Verbundenheit

Prof. Dr. Tobias Esch forscht an der Universität Witten/Herdecke seit Jahren u.a. zur Frage, wie sich Glück im Verlauf des Lebens entwickelt und wie Glück und Zufriedenheit in Wechselwirkung mit der Gesundheit stehen.

Der Gründer und wissenschaftliche Kopf der Uniambulanz, Prof. Dr. med. Tobias Esch, hat ein neues Buch herausgebracht. Seit Jahren forscht der Arzt, Gesundheits- und Neurowissenschaftler zum Thema Glück und dem Zusammenhang zwischen Glück und Gesundheit. In „Wofür stehen Sie morgens auf?“ beleuchtet er das, was er die vierte Dimension der Gesundheit nennt: Sinnhaftigkeit, Bedeutsamkeit, Verbundenheit. Im Interview spricht Tobias Esch über die Idee zu seinem Buch und begründet, warum er eine Erweiterung der Definition von Gesundheit für sinnvoll hält.

„Wofür stehen Sie morgens auf?“, fragen Sie die Leser Ihres neuen Buches. Was hat es damit auf sich und wie kamen Sie zu der Idee?

Wir haben in unserer Forschung lange schon beobachtet, dass Glück und Zufriedenheit im Laufe der Lebenszeit tendenziell zunehmen – und zwar auch dann, wenn das Leben selbst oder widrige persönliche Umstände wie Krankheit oder einschneidende Schicksalsschläge scheinbar dagegen sprechen. Wir sprechen hier auch vom sogenannten „Zufriedenheitsparadoxon“.

Hieraus folgt: Gesundheit allein kann also nicht der Treiber der Zufriedenheit sein, zumindest in der zweiten Lebenshälfte. Es muss also entweder etwas Anderes hinzukommen, oder aber unsere bisher verbreitete Definition von Gesundheit muss erweitert werden – um eben jenes „Andere“, denn nur dann kann man wohl noch davon sprechen, dass Gesundheit das Glück bedingt.

Was fehlt der heutigen Medizin, um nachhaltig Gesundheit und Heilung zu erzeugen? Dieser Frage ist der Neurowissenschaftler, Arzt und Gesundheitsforscher Prof. Dr. Tobias Esch nachgegangen. Sein Fazit? Es fehlt das Bewusstsein einer neuen, vierten Dimension der Gesundheit: Bedeutsamkeit. Zusammen mit seinen Patienten geht er auf die Spur ungeklärter Symptome und findet Ursachen – bis hin zur Wiederherstellung von Sinn im Leben. Denn wenn Bedeutsamkeit im Tun sowie eine Verbundenheit zwischen Sein und Leben bestehen, wenn wir wissen, wofür wir morgens aufstehen (und warum gerade hier), kann Heilung erfolgen. Das Buch ist wegweisend für alle, die gesund bleiben, sich von Krankheiten erholen und eine glückliches Leben führen wollen.

Meine Frage, meine Suche gewissermaßen, war also nun: Was ist jenes? Und dann haben wir uns aufgemacht und schließlich das gefunden, was ich die „Vierte Dimension der Gesundheit“ nenne: Neben den objektiven Befunden einer körperlichen, mentalen und sozialen Gesundheit (die drei bisherigen Dimensionen, die man objektiv messen und bestimmen kann) die subjektive vierte Dimension der Gesundheit gibt, eben jene der Bedeutung oder Bedeutsamkeit, schließlich von Verbundenheit: Verbundenheit mit etwas höherem oder einem Sinn, auch Spiritualität, dann die Verbundenheit mit dem Boden, auf dem ich stehe und gehe, mit der Heimat, schließlich mit den Menschen um mich herum. Es geht hier auch um Verwurzelung – ob ich ein Zuhause habe.

Diese Vierte Dimension konnten wir schließlich nicht nur finden und bestimmen, sondern auch den Einfluss auf die Gesundheit und die Lebenszufriedenheit insgesamt abschätzen, schließlich sogenannte „Unglückserkrankungen“ identifizieren, die vor allen Dingen in diesem Bereich der Gesundheit stattfinden – und am besten auch genau hier behandelt werden müssen.

Denken wir an Burnout, an verschiedene Schmerzerkrankungen und weitere – heute ist sehr gut belegt, dass die Ebene der Verbundenheit (oder auch eine Nicht-Verbundenheit) so essenziell für die Gesundheit ist wie etwa das Rauchen. Andersrum gesagt: Menschen, die sich gut verbunden fühlen mit der Welt, mit etwas Höherem oder ihrer Umgebung, die „bezogen auf etwas“ leben, leben deutlich länger, sind weniger krank; sie leben vermeintlich besser.

Diese Suche, diese Reise, all das wollte ich mit dem Buch beschreiben, die Augen öffnen, vielleicht auch meine eigenen: das Zutrauen zu genau dieser Dimension wecken. Dabei habe ich viele Geschichten von Patient:innen erzählt, letztlich aber auch meine eigene. Dieses Buch ist sicherlich mein bisher persönlichstes.

Wie kamen Sie dazu, sich so intensiv mit dem Thema Glück auseinanderzusetzen?

Ich habe festgestellt, sowohl in der Beobachtung als auch in unseren Daten, dass Menschen selbst dann glücklich sein können, wenn objektiv vieles dagegen spricht. Wenn sie älter werden, wenn sie krank sind, wenn das Leben hart ist. Das hat mich fasziniert.

Mich interessieren die Fragen: Wo besteht ein möglicher Zusammenhang zwischen Glück und Gesundheit? Wie gelingt es Menschen, die nicht (mehr) gesund sind, trotzdem glücklich zu sein? Und was können Menschen, die mit dem Glück oder dem Leben hadern, oder eben mit der Gesundheit, von solchen eher zufriedenen oder glücklichen Menschen lernen?

Welche Faktoren haben Ihrer Forschung nach den größten Einfluss auf das persönliche Glücksempfinden eines Menschen?

Wir kennen heute eine ganze Reihe solcher Faktoren. Neben den schon bekannten Aspekten eines gesunden Lebens (wie ausreichend Bewegung, gesunde Ernährung, ausreichend Schlaf usw.) sind es vor allen Dingen auch Fragen der Haltung und der Perspektive, die zählen.

So sind Menschen, die besonders zufrieden sind, oft in der Lage, Dinge, die nicht mehr sind oder die ihre Zeit gehabt haben, loszulassen. Sie sind dankbar. Sie geben gern, auch ohne direkt eine Gegenleistung zu erwarten. Sie haben eine Aufgabe, geben sich einer Sache ganz hin, können aber Dinge, die nicht mehr sind oder die ihren Zweck erfüllt haben (oder die ihnen genommen wurden), schließlich auch loslassen. Sie empfinden sich weniger als Opfer denn als Gestalter.

Und dann ist da die Dimension des Glaubens – Menschen, die besonders glücklich oder zufrieden sind, haben häufig einen expliziten oder impliziten Glauben, eine Spiritualität, darin auch die Frage von Sinnhaftigkeit: Sie finden einen Sinn im Leben, eine Bedeutung. Die Königsdisziplin ist dann zweifellos die Liebe – das Gefühl, verbunden mit anderen Menschen zu sein, ein Zuhause zu haben, einen Ort, an dem man geliebt wird.

Ich spreche hier auch von der kulturellen Dimension der Gesundheit, neben der spirituellen, die ich zusammen als „Bedeutungsdimension“ oder eben „Vierte Dimension“ der Gesundheit neu definiere. Es geht hier generell um die Verbundenheit mit der Welt, dem Boden, auf dem ich stehe, den Menschen um mich herum, aber auch mit etwas vermeintlich „Höherem“.

Gibt es eine Glücksformel, die für alle Menschen gleichermaßen funktioniert?

Das Grundprinzip von Glück und Zufriedenheit, gewissermaßen die universellen Motive, die Dinge, für die wir morgens aufstehen, sind prinzipiell zwischen den Menschen überall gleich. Das liegt darin, dass unsere Biologie, das Belohnungssystem im Gehirn, uns anzeigt, wofür es sich lohnt zu leben.

Lebensgeschichtlich kommen dann später die individuellen Inhalte hinein, die sich sehr von Mensch zu Mensch unterscheiden können, aber das Prinzip bleibt gleich. Wichtig jedoch: Die Motive für Glück und Zufriedenheit ändern sich über die Lebenszeit. Steht etwa in der Jugend eher das ekstatische, lustbetonte Glück im Vordergrund, das Vergnügen, die Vorfreude, so ist es in der mittleren Lebensphase er die Erleichterung, wenn der Druck des Lebens, die Rush Hour oder das Tal der Tränen, wie es manchmal nenne, eine Pause eingelegen.

Und dann gibt es, besonders ausgeprägt in der zweiten Lebenshälfte, ein zunehmendes Gefühl von innerem Frieden. Von Ankommen. Wir nennen es auch Glückseligkeit oder eben Zufriedenheit, wenn man nicht mehr zwingend etwas von außen erwartet oder erkämpfen muss, sondern wenn man das Gefühl hat, genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, eben: angekommen zu sein.

Und so sind es, je nach Phase, unterschiedliche Dinge, die glücklich machen: Von spannenden, abenteuerlichen Projekten, vom Verliebtsein über bewusste Momente, in denen ich eine Auszeit nehme und so vielleicht Erleichterung erlebe, bis hin schließlich zu Meditation, Spiritualität, dem Gefühl von Verbundenheit mit etwas Höherem. Auch ein Gebet kann dazugehören oder ein Erlebnis in der Natur.

Ein verbundener Mensch.

Spielen auch genetische Faktoren eine Rolle bei der Veranlagung für Glück oder Unzufriedenheit?

Die Gene spielen eine Rolle, wie auch die Herkunftsfamilie oder Kultur, in die man hineingeboren wird. Letztlich aber ist die Bedeutung der Gene in der Wissenschaft immer weiter heruntergestuft worden. Heute gehen wir davon aus, dass die Lebenszufriedenheit etwa zu einem Drittel sozusagen an unserer „Werkseinstellung“ oder Grundausstattung liegt. Der Rest scheint gestaltbar.

Kann man Glück trainieren? Wenn ja, wie?

Wie gerade festgestellt, können wir den übergroßen Teil unserer Lebenszufriedenheit tatsächlich trainieren. Mit einem gesundheitsförderlichen Lebensstil, Bewegung, Schlaf, einer gesunden Ernährung, Genuss, auch Meditation und Achtsamkeit können wir unsere Zufriedenheit steigern.

Die Königsdisziplin jedoch ist die Verbundenheit. Wenn wir uns verbunden fühlen mit der Welt, mit den Menschen um uns herum, aber auch mit etwas Höherem, dann empfinden wir Zufriedenheit – wenn wir, wie ich in meinem Buchtitel frage, wissen, wofür wir morgens aufstehen.

Wo fühle ich mich resonant, wo fühle ich mich gesehen, wo fühle ich mich zu Hause, verbunden? Wo fühle ich mich bezogen, was gibt meinem Leben eine tiefere Bedeutung? Diese Aspekte vermitteln am Ende Sinn … und Zufriedenheit. Und diese Dinge dann mehr zu tun, gut ins Leben zu integrieren, sie stärken. Darum geht es.

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