„Das Leben ist kurz. Gönn dir eine Affäre“
Fremdgehen kennt viele Gründe. Welche Rolle spielen die Gene? Und ist Monogamie überhaupt noch zeitgemäß? Wissenschaftler haben Erstaunliches herausgefunden.
Ist die romantische Liebe ein Hirngespinst und Monogamie etwas für die Ewiggestrigen? Die regelmäßigen Umfragen zur Popularität des Seitensprungs stellen der exklusiven Liebe jedenfalls ein ernüchterndes Zeugnis aus. Offenbar halten sich viele Menschen in Beziehungen an die Empfehlung der „Affären-Dating-App“ Ashley Madison: „Das Leben ist kurz. Gönn’ dir eine Affäre.“ Je nach Umfrage sind diesem Rat hierzulande etwa vierzig Prozent der Gebundenen schon einmal gefolgt. Die Dunkelziffer dürfte allerdings deutlich höher liegen, wobei der Anteil der Frauen steigt, was häufig mit den Worten kommentiert wird: „Die Frauen holen auf!“, als handle es sich um eine frohe Botschaft. Und vielleicht trifft das ja sogar zu.
Ein katastrophaler Hack
Zu diesem Befund passend steht derzeit auf Platz 2 der Netflix-Charts Deutschland die Doku-Serie „Ashley Madison. Sex, Lügen und der Skandal“. Es geht darin um den Aufstieg des Seitensprungportals, seinen Gründer, um enttäuschte Betrogene und zerknitterte Betrüger sowie einen katastrophalen Hack, bei dem Millionen von Nutzerdaten ins Netz gelangten, was zahllose Beziehungskrisen auslöste.
Dabei stellt sich natürlich für jedes Paar die Frage, wo die Untreue beginnt? Wenn man einen (ungenutzten) Account bei „Ashley Madison“ hat? Bei intensivem Flirten? Beim ersten Fremdkuss? Oder erst beim Geschlechtsverkehr? Was ist mit Hit-and-run-Sex? In welche Kategorie fallen Affären mit Künstlicher Intelligenz? Und wie entscheiden Richter in Österreich, wo die Schuldfrage bei Scheidungen immer noch relevant ist und etwa bei der Vermögensaufteilung eine Rolle spielt, wenn ein Ehepartner Cybersex hatte?
Steigt man in die „wissenschaftliche“ Welt des Seitensprungs ein, stößt man unweigerlich auf Kurioses: So fand ein Team einer britischen Dating-App vor einigen Jahren heraus, dass der 18. November ein Tag war, an dem besonders viele Männer das Risiko der Untreue wagten. Warum ausgerechnet der 18. November? Die Verantwortlichen der App vermuten, der nahende Weihnachtsstress habe den Ausschlag für die erhöhte Nachfrage nach einer Affäre gegeben. Das ist insofern interessant, als Fremdgehen ja ebenfalls emotionalen Stress auslöst. Und wer weiß schon, an wen er oder sie in der besonders für einsame Menschen kritischen Zeit kurz vor Weihnachten gerät? Auch Bedürftige können bisweilen sehr glaubhaft vermitteln, sie seien für den unverbindlichen Sex genau die richtige Person.
Augen auf bei der Affären-Wahl
Klassisches Beispiel für eine verpatzte Wahl ist noch immer der Thriller „Eine verhängnisvolle Affäre“. Der von Michael Douglas gespielte und glücklich verheiratete Anwalt Dan Gallagher lässt sich in dem Film auf die schöne Alex Forrest (Glenn Close) ein. Dummerweise entpuppt sich diese als Stalkerin, sie terrorisiert die Familie und versenkt das Kaninchen des kleinen Gallagher-Sohnes in einem Kochtopf. Literarische Seitensprungdramen gehören zu den besten Werken der Weltliteratur: „Madame Bovary“, „Anna Karenina“, „Effi Briest“, „Lady Chatterleys Liebhaber“.
Als zweites kritisches Datum für die Beziehungsstabilität identifizierte das Datingportal den 21. Juli. Hier lautet die Erklärung: Der Familienurlaub naht. Vorheriges sexuelles Austoben ist also entweder der Angst vor zu großer Zweisamkeit geschuldet oder dem Wissen, dass mit den hinter der Verbindungstür lauernden Kindern im Urlaub ohnehin nichts läuft.
Die Soziologinnen Christiane Bozoyan und Claudia Schmiedeberg von der Ludwig-Maximilians-Universität München, die sich des Seitensprung-Themas in einer Langzeitstudie angenommen haben, antworteten in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ auf die Frage, warum Menschen fremdgehen: „In die Beziehungszufriedenheit münden ja viele Faktoren wie Konfliktstil, Handgreiflichkeiten, Sexhäufigkeit, gemeinsam verbrachte Zeit, Hausarbeitsteilung.“ Wenn es in einem oder mehreren Punkten hapere oder ein Ungleichgewicht in den Erwartungen besteht, kriselt es, und die Untreuewahrscheinlichkeit steigt. So weit, so einleuchtend.
Sexuelle Bedürfnisse verändern sich
Die amerikanische Paartherapeutin und Autorin Esther Perel hat festgestellt, dass Verlusterfahrungen offenbar viele Menschen, selbst jene in einigermaßen „glücklichen“ Ehen, zu einer Affäre verleiten. Nach einem Verlust, so Perel in einem Interview, realisiere man, wie kurz das Leben ist, und frage sich, ob es das gewesen sei. „Ob man zum Beispiel je wieder so intensiv fühlen werde wie bei einem Anfang. Diese Fragen bekommen eine Dringlichkeit – und führen zur Übertretung.“ Die Endlichkeit des eigenen Lebens vor Augen, fällt die Moral weniger stark ins Gewicht. Eine neue Erklärungsstrategie für aufgeflogene Betrüger lieferte kürzlich die Sozialpsychologin Madeleine Fugère von der Eastern Connecticut State University. Fugère analysierte mehrere große, weltweit durchgeführte Studien zu der Frage, welche Rolle die Gene bei Untreue spielen. Sie kam zu dem Schluss, dass die Forschung „darauf hindeutet, dass Untreue einen starken genetischen Zusammenhang hat“. Eltern werden ohnehin von ihren Kindern oft für alle möglichen charakterlichen Schwächen und Traumata verantwortlich gemacht (Reinszenierung der Vergangenheit), nun ist also auch der Verweis auf die Familiengeschichte beim Fremdgehen eine Möglichkeit.
Bansky „Scandal“
In einem Artikel für „Psychology Today“ schreibt Fugère: „Untreue hat eine genetische Grundlage, denn in unserer Evolutionsgeschichte war es vorteilhaft, sich alternative Partner zu suchen, um die Zahl der Nachkommen zu erhöhen.“ Zudem seien sich eineiige Zwillinge in der Wahrscheinlichkeit, untreu zu werden, ähnlicher als zweieiige Zwillinge. Forschung, die versuche, Untreue mit bestimmten Genen in Verbindung zu bringen, sei allerdings erfolglos geblieben.
Nicht jede Liebesbeziehung, in der es zu Untreue kommt, ist automatisch eine schlechte Beziehung. Die Idee, man selbst könne über Jahrzehnte die Erwartungen und Bedürfnisse seines Partners erfüllen, ist naiv und eine Überhöhung der eigenen Person. Menschen, so banal das klingen mag, verändern sich. Ihre (sexuellen) Bedürfnisse verändern sich. Im Alltagsstress geschehen diese Veränderungen oft über Jahre unbemerkt. Könnte Untreue nicht auch eine Chance zur kritischen Selbstbefragung für beide sein? Wer will eine exklusive Liebe erzwingen, obwohl sich der Partner nach einem Abenteuer, nach einer anderen Form von Nähe sehnt?
Adam Phillips fragt in seinem Buch „Monogamie . . . aber drei sind ein Paar“: „Warum eigentlich halten wir Monogamie für selbstverständlich? Wie gehen wir mit unseren ‚unerlaubten‘ Wünschen um?“ Jeder wisse, dass man trotz der Liebe zum Partner einen anderen Menschen begehren könne. Wahrhaben wollen das die meisten nicht. Was viele sich selbst zugestehen – der Traum vom sexuellen Rausch –, empfänden sie bei ihrem Partner wohl als Liebesverrat. Dass die Moralvorstellungen unserer Zeit dem erotischen Mehrfachabenteuer im Wege stehen, verstärkt offenbar nicht die Treue zum Partner, sondern nur den Drang zur Heimlichkeit.