Das autoritäre Geheimnis der Sensibelchen: Die Deutschen werden immer empfindsamer. Ständig vermuten sie, falsch behandelt zu werden. Damit sie niemand verletzt, fordern sie eiserne Schutzmaßnahmen. Wo soll das enden?
Etwas stimmt nicht in der Gesellschaft, etwas ist schief. Je weniger Ungerechtigkeiten es gibt, umso mehr möchten die Menschen über Ungerechtigkeiten klagen. Je seltener jemand wegen seiner Hautfarbe diskriminiert wird, umso größer ist die Aufregung, wenn es doch passiert. Je weniger Sexismus es gegen Frauen gibt, umso mehr wird gegen Sexismus gekämpft.
Bisher hatte es niemand so richtig eingeordnet, dass es der Till Lindemann war, der für den Gesamtverbrauch der sexuellen Nötigung und Beinahevergewaltigung der jungen Frauen von 25 – 45 Jahren der letzten zwanzig Jahre in Gesamtdeutschland alleinverantwortlich war; aber jetzt ist er ja unter Beobachtung und richtet nichts mehr an.
Diese Erkenntnis ist weder strittig, noch neu. In der Soziologie nennen sie es das Tocqueville-Paradoxon, weil der französische Politiker Alexis de Tocqueville schon im 19. Jahrhundert erkannt hat, dass weniger soziale Ungleichheit nur dazu führt, dass mehr über soziale Ungleichheit geklagt wird, weil die verbliebenen Unterschiede stärker auffallen.
Auch bei der Frage, was Gewalt ist, entsteht eine immer größere Empfindsamkeit. Nach 1945 war Gewalt, wenn der eine den anderen verletzt, körperlich. Es gab keine verbale oder emotionale Gewalt, zumindest konnte die Züricher Historikerin Svenja Goltermann keinen Beleg dafür finden, und sie schreibt gerade ein Buch darüber. Es wäre denkbar gewesen, antisemitische Hetze als eine Form von Gewalt zu beschreiben, schließlich war der Holocaust gerade erst passiert. Aber niemand tat das. Das fing erst in den Sechziger- und Siebzigerjahren an.
Auf einmal gab es psychische Gewalt, dann emotionale Gewalt und schließlich sogar epistemologische Gewalt. Das bedeutet: Es wird heute schon als Gewalt verstanden, wenn eitle Männer Frauen die Welt erklären wollen, weil sie damit die Kompetenz der Frauen anzweifeln.
Bei der Arbeiterbewegung gab es kein Opfergefühl
Wo es mehr Täter gibt, gibt es auch mehr Opfer. Das lebendige, unschuldige Opfer ist eine Erfindung unserer Zeit, früher wurden so nur die Toten genannt. Goltermann hat nachgeforscht wie in den Sechzigerjahren in England über Opferentschädigung nachgedacht wurde. Damals bezweifelten die meisten Menschen, dass ein Opfer völlig unschuldig sein kann. Sie unterstellten, dass Menschen eine Mitverantwortung haben, was ihnen passiert. Für heutige Ohren klingt das mitleidlos und dreist. Damals aber wollten Opfer keine Opfer sein, sondern stark und stolz.
Das beobachtet die Gefühlshistorikerin Ute Frevert bei der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Diese Menschen waren unbestreitbar Opfer unmenschlicher Ausbeutung. „Aber das Opfergefühl war nicht da“, sagt Frevert. „Eher ein Gefühl von Stärke: Gemeinsam sind wir stark. Wir schaffen das.“ Auch beim Feminismus der Siebzigerjahre war das so. Die Frauen ließen sich nicht mehr alles gefallen. „Sie waren aggressiv und stark. Und irgendwann auch stolz.“ Dasselbe bei der Homosexuellenbewegung. „Gay Pride“, lautete das Motto. Das war das Gegenteil der Unterstellung, Schwule seien krank und schwach.
Und heute? Der Berliner Historiker Martin Sabrow erinnert sich an ein Reggae-Konzert 2022 in Bern. Damals spielten Weiße mit Dreadlocks jamaikanische Musik. Das Konzert wurde abgebrochen, weil Besucher sich „unwohl“ fühlten. Sie empfanden den Auftritt als kulturelle Aneignung. Sabrow muss schmunzeln, wenn er überlegt, wie Linke früher damit umgegangen wären. 1968 hätten sie einfach die Bühne gestürmt und ein Manifest verlesen. Sie hätten nicht in der Pause der Festivalleitung wehleidig von einem Unwohlsein berichtet. „Wir denken in unserer Gegenwartskultur sehr stark an das leidende Opfer“, sagt Sabrow.
Früher stand der Held im Mittelpunkt. In einer Berliner Illustrierten gab es um 1900 herum eine Umfrage. Die Frage lautete, was das Merkmal des 19. Jahrhunderts gewesen sei. Die Menschen antworteten mit lauter Heldengeschichten, zum Beispiel Robert Koch als Held der Medizin. Später zogen junge Männer als Helden in den Ersten Weltkrieg, die Nazis trieben die Heldenpropaganda auf die Spitze und verübten schrecklichste Verbrechen, weshalb jedes Heldentum unter Verdacht geriet. Statt für Helden baute man heute lieber Denkmäler für Opfer. „Heute muss sich jeder, der etwas durchsetzen will, stärker auf einen universalistischen Opferbegriff beziehen“, sagt Sabrow.
Üblicherweise wird das der politischen Linken unterstellt. Sie werden für ihren Individualismus als „Schneeflocken“ verspottet, weil jede Schneeflocke einzigartig ist und bei der geringsten Berührung zerbricht. In Wahrheit ist der Zeitgeist bei allen angekommen. Goltermann sagt: „Empfindsamkeit kann man nicht nur den Linken zuschreiben“. Auch unter Rechten zeigt man sich gern als wehrloses Opfer und fordert mehr Empathie.
Ist mehr Empathie immer gut?
Vertreter der AfD jammern, wenn ihnen jemand widerspricht, und sagen, es gebe keine Redefreiheit mehr. Sie beklagen überall Ungerechtigkeiten, gestohlene Wahlplakate, zu wenige Einladungen in Talkshows, zu kritische Zeitungsartikel. Als kürzlich ein Abgeordneter angegriffen wurde, zeigte er sich mit zerbeultem Gesicht, was sein gutes Recht war, es war nur nicht das, was man in den Vergangenheit kannte. „Die AfD braucht die Einkleidung in das Opferkleid“, sagt Sabrow. Sie bemitleidet sich ständig selbst, ohne Heldentum. Leute von der NPD hätten das nie gemacht. Auch die Nazis dachten anders. Sie kannten nur das heldische Opfer, sie wollten kein Mitleid.
In Amerika jammern Trumpisten genauso wie die AfD. In der „New York Times“ schrieb kürzlich der Journalist David Brooks über den Opferkult der Trumpisten. „Rechte Opferologen fühlen sich heimgesucht von versteckten Mächten.“ Donald Trump sei Weltrekordhalter darin, zu jammern, „wie unfair die Welt zu ihm ist“. Links oder Rechts: „Offenbar sind wir jetzt alle Opfer“, schrieb Brooks.
Ist das so schlecht? Mehr Empathie tut allen gut, meinte man immer. Wer sich in andere hineinversetzt, verletzt sie nicht. Das war eine Gegenbewegung zur finsteren Vergangenheit, nicht nur zu den Nazis, sondern auch zum Nationalstolz, der Millionen in den Ersten Weltkrieg trieb. Sensibilität kann aber auch in autoritäres Verhalten kippen, wenn sie zu sehr gesteigert wird.
Die Philosophin Svenja Flaßpöhler hat ein Buch mit dem Titel „Sensibel“ geschrieben und beschreibt, dass immer mehr Menschen wie offene Wunden behandelt werden wollen, die man vor Infektionen schützen muss. „Das sensible Selbst ist verletzlich, vulnerabel, und wir müssen zusehen, dass wir alle Zumutungen von ihm fernhalten“, sagt Flaßpöhler. Das geht natürlich nur mit eisernen Regeln. Es dürfen keine falschen Wörter gebraucht und keine falschen Dinge getan werden. Je empfindlicher die Menschen, umso rigoroser muss ihr Schutz durchgesetzt werden. Wörter müssen verboten, Warnhinweise im Fernsehen eingeblendet und Schutzräume angeboten werden.
Der Historiker Sabrow erinnert sich an ein Geschichtsseminar in Berlin über den Mauerbau. Eingeladen war ein Zeitzeuge, der seine Flucht in den Westen schildern sollte. Zur Überraschung aller schilderte der Mann, wie er nach seiner Ankunft in Westdeutschland vergewaltigt wurde. Alle waren schockiert. Doch das Mitleid währte nicht lange, mehrere Studenten beschwerten sich über den Bericht. Sie wollte nicht ohne Vorwarnung einer solchen Erzählung ausgesetzt werden. Sabrow konnte es nicht fassen. „Studierende, die sich in ihrem Studiengang mit dem Holocaust befassen, soll man das nicht zumuten können? Ich könnte schreien.“
Die so weich wirkenden Zeitgenossen können knüppelhart sein. Wer empfindlich ist, ist eben nicht automatisch freundlich. Kälte und Hass seien „nicht das Andere der Sensibilität, sondern die dialektische Kehrseite“, sagt die Philosophin Flaßpöhler.
Schon früher sollte man „richtig“ empfinden
Manchmal wird gefragt, ob die Menschen das ernst meinen mit ihrer Empfindlichkeit. Der Verdacht lautet, dass sie ihre Kränkung nur behaupten, um Macht auszuüben. Es gibt aber keine Antwort darauf. Die Gefühlshistorikerin Frevert sagt: „Die Vorstellung, dass es so etwas gibt wie authentische Gefühle, die wirklich nur mir gehören, wird immer wieder aufgewärmt. Dabei ist sie eine der offensichtlichsten Mythen. Gefühle sind immer ein Kommunikationsmittel. Menschen haben eine gemeinsame Sprache der Gefühle, die sie lernen.“ Wer behauptet, von einem altmodischen Wort verletzt zu sein, simuliert also nicht. Er drückt sich auf die Weise aus, die er gelernt hat.
Ein Psychotherapeut wie Ralph Schliewenz würde Menschen raten, sich nicht zu klein zu machen. „Wenn ich meine eigene Verletzlichkeit kenne, wer ist dann für meinen Schutz verantwortlich. Alle anderen? Ich habe doch eine Verantwortlichkeit für mich selbst“, sagt er. „Wenn Erwachsene meinen, sie seien das kleine Kind, das vor sich selbst geschützt werden muss, dann ist das schon in sich verkehrt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so jemand seine Ziele erreicht.“ Und wenn es nicht belohnt wird, so die Erfahrung von Schliewenz, gewöhnen es sich die Leute auch ganz schnell wieder ab.
Im 18. Jahrhundert gab es schon mal so eine Zeit. Damals gab es ein aufstrebendes Bürgertum, das sich von allem Groben abheben wollte. Die Menschen wollten moralisch sensibel sein. Es galt als republikanische Tugend, sich in Arme hineinzufühlen. In dieser Zeit entstand die Literatur der Empfindsamkeit. In den Romanen ging es nicht nur darum, viel zu fühlen – man sollte „richtig“ fühlen. Oft handelten sie von jungen Mädchen, die von väterlichen Figuren angeleitet wurden, richtig zu empfinden.
Der Literaturwissenschaftlerin Cornelia Zumbusch, die zu politischen Emotionen forscht, kommt das bekannt vor. „Heute heißt es oft: ‚Das darf man nicht mehr sagen.‘ Die Betroffenen sollen sich dann bilden. Sie sollen nachlesen und lernen, was als diskriminierend verstanden werden könnte. Das ist eine Parallele zu den 1760er-Jahren.“
Für die Psyche ist das alles nicht unbedingt gesund. Wer sich als wehrloses Opfer definiert, spricht sich selbst die Handlungsfähigkeit ab. Wer sagt, er sei schutzbedürftig, kann keine Stärke entwickeln, ohne sich zu widersprechen. Der Kommentator Brooks beobachtet die Entstehung „einer unreifen öffentlichen Kultur“. Reife würde nämlich bedeuten, zu verstehen, „dass man sich nicht im Zentrum des Universums befindet“.
Die Philosophin Flaßpöhler findet, dass die Gesellschaft das unnötig verstärkt. „Wenn jemand sagt: ‚Ich bin Opfer, ich kann da nicht hingehen, das halte ich nicht aus.‘ Dann sind wir alle ganz empathisch und prämieren diese Haltung.“ Vor zwei Jahren zum Beispiel gab es bei der Frankfurter Buchmesse einen Eklat.
Die dunkelhäutige Autorin Jasmina Kuhnke weigerte sich, an der Messe teilzunehmen, weil rechtsextreme Verlage dort waren. Sie hatte Hassnachrichten bekommen und wollte ein Zeichen setzen. Dafür bekam sie Beifall und es war ihr Recht, nicht zu kommen. Flaßpöhler aber gefiel das Ergebnis nicht. Kuhnke war weg, die Rechtsextremen waren noch da. „Ich hätte es gut gefunden, wenn Jasmina Kuhnke diese Bühne beschreitet und ihren Gegner zeigt: Ihr wollt mich töten, aber ich stehe hier und ich führe das Wort und ich bestimme den Diskurs in diesem Land mit. Das wäre eine Haltung der Potenz gewesen.“