Bleibe nicht am Boden heften

Frisch gewagt und frisch hinaus!

Wir wir in der Liebe weniger defensiv sind.

Wenn wir auf einen Nenner bringen müssten, woran Beziehungen scheitern, wäre die Antwort diese: an Abwehrhaltungen. Das ist natürlich eine grobe Verallgemeinerung. Aber tatsächlich ist es fast immer Abwehr, die eine Liebe zugrunde richtet.

Johann Wolfgang von Goethe
Wanderlied

Von dem Berge zu den Hügeln,
Niederab das Tal entlang,
Da erklingt es wie von Flügeln,
Da bewegt sich’s wie Gesang;
Und dem unbedingten Triebe
Folget Freude, folget Rat;
Und dein Streben, sei’s in Liebe,
Und dein Leben sei die Tat!

Denn die Bande sind zerrissen,
Das Vertrauen ist verletzt;
Kann ich sagen, kann ich wissen,
Welchem Zufall ausgesetzt
Ich nun scheiden, ich nun wandern,
Wie die Witwe, trauervoll,
Statt dem einen, mit dem andern
Fort und fort mich wenden soll!

Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften,
Überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los;
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß.

Leider kann man Situationen, die eine Abwehrreaktion auslösen, nicht entkommen.
Ganz gleich, wie sehr zwei Menschen einander zugetan sind: Die Vertrautheit wächst, man lernt einander kennen und stolpert immer häufiger über gewisse Charaktereigenschaften des anderen. Eigentlich will man einfach nur nett zueinander sein. Aber wie der Mensch, mit dem man das Leben teilt, sein Frühstücksei pellt, das Badezimmer verwüstet, tagelang den Koffer im Flur rumstehen lässt, die Wohnungsschlüssel verschusselt oder immer wieder denselben Witz erzählt, ist dann doch äußerst irritierend.

„Liebe mich so, wie ich bin!“, ist unser verhängnisvoller Schlachtruf.

Problematisch wird es, wenn man wagt, ihn darauf anzusprechen. Mal löst man Wut, mal Traurigkeit aus. Die Haltung, die hinter solchen Reaktionen steckt, ist immer dieselbe: Der Kritisierte findet es völlig inakzeptabel, für unvollkommen gehalten zu werden und ist überzeugt, die Kritik selbst widerspreche dem Geist wahrer Liebe zutiefst.

„Liebe mich so, wie ich bin!“, ist unser verhängnisvoller Schlachtruf.

Damit steuern wir allerdings geradewegs auf eine Katastrophe zu. Denn angesichts unserer Defizite ist das eine völlig unfaire Forderung. Würden wir stattdessen ein Mindestmaß an Selbsterkenntnis besitzen, hätten wir den Wunsch, für etwas anderes geliebt zu werden: Nämlich für das, was wir zu sein hoffen; für das, was wir in unseren besten Momenten sind; für das Gute, das in uns schlummert und noch nicht verwirklicht ist.

Die Liebe kann uns helfen, zu werden, die wir sein wollen.

Und Liebe ist auch alles was wir brauchen. Mit Liebe ist alles da, ohne Liebe nichts.

Wahre Liebe sollte darin bestehen, dass wir uns für Feedback nicht nur bedanken, sondern mehr davon verlangen.

Die Meisten verwechseln Dabeisein mit Erleben.

– Max Frisch

Leben bedeutet, sich seine Schippe immer so voll zu laden, dass man sie gerade tragen kann.

-Fritz

Sie sollte uns dazu anleiten, ständig nach einer besseren Version von uns selbst zu streben. Liebe wäre dann kein behaglicher Rückzugsort, an dem man unsere Fehler bestätigt und gutheißt, sondern ein Klassenzimmer, in dem wir lernen, die Person zu werden, die wir sein wollen.

Eine solche Haltung fällt uns allerdings nicht zu; wir müssen sie üben. Das gelingt, wenn wir Folgendes beachten:

– Gib zu, dass du Angst hast!

Hinter einer Abwehrhaltung verbirgt sich immer die Angst, gedemütigt und verlassen zu werden. Ein echter Partner, der erfährt, wovor wir Angst haben, ist davon berührt und hilft uns zu dabei, nicht die Kritik zu fürchten, sondern die Unfähigkeit, Kritik anzunehmen.

– Kritik ist normal

Wäre Fehlerlosigkeit die Bedingung, eine Beziehung führen zu können, blieben wir alle allein. In Wirklichkeit sind wir nicht deshalb liebenswert, weil wir perfekt sind, sondern weil niemand von uns jemals perfekt sein kann.

– Liebe ist robust

Für den defensiven Menschen ist die winzigste kritische Bemerkung wie ein kleiner Erdrutsch, der eine Lawine ankündigt. Er vertraut nicht darauf, dass es wirklich nur um die Frage geht, wie lange Nudeln kochen müssen oder wie man ein Bett richtig macht. Für ihn scheint der Kritik die Absicht zugrunde zu liegen, Wunden zu reißen und die gesamte Beziehung einem raschen Ende zuzuführen. Wer so denkt, weiß nicht, wie robust Liebe sein kann. Er hat keine Ahnung davon, dass man einander aufs Übelste beschimpfen und sich zehn Minuten später in den Armen liegen kann, weil die zärtlichen Gefühle dadurch erneuert und gestärkt wurden, dass man seinen Frust loswerden konnte. Etwas zerbricht – und wird repariert. Wahre Liebe ist unverwüstlich. Kleinigkeiten können ihr nichts anhaben. Nicht läppische Details sind es, die eine Beziehung zerstören, sondern die Art und Weise, wie wir mit ihnen umgehen.

Und Liebe ist immer konkret. Die harte Währung der Liebe kann sein, aber muss nicht sein, der sex. Was sein muss sind Sicherheit, Vertrauen, Verbindlichkeit und Intimität.

Aber keine Sorge: Es ist durchaus möglich, Abwehrhaltungen hinter sich zu lassen. Zum Beispiel, indem wir bei der Partnersuche nach jemandem Ausschau halten, der bereit ist, mit uns den heldenhaften Versuch zu unternehmen, Abwehrhaltungen zu erkennen und zu überwinden. Wir könnten dieses Vorhaben gleich zu Beginn ansprechen, zum Beispiel so: „Ich möchte eines Tages aufs Land ziehen, Spanisch lernen und mit der Hilfe meines Partners meine Abwehrhaltung überwinden…”.

Wir können uns gegenseitig helfen, die zu werden, die wir sind. Ich stelle mich Dir dafür zur Verfügung.

Mach es mit mir!

Dein Gefängnis war schon immer
Und es wird immer sein.
Den Schlüssel haben die anderen
Und die geben ihn nicht her.
Es gibt keinen Sinn, sie zu fragen.

Auch ich bin im Gefängnis.
Befreie mich! Zusammen kommen wir hier raus!

Was Du schon immer mit mir machen wolltest,
Dich aber bisher nicht getraut hast:
Dafür stelle ich mich Dir zur Verfügung!

Wir können den Versuch, Kritik anzunehmen, ohne beleidigt, verletzt oder wütend zu sein, als eine der größten Herausforderungen des Lebens betrachten – wie sportliche Leistungen oder geschäftlichen Erfolg. Wenn wir uns richtig Mühe geben, erreichen wir ein Stadium, in dem uns unser Partner mit Taktgefühl und Wohlwollen darauf hinweist, dass wir Mundgeruch haben oder dass unsere Schuhe nicht zu unserem Oberteil passen. Und anstatt wie früher mit Abwehr darauf zu reagieren, könnten wir uns einfach zu ihm umdrehen, freundlich lächeln und das sagen, was fehlerhafte Menschen immer sagen sollten, wenn ein anderes Mitglied ihrer Spezies ihnen hilft, eine bessere Version ihrer selbst zu werden: Danke.

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