Mütter I

Mama's gonna make all of your Nightmares come true Mama's gonna put all of her fears into you Mama's gonna keep you right here Under her wing She won't let you fly but she might let you sing Mama will keep baby cosy and warm Ooooh Babe Ooooh Babe Ooooh Babe Of course Mama's gonna help build the wall

Das erste, was wir im Leben verstehen müssen, ist unsere Mutter. Die Tatsache, dass wir ihr Gesicht erkennen, den Klang ihrer Stimme, die Bedeutung ihres Gesichtsausdrucks und das, was ihre Stimmungen uns sagen, ist etwas so Universelles, Natürliches und Normales, es ist so wesentlich für unser Überleben, dass wir kaum einen Gedanken daran verschwenden. Ja, wir vergessen ganz, wie viel wir über sie wissen, obwohl wir doch auf bestimmte Gesten, einen bestimmten Tonfall oder Gesichtsausdruck bei einem andern sehr stark reagieren … wobei dieser andere natürlich sehr häufig unser Ehepartner ist. Indem wir unsere Mutter verstehen, machen wir den ersten Schritt, uns selbst zu verstehen.

Dieses Buch handelt von Müttern, die an einer Borderline-Störung (Borderline Personality Disorder, BPD) leiden. Die Borderline-Störung wird durch »ein generelles Muster der Instabilität der zwischenmenschlichen Beziehungen, des Selbstbildes und der Affekte sowie eine ausgeprägte Impulsivität« (APA 1994, S. 650) definiert. Der Begriff Borderline bedeutet, dass der emotionale Zustand von Borderline-Persönlichkeiten im Grenzbereich zwischen Psychose und Neurose liegt, besonders dann, wenn sie mit Verlassenwerden oder Zurückweisung konfrontiert sind. Die Kinder von Borderline-Müttern wachsen daher in einer verwirrenden emotionalen Welt auf.

Das Buch handelt auch von Kindern, die eine Borderline-Mutter haben. Die Entwicklungspsychologen wissen heute, dass Kinder unter drei Jahren nicht in der Lage sind, Täuschungen zu durchschauen, weil sie noch nicht fähig sind, den Unterschied zwischen dem, was sie glauben, und dem, was ihre Mütter glauben, zu begreifen. Genauso wenig verstehen sie inkongruentes Verhalten – wenn zum Beispiel die Mutter ein bestimmtes Gefühl empfindet, aber ein anderes zum Ausdruck bringt, sie verstehen auch nicht, dass Feindseligkeit durch ein Lächeln kaschiert werden kann. Und doch hängt ihr Überleben von der Fähigkeit ab, dieses Individuum, das die Macht über sein Universum hat, zu verstehen.

Erwachsene Kinder von Borderline-Müttern kommen zur Therapie, weil sie sich selbst verstehen wollen. Sie fühlen sich fragmentiert, sie sind depressiv und verwirrt, weil es ihnen unmöglich erscheint, ihre Mütter zu verstehen. Sie bringen Teile eines komplizierten Puzzles in die Therapie, sie drehen und wenden Bruchstücke von sich selbst und ihrer Mütter hin und her, um herauszubekommen, was zusammenpasst, unfähig, Teile, die einmal ein Ganzes bildeten, neu miteinander zu verbinden oder voneinander zu trennen. Ohne Intervention von außen kann die intensive, unvorhersehbare und unstete 9Beziehung zwischen der Borderline-Mutter und ihrem Kind verheerende Folgenhaben. Kinder von Borderline-Eltern haben nicht nur ein höheres Risiko, selbst eine Borderline-Störung zu entwickeln – in manchen Fällen kann sogardas Leben von Mutter und Kind gefährdet sein.

Die Geschichten von Kindern, die bei einer Borderline-Mutter aufgewachsen sind, sollten uns aufhorchen lassen. Manche der kleineren Kinder haben während der Therapie ihre Mütter gemalt, so, wie sie sie sahen; erwachsene Patienten haben uns Einblick in Tagebücher gegeben, uns Fotografien gezeigt oder Tonbandaufzeichnungen zu Gehör gebracht. Egal, wie alt sie waren, diese Kinder hatten den sehnlichen Wunsch, dass man ihnen zuhörte und ihnen glaubte. Sie sehnten sich nach Freiheit, und sie sehnten sich danach, dass man ihnen glaubte, sie kämpften darum, dem emotionalen Labyrinth, in dem die Beziehung zu ihren Müttern sie gefangen hielt, zu entkommen.

Viele dieser Kinder erleben ihre Kindheit als ein emotionales Gefängnis, beherrscht von tyrannischen und feindseligen Bewachern. Was erwachsene Überlebende von Konzentrationslagern geschrieben haben, beschreibt auch ihre Gefühle: »Wir hatten schreckliche Angst, dass (…) die anderen Menschen niemals auch nur das Geringste davon mitbekommen, dass niemand auf der Welt etwas bemerken würde: uns, den Kampf, die Toten (…) dass diese Mauer so riesengroß war, dass nichts, keinerlei Botschaft über uns jemals nach draußen dringen konnte« (Krall und Edelman 1977, S. 7).

Auch wenn die emotionale Welt von Kindern, die bei einer BorderlineMutter aufwachsen, meist ein dunkles und verlorenes Land ist, wird diese Dunkelheit doch erhellt durch die Reinheit des Herzens, die Kindern zu eigen ist, durch ihre Offenheit und die Widerstandskraft ihres Geistes. Eine Borderline-Mutter, die in der Lage ist, sich selbst mit den Augen ihres Kindes zu sehen, kann dadurch die lebensrettende Motivation finden, sich in eine Therapie zu begeben. Der Glanz in den Augen ihres Kindes spiegelt ihr seine rückhaltlose Liebe. Ohne Behandlung sind diese Mütter in Gefahr, die seelische Störung an die nächste Generation weiterzugeben und an der Liebe, nach der sie sich so verzweifelt sehnen, achtlos vorüber zu gehen.

Der erste Schritt, diesen Müttern und ihren Kindern zu helfen, besteht darin, die Symptome der Borderline-Persönlichkeit zu erkennen. Wir müssen ihren Geschichten zuhören und aus ihrem Schmerz lernen; und wenn diese Mütter und ihre Kinder im Stich gelassen werden, dann müssen wir die Verantwortung dafür mit übernehmen. Ein berühmter Auschwitz-Überlebender, Primo Levi, ruft es uns ins Bewusstsein: »Vielleicht ist ein jeder von uns der Kain irgendeines Abel, erschlägt ihn mitten auf seinem Feld, ohne es zu wissen« (Todorov 1993, S. 174).

Künstler und insbesondere Popstars sind besonders häufig von der Borderlinestörung betroffen. Typisch sei etwa der Fall von Amy Winehouse, die in ihrem Lebenslauf alle einschlägigen Symptome zeigte: Problematische Kindheit, Selbstverletzungen, Anorexie/Bulimie, Impulskontroll-Störung, Aggressionen, häufig wechselnde Beziehungen, Depressionen, Suchtprobleme mit Heroin, Kokain und Alkohol. Sie starb im Alter von 27 Jahren mit 4,13 Promille im Blut.

Sie reiht sich damit ein in den „Club 27“ jener Stars von Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison bis Kurt Cobain, die alle ähnliche Probleme hatten und im gleichen Alter starben. Eine 2007 veröffentlichte Studie an 1064 Rock- und Popstars bestätigte, dass diese ein 240-fach erhöhtes Mortalitätsrisiko hatte. Doch sie faszinieren eben auch mit ihrem Narzissmus und ihrer Energie, der authentischen Darstellung von Emotionen und der Art, wie sie stellvertretend für uns ihre Triebwünsche ausleben.

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