege zu lösen. Vor Ihrer Ankunft hatten sich die einzelnen Stämme dort beinahe gegenseitig ausgerottet. Wie geht es den Fayu jetzt, wo Ihre Familie wieder weggegangen ist?

Kuegler: Als ich dort ankam, bekam eine Frau sechs bis acht Kinder, zwei davon überlebten vielleicht bis ins Erwachsenenalter, einer wiederum wurde im Krieg umgebracht. Wenn ein Kind pro Familie überlebte, war das schon gut. So kann eine Gesellschaft aber nicht überleben. Inzwischen vermehren sie sich langsam wieder, das ist gut.

WELT: In den letzten Jahren wurde eine postkoloniale Kritik immer lauter, die davon abrät, dass weiße Europäer andere Kulturen aufsuchen und den Menschen dort ihren Lebensstil aufdrängen. Missionare stehen immer stärker unter Verdacht, sich als weiße Helden hervortun zu wollen, die den armen Wilden beibringen, wie man richtig lebt. Was halten Sie von diesen Einwänden?

Kuegler: Auch hier gibt es zwei Extreme: Wenn man eine Gesellschaft isoliert, entwickelt sie sich nicht weiter, stirbt im schlimmsten Fall aus. Aber auch wenn man sie überrumpelt, macht man sie kaputt. Genauso falsch wie es ist, Kulturen eine Entwicklung von außen aufzuzwingen, ist es, sie zu isolieren und ihnen eine Weiterentwicklung vorzuenthalten und zu sagen: „Lassen wir sie von allem abgeschnitten weiter im Urwald leben, weil wir ja wollen, dass sie ihre Kultur leben“. Alles Extreme im Leben ist falsch.

Und wir sollten nicht über „weiß“ und „schwarz“ sprechen, denn das sind ja nur Hautfarben, wichtiger ist doch, wie unsere Emotionen strukturiert sind und wie unser Gehirn entwickelt ist. Natürlich gibt es auch Dinge, die die westliche Kultur in den Urwald bringt, die nicht ideal sind, aber sie bringt auch viel Gutes. Wenn man den Fayu sagen würde, dass es vielleicht nicht so gut war, dass der weiße Mann dorthin gekommen ist, würden sie sagen: „Was für eine Arroganz von euch, wissen zu wollen, was wir brauchen oder nicht brauchen.“

WELT: Was schlagen Sie konkret vor?

Kuegler: Erstens muss man das Land der Stämme schützen, indem man es, falls das noch nicht passiert ist, bei der Regierung registriert. In dem Moment, wo man das tut, können zum Beispiel ausländische Firmen nicht kommen und einfach alles abholzen. Zweitens muss man den Menschen eine Möglichkeit geben, Geld zu verdienen, ohne ihre Umwelt kaputtzumachen. Zu glauben, dass die Menschen für immer so leben wollen, wie sie die letzten 1000 Jahre gelebt haben, ist Unsinn, denn jeder Mensch möchte es bequem haben und sich weiterentwickeln, egal ob man aus einem Stamm oder der westlichen Welt kommt.

Wenn eine Frau im Stammessystem mit 40 Jahren blind wird, weil sie dreimal am Tag beim Kochen dem Rauch des Feuers ausgeliefert ist, wer sind wir dann, ihr zu sagen, sie soll bitte weiter am offenen Feuer kochen und blind werden, während wir moderne Herde benutzen? Die Menschen müssen selbst entscheiden dürfen, ob und welche Entwicklung sie machen wollen. Und wenn ein Stamm keinen Kontakt zur Außenwelt will, muss man das respektieren.

Sabine Kuegler mit Fayu-Frauen und ihren Kindern

WELT: In Ihrem Buch erfährt man auch sehr viel Faszinierendes über die Kriege der Fayu. Wie blicken Sie angesichts Ihrer Erfahrungen mit einem der kriegerischsten Stämme der Welt heute auf aktuelle politische Konflikte?

Kuegler: Politisch kann und möchte ich die heutige Lage nicht bewerten. Aber was ich sagen kann, ist, dass Frieden immer bei einem selbst anfängt. Ich habe gesehen, wie Stämme, die sich extrem bekriegt hatten, einander schließlich vergaben, Frieden schlossen und sogar untereinander heirateten. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen jemandem gegenüber, der Ihre Mutter zerstückelt hat. Und jetzt vergeben Sie dieser Person. Nicht nur das: Sie lassen sogar Ihr Kind in diese Familie einheiraten.

Die Fayu haben eine übermenschliche Fähigkeit, die ich kaum irgendwo sonst auf der Welt erlebt habe, zu vergeben und sich für Frieden zu entscheiden. Dafür mussten sie ihre eigenen Bedürfnisse und Gefühle beiseitelegen und sich sagen, dass die Zukunft ihrer Kinder wichtiger ist als der Hass. Vergebung und Liebe fangen nicht auf der anderen Seite der Welt an, sondern mit der Familie, mit Freunden, im eigenen Umfeld. Wenn man das schafft, im Kleinen, hat es einen Welleneffekt. Andere Stämme haben gesehen, was die Fayu geschafft haben, und haben es nachgemacht. So kam Frieden in die ganze Region.

WELT: Das Thema Kulturunterschiede wird in den heutigen, von Migration, aber auch Tourismus geprägten Zeiten, immer aktueller. Ihr Leben in beiden Kulturen war schon früh stets von Missverständnissen geprägt.

Kuegler: In meinem Buch erzähle ich zwei Geschichten, die das verdeutlichen. Einmal sind meine Familie und ich in einem Fluss geschwommen, aber die Einheimischen sind im Boot geblieben. Irgendwann haben wir sie gefragt, warum sie nicht ins Wasser gehen, und sie sagten, dass es in diesem Teil des Flusses viele Krokodile gibt. Erschrocken sind wir sofort ins Boot gesprungen. Die Fayu kamen gar nicht auf die Idee, dass die Familie Kuegler nicht weiß, dass dort Krokodile schwimmen. Sie dachten, wir wären sehr mutige und von Gott besonders beschützte Menschen, die das schon hinkriegen würden. Wir hingegen haben uns gefragt, warum uns niemand gewarnt hat.

Ein anderes Beispiel betrifft ein amerikanisches Anthropologen-Ehepaar, das tief in den Urwald zu einem Stamm ging. Die Besucher und die Einheimischen verhielten sich nach den Regeln der jeweils eigenen Kultur richtig und genau das führte zu einem Desaster. Die Frau wollte dem Häuptling des Stamms Respekt zollen, also lächelte sie ihn fortwährend an und brachte ihm Essen. Ihr war nicht bewusst, dass sie ihn damit nach Stammeskultur zur Heirat aufforderte. Hätte der Häuptling dem Wunsch der Frau, die er übrigens gar nicht heiraten wollte, nicht entsprochen, hätte er seine Ehre verloren und wäre als Häuptling nicht weiter tragbar gewesen. Also musste er reagieren. Um die Frau zur Ehefrau zu nehmen, musste aber erst der Ehemann beseitigt werden, er brachte ihn also um. Er tat das, was die Frau nach den Maßstäben seiner Kultur von ihm verlangt hatte und konnte ihre verheerende Reaktion darauf nicht verstehen.

WELT: Was wäre Ihr Rat?

Kuegler: Man muss sich die Zeit nehmen, zu erklären und zu verstehen, wie es in einem anderen Land läuft. So habe ich das auch viel gemacht mit den Einheimischen. Ich habe ihnen zum Beispiel erklärt, dass Menschen aus dem Westen einander viele Fragen stellen, weil sie damit das Interesse an einem Menschen zeigen. In der Stammeskultur zeugen zu viele Fragen dagegen von Misstrauen. Ich wünschte, mir hätte jemand die Kulturunterschiede erklärt, als ich mit 17 Jahren nach Europa kam. Hätte ich damals all die Dinge über die westliche Kultur gewusst, die ich heute weiß, wäre mein Leben komplett anders verlaufen. Dann hätte ich auch verstanden, wie man damit zurechtkommt, wie man sich anpasst und wie man sich erfolgreich integrieren kann. Auch deshalb habe ich das neue Buch geschrieben. Denn Integration ist wichtig, egal wo man ist. Meine Eltern haben immer gesagt: Wir sind Gäste in diesem Land, also haben wir uns anzupassen.

Zu Besuch: Sabine Kuegler mit ihren Kindheitsfreunden

WELT: Im Urwald sind Ihnen Dinge begegnet, die man sich hier kaum vorstellen kann: Kannibalen, Humanoide, uralte Menschen ohne Falten. Ich habe die halbmenschlichen Wesen, die Umemus gegoogelt, über deren Begegnung Sie geschrieben haben, aber nichts dazu gefunden, keinen Artikel, kein Foto.

Kuegler: Das wäre ja sensationell, wenn es ein Foto gäbe. Laut der Wissenschaft sind diese Wesen schon lange ausgestorben. Das stimmt aber nicht. Es gibt noch einige von ihnen. Schon als Kind hatte ich oft von ihnen gehört, hatte aber selber nie eins gesehen und war daher nicht sicher, was von den Geschichten stimmte. Als ich einem solchen Wesen dann eines Tages wirklich begegnet bin, war es ein Schock. Etwas zu sehen, was wie ein Mensch aussieht, aber keiner ist, ist erschreckend, weil unser Gehirn das nicht erkennt und durchdreht. Sein Körper hatte seltsame Proportionen, spinnenartig mit langen Armen und Beinen. Aber es hatte ein wunderschönes, menschliches Gesicht, große Augen, eine schmale Nase, fast elfenhaft.

WELT: Was unterscheidet Umemus von Menschen?

Kuegler: Sie machen kein Feuer. Sie benutzen keine Werkzeuge und stellen keine her, bauen keine Hütten, und entwickeln sich als Spezies nicht weiter. Die Einheimischen sagen, es wären weder Menschen noch Tiere. Sie müssen sich vorstellen, das sind riesige Gebiete, wo niemand von außen je hinkommt, auch Forscher nicht, sie sind viel zu weit abseits, unzugänglich und viel zu gefährlich. Man hört ja manchmal, die Welt sei komplett erforscht. Aber es gibt noch Gebiete, die total unerforscht sind.

Wenn man sich fragt, wie die Umemus es geschafft haben, dort zu überleben, aber zum Beispiel im Amazonas nicht, dann kann man das damit erklären, dass der Amazonas irgendwann einmal in der Geschichte sehr weit entwickelt war. In Neuguinea gab es nie eine höhere Zivilisation. Natürlich könnte man jetzt über uns, die wir Umemus gesehen haben, sagen, dass wir spinnen. Aber wenn ich den Einheimischen erzähle, dass wir im Westen mit Autos herumfahren, ohne unsere Beine zu bewegen, und Licht per Knopfdruck machen, ohne ein Feuer anzuzünden, dann lachen die mich aus und denken, dass das unmöglich ist.

Sabine Kuegler, 1972 in Nepal geboren, wuchs mit ihren deutschen Eltern, Missionare und Sprachforscher, im Dschungel von West-Papua auf. Im Alter von 17 Jahren zog sie in die Schweiz, um dort ein Internat zu besuchen. Heute lebt sie in Hamburg. Kueglers Buch „Dschungelkind“, in dem sie ihre Kindheit bei den Fayu, einem kriegerischen, von der Zivilisation abgeschnittenen Kannibalenstamm mitten im Urwald beschreibt, wurde 2005 ein Bestseller, in 30 Sprachen übersetzt und verfilmt. Kueglers neues Buch „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ erzählt, wie sie 2012, todkrank und von den Ärzten aufgegeben, in den Urwald zurückkehrte, um ein Heilmittel zu finden: „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind.“ Westend, 320 Seiten, 24 Euro.

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