Esther Perel

Esther Perel: Es gibt keine größere Quelle für Freude und Sinn in unserem Leben als unsere Beziehungen mit anderen.

Wie bewahrt man das Feuer in Langzeitbeziehungen? Kann man einen Seitensprung wirklich verzeihen? Und ist Monogamie ein realistisches Konzept? Die berühmte Paartherapeutin Esther Perel gibt Antworten.

Frau Perel, in Ihrem Beziehungs-Podcast haben Sie mit Paaren gesprochen, die in der Pandemie streiten. Auch ohne Lockdown kommt es bei vielen Paaren zu Streit. Ist es dabei immer Ihr Ziel, die Beziehung zu retten?
Nein. Eine Paartherapie soll nicht immer nur sicherstellen, dass die Leute zusammenbleiben, sondern es geht darum, dass die Menschen verantwortungsvolle Entscheidungen treffen, die niemandem wehtun.

Sie glauben nicht an das „gemeinsam glücklich bis ans Lebensende“?

Es hat nichts mit Glauben zu tun. Die Institution der Ehe baute sehr lange auf das „Bis dass der Tod euch scheidet“. Und heute? Steht die Ehe so lange, bis die Liebe stirbt. Als die Leute früher sagten „Für immer“, sind sie in ihren Vierzigern oder Fünfzigern gestorben. Heute sterben sie in den Neunzigern. Das ist nicht das gleiche „Für immer“. Auch gab es lange gar nicht die Option, sich scheiden zu lassen. Als dann aber Frauen ihre ökonomische Unabhängigkeit erreichten, nicht mehr das Eigentum ihres Mann sein wollten und als es Scheidungsgesetze gab, die Frauen schützten, da wurden die meisten Scheidungen von Frauen initiiert. Paartherapie schaut immer: Was bedeutet die Institution Ehe in dieser Zeit? Wofür steht die Ehe heute? Heute steht das Paar im Zentrum. Wenn ein Paar nicht glücklich ist, bleibt die Familie nicht intakt. Früher konnte ein Paar unglaublich unglücklich sein, gewalttätig, missbräuchlich – das Paar hätte sich nicht getrennt. Weil die Familienorganisation das Paar brauchte. Und weil Frauen nirgendwo hingehen konnten. Das sind die Dinge, die sich geändert haben.

Die Vorstellung, dass man heute immer glücklich sein muss, setzt Paare unter Druck?

Ja, wir hatten mal eine Ehe, in der man viele Kinder brauchte, um das Feld zu bestellen, und einen Partner, mit dem man eine Familie und ökonomische Sicherheit hatte. Dann hatten wir das Bild einer romantischen Ehe, in der man Zugehörigkeit sucht, eine Verbindung. Und weil man Kinder nicht mehr für den Fortbestand und zum Arbeiten brauchte, hatte man nur wenige Kinder – und hatte Sex aus Lust und Leidenschaft. Und heute geht es in der Ehe, in Beziehungen um Identität: Ich will, dass mein Partner mir dabei hilft, die beste Version meiner selbst zu werden. Und man hat sich sowieso zehn Jahre später kennengelernt, als man sich noch vor 50 Jahren kennengelernt hat. Und obendrein sucht man noch einen Seelenverwandten, mitten in einer konsumorientierten Welt. Und in einer Zeit, in der Paare so isoliert sind wie nie zuvor.

In Ihrem zweiten Buch „Was Liebe aushält“ geht es auch darum, Beziehungsstandards zu hinterfragen.

Ja, es geht darum, was mit einer Beziehung passiert, wenn man ein Verlangen für jemand anderen entwickelt. Das war für mich der logische nächste Schritt. Am Verlangen kann man moderne Beziehungen erkennen. Das Buch ist in 20 verschiedenen Sprachen erschienen, und ich war in allen Ländern. Überall ist es ähnlich mit der Untreue. Nur in einem Punkt unterscheiden sich Europa und die Vereinigten Staaten.

Der da wäre?

Amerikaner moralisieren Untreue. Ein Seitensprung wird als moralischer Verrat verstanden. Aber auch in Europa wird Untreue als Erstes genannt, wenn es um Betrug geht! Du kannst mit einem Alkoholiker leben, du kannst mit einem Spieler leben, sogar mit häuslicher Gewalt! Und niemand sagt dir: Verlasse diesen Partner! Untreue aber ist der ultimative Betrug in einer Ehe geworden, in der du deinen Seelenverwandten gefunden zu haben glaubtest.

Ist es deshalb so eine große Sache?

Ja! Untreue war lange Zeit ein Privileg von Männern. Es ging auch viel um Elternschaft. Man wollte kontrollieren, von wem die Kinder waren. Die Frauen kontrollieren. Wer ist der Vater? Zu wem gehören die Kinder? Hinzu kam noch: Viele Menschen hatten in der Ehe zum allerersten Mal Sex. Das gehörte zur Monogamie dazu. Heute hatten sie vorher schon Sex mit vielen anderen. Monogamie bedeutet heute, nach vielen anderen mit nur noch einem Partner zu schlafen. Genauso wie Ehe oder Untreue nicht mehr so sind wie im achtzehnten Jahrhundert. Heute heiraten wir viel später, und ich kann mir die Person aussuchen, die ich heirate! Und ich suche diese eine Person aus und kümmere mich nicht mehr um die anderen. Ich bin die Auserwählte – und ich habe den Auserwählten ausgesucht! Seelenverwandte eben. Wenn diese Person mich verletzt, mich betrügt – was sie damit wirklich sagt, ist: Nein, du bist doch nicht die Auserwählte.

Gibt es immer einen Grund für einen Seitensprung?

Es gibt nicht immer einen Grund, aber es hat immer eine tiefere Bedeutung. Affären sind Geschichten, One-Night-Stands sind Geschichten, sogar Hit-and-Run-Sex hat eine Bedeutung – nämlich die Bedeutung, dass er bedeutungslos sein soll. Es gibt keine menschliche Interaktion ohne Bedeutung! Ich bin nicht so sehr an den Fakten einer Affäre interessiert, sondern an ihrer Bedeutung: Was sagt uns die Affäre über diese Person, diese Kultur, diesen Moment in ihrem Leben oder ihrer Beziehung?

Eine Beziehung, in der jemand eine Affäre hat, kann kaputt sein – aber auch gerettet werden?

Ja. Einige Affären finden ihre Bedeutung in der Unzufriedenheit der Beziehung: Jahre von emotionaler Abweisung, Jahre von sexueller Dürre, jahrelanges gegenseitiges Ignorieren. Jahre fehlender Kommunikation und Verbindung.

Es ist ein Schrei nach Hilfe?

Nicht nur. Es ist auch die Erkenntnis: Ich wusste gar nicht, dass das Leben anders sein kann. Ich wusste nicht, dass es einen Menschen gibt, der lieb mit mir spricht. Ich wusste nicht, dass ich Sex erleben kann, der mir keine Schmerzen bereitet. Ich wusste nicht, wie es ist, von jemandem begehrt zu werden. Ich wusste nicht, wie es mit jemandem ist, der zärtlich ist, großzügig und will, dass ich mich gut fühle! Statt mit jemandem, der mich ständig kritisiert. Es geht gar nicht immer darum, dass Menschen wissen wollen, was auf der anderen Seite liegt. Vielmehr bemerken sie zum ersten Mal: Es gibt überhaupt eine andere Seite.

Sie schreiben, dass wir Seitensprünge als Beleg für eine unglückliche Beziehung sehen. Warum betrügen glückliche Menschen überhaupt?

Ich war auch lange davon überzeugt, dass Affären ein Zeichen für gestörte Menschen und gestörte Beziehungen sind. Und dass deswegen diese Beziehungen enden mussten. Ich habe zwei interessante Entdeckungen gemacht: Wenn Menschen über Affären reden, reden sie über zwei Personen – das Paar. Die dritte Person ist nie Teil der Geschichte. Dann habe ich angefangen, die Leute zu fragen, meine Zuschauer, manchmal waren es 5000: Seid ihr in eurem Leben mit Affären in Berührung gekommen? Entweder, weil ihr das Kind eines Elternteils seid, der eine Affäre hatte, oder eines Elternteils, der weggegangen ist. Oder weil ihr selbst das Kind seid, das aus einer Affäre entstanden ist. Oder weil ihr der Freund oder die Freundin seid, an deren Schulter sich jemand ausgeweint hat. Oder weil ihr selbst diese dritte Person seid. Und dann begannen die Leute, ihre Hand zu heben, und es waren wahrscheinlich 85 Prozent. Also lasst uns über Untreue reden!

Und was war die zweite Entdeckung?

Es ist nicht diese Sache, die da draußen mit zwei Menschen passiert, die Probleme haben. Es begleitet gewissermaßen die Geschichte der Ehe. Und dann habe ich gesehen, dass das Wort, auf das Menschen auf der ganzen Welt immer wieder zurückkamen, „lebendig“ war. Nicht: „Ich habe mich sexy gefühlt“, sondern: „Ich habe mich lebendig gefühlt.“ Untreue ist ein solches Tabu, weil sie eine Grenzüberschreitung darstellt, ein „Ich“ über dem „Wir“. Es ist massiv egoistisch, etwas, das ich nur für mich mache. Es ist das eine Mal, insbesondere für Frauen, dass sie sich nicht sorgen müssen, schon wieder etwas für andere Menschen zu tun. Es ist eine solche Erfahrung von Freiheit – Freiheit und Zerstörung gleichermaßen, lassen Sie uns das nicht romantisieren! Und dann habe ich viele Menschen sagen hören: Es ist nicht so, dass ich meinen Partner verlassen wollte; ich wollte die Person verlassen, die ich selbst geworden bin. All das hatte nichts mit Problemen in der Ehe zu tun. Der Ehe ging es gut, aber die Leute hatten sich selbst ausgelöscht.

Das klingt fast wie ein Akt der Selbstfürsorge…

Es ist beides. Es ist Selbstfürsorge und Betrug. Es geht beständig darum, was es für mich getan hat und was es dir angetan hat – eine doppelte Geschichte.

Geht es bei Untreue nicht auch um diese große Angst, dass der Partner, wenn er Sex mit einer anderen Person hat, uns verlässt und wir ganz allein sind?

Ja, das ist absolut der Fall. Aber man kann auch allein und verlassen leben in einer Partnerschaft, in der der andere sich einem gegenüber sexuell komplett verschließt. Einsamkeit ist wahrscheinlich eine der größten Antriebskräfte für Untreue. Lassen Sie mich eines sagen: Es geht mir bei Sexualität nicht darum, was Menschen im Bett tun. Sexualität ist wie eine Linse, um Gesellschaften und Kulturen zu verstehen: ihre Werte, ihre Einstellung gegenüber Frauen, Kindern, gegenüber Vergnügen und Fleisch. Mich interessiert nicht, wie oft Menschen Sex oder wie viele Orgasmen sie haben, mich interessiert, was Sexualität heute repräsentiert und was Erotik bedeutet. Menschen wollen in ihren Beziehungen Lebendigkeit spüren, Freiheit, Neugier. Das, was sich wie ein Gefängnis anfühlt, ist das Gegenteil davon.

Brauchen wir also mehr Freiheit in unseren Beziehungen?

Ja, aber die Menschen, die in meine Praxis kommen, sind keine chronischen Fremdgänger. Sie waren treu und monogam, zehn, 20, 30 Jahre lang. Und eines Tages überschreiten sie eine Grenze, von der sie selbst niemals gedacht hätten, dass sie sie überschreiten. Warum? Was bringt Menschen dazu, alles zu riskieren, was sie sich aufgebaut haben?

Und? Was ist die Antwort?

Es ist ein Schrei nach Leben: Ich habe mich immer nur um andere gekümmert, und ich bin einsam. Ich will einmal im Leben etwas anderes erleben, und ich weiß gar nicht, wie sich das anfühlt. Ich denke per Definition nicht, dass Untreue das Ende einer Beziehung ist. Es ist eine tiefe Krise. Aber da es eine Krise ist, schauen wir, ob das Paar sie überstehen kann, ob es etwas damit anfangen kann, was die Krise sie lehrt.

Ist Monogamie, wie wir sie heute leben, dann nicht ein unrealistisches Konzept?

Monogamie ist ein soziales Konstrukt und wurde die meiste Zeit in der Geschichte Frauen auferlegt, aus wirtschaftlichen und aus patriarchalen Gründen. Es hatte nie mit Liebe zu tun, und heute hat alles mit Liebe zu tun. Menschen verhandeln dauernd über Monogamie. Wenn sie über Masturbation in einer Beziehung reden, geht es auch um Monogamie. In Ihrer Generation ist Masturbation ein Teil Ihrer Sexualität gewesen seit dem Moment, in dem Sie in die Pubertät gekommen sind. Die Idee, dass jemand kommen und sagen könnte „Jetzt, da wir zusammen sind, darfst du das nicht mehr machen“, ist unvorstellbar für Sie. Aber das ist eine sehr neue Vorstellung. Ihre Großeltern wurden so erzogen, dass sie die Hände oberhalb der Bettdecke lassen sollten.

In Ihrem Buch „Was Liebe braucht“ geht es um die Frage, wie sich Lust und Leidenschaft in Langzeitbeziehungen verändern. Was sind Ihre Tipps, damit eine Beziehung auch nach langer Zeit sexy und lebendig bleibt?

Wenn Sie lange Listen wollen, lesen Sie meine Bücher und hören sich die Podcasts an! Aber wenn jemand erzählt: „Meine Frau sagt, ich sei bei anderen viel aufmerksamer als ihr gegenüber“, antworte ich: Hinter jeder Kritik steckt ein Wunsch. Was sie sagt, ist: „Ich hätte gerne diese Aufmerksamkeit von dir. Wenn du mit den Kindern spielst, bist du witzig, verspielt, liebevoll. Wenn du dich um unsere Gäste kümmerst, bist du aufmerksam, fokussiert, hängst nicht gleichzeitig am Telefon. Du gibst dein Bestes, und dann bringst du die Reste mit nach Hause.“ Viele Paare leben von den Resten. Das Beste geht an die Kinder, an die Freunde, an Kunden und Kollegen, und die Vorstellung ist, dass eine Beziehung überlebt wie ein Kaktus. Der Tipp, den ich Menschen in einer Affäre gebe, lautet: Wenn sie zehn Prozent der Kreativität, die sie in ihre Affären stecken, ihrer Ehe widmen würden, ginge es der Ehe deutlich besser.

Was ist mit demjenigen, der betrogen hat – soll er gestehen oder eher nicht?

Wenn eine Affäre entdeckt wird oder Sie jemand fragt, machen Sie den anderen nicht verrückt, und betreiben Sie kein „Gaslighting“.

Eine Form der psychischen Manipulation, die das Opfer erst spät bemerkt.

Wenn eine Affäre herauskommt, verursacht sie bei dem anderen manchmal einen enormen Schmerz und berührt ihn in seinem Innersten. Wegen der Erwartungen: Weil ich dachte, du könntest so etwas niemals tun. Weil mein Vater es mein ganzes Leben lang getan hat. Weil ich ohnehin schon dachte, dass ich nicht attraktiv bin und du es jetzt bestätigt hast. Es ist wirklich verheerend, und das muss man verstehen. Für den Betrogenen ist es auch ein Werteverlust. Einer meiner Klienten hat mich gefragt: „Kann ich es jemals wiedergutmachen?“ Sie haben dieses wunderschöne Gemälde in Ihrem Haus, von einem Ort, an dem Sie gerne wandern waren, aber er hat gesagt: „Wissen Sie, ich habe die andere Frau dorthin mitgenommen.“ Es sind all diese Dinge, die so schmerzhaft sind.

Wie ist es bei einem Seitensprung? Viele gestehen ihn ihrem Partner nur, um ihr eigenes Gewissen zu erleichtern, aber der andere muss damit leben.

Ja, Ehrlichkeit kann grausam sein. Die Reaktion des Betrogenen steht nicht immer im Verhältnis zur Schwere der Grenzüberschreitung, manche reagieren auf einen One-Night-Stand, als handele es sich um eine zehn Jahre lange Affäre. Und manche reagieren auf eine mehrjährige Affäre mit sehr viel mehr Fassung. Es ist daher eine komplizierte Frage, ob man es sagen soll oder nicht. Ich glaube, wichtiger ist, Verantwortung für das zu übernehmen, was man getan hat. Das bedeutet nicht, dass man es teilen muss. Aber es heißt, dass man wieder in seine Beziehung investieren sollte. Und vielleicht kann man eines Tages, während man ruhig zusammensitzt, fragen: Gibt es Dinge, die du mir nie erzählt hast? Haben wir Geheimnisse voreinander? Und wollen wir sie wissen, oder wollen wir nur anerkennen, dass sie da sind?

Dieses Gespräch ist für viele Paare sicher nicht so einfach, wenn sie am Anfang stehen und in der „honeymoon phase“ sind, in der man sagt: Wir würden so etwas nie tun!

Das stimmt. Aber Paare haben gelernt, über Herpes zu sprechen, und Paare haben gelernt, über Safer Sex zu sprechen. Und das gehört dazu. Wir müssen lernen, diese Gespräche zu führen. Früher haben Paare nie die Frage diskutiert: Wollen wir Kinder haben? Man hatte Sex, also hatte man Kinder. Darum führen wir lauter neue Gespräche, die wir früher nie hatten. Es gibt keinen Grund, warum dieses sich bizarrer anfühlen sollte. Aber sprechen Sie auch mit Ihren Freunden darüber! Wenn ich deinen Partner mit jemand anderem sähe, würdest du wollen, dass ich es dir sage? Welche Art von Freund oder Freundin soll ich sein? Das ist eine soziale Frage. Untreue ist systemisch, sie ist gesellschaftlich, sie dreht sich nicht nur um zwei Menschen.

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