Die Entdeckung der Spiegelneurone jährt sich 2022 zum 30. Mal. Zeit für einen Blick in den Rückspiegel: Was wissen Forscherinnen und Forscher heute über die berühmten Nervenzellen? Konnten sie die hohen Erwartungen erfüllen, die die beteiligten Wissenschaftler damals an sie stellten?
Sommer 1992 – die Sonne brütet über Parma. Ein Affe wartet in einem Labor des Istituto di Fisiologia Umana darauf, dass die Wissenschaftler aus ihrer Mittagspause zurückkehren. Der verkabelte Makak ist an ein Gerät angeschlossen, welches die Aktivität von Neuronen im motorischen Kortex aufzeichnet und jedes Mal dann ein Surren von sich gibt, wenn er nach Nahrung greift. Langsam trudelt die Gruppe um Giacomo Rizzolatti aus der Kantine ein. Ein Doktorand schleckt noch gemütlich an seinem Eis, bevor es zurück an die Arbeit geht. Als er die Kugel im Sichtfeld des Affen zum Mund führt, geschieht etwas, das die Hirnforschung für immer verändern soll: Der Apparat schlägt an, obwohl sich das Versuchstier nicht regt. Jene Nervenzellen, die eigentlich feuern, wenn der Makak selbst Essen zum Maul führt, reagieren auch bei der bloßen Beobachtung derselben Bewegung! Und die Entdeckung der Spiegelneurone nimmt ihren Lauf.
Eine tolle Geschichte, auf die man im Internet häufig stößt. Leider ist sie nicht wahr. Heute, 30 Jahre, später lacht der inzwischen emeritierte Rizzolatti darüber: »Das ist nichts weiter als ein Mythos, der einmal in der ›New York Times‹ stand und sich von dort weiter verbreitete. Die eigentliche Geschichte ist viel unspektakulärer: Es gab eine Vorrichtung, aus der wir das Essen für die Affen entnahmen. Zu unser aller Überraschung feuerten ihre Nervenzellen auch dann, wenn wir nach einer Belohnung für sie griffen.«
Die »alternative Erzählung« soll aber nicht von der eigentlichen Sensation ablenken. Die Spiegelneurone entwickelten sich zu den Shootingstars der Hirnforschung. Kaum ein Thema erreichte so viel Aufmerksamkeit in der allgemeinen Öffentlichkeit. Wie häufig berichtet schon die »New York Times« über neurowissenschaftliche Grundlagenforschung? Eine regelrechte PR-Kampagne trieb das Interesse der Medien nur noch weiter an. So ließ der Neurologe Vilayanur Ramachandran von der University of California, San Diego, verlauten: »Ich prognostiziere, dass die Spiegelneurone für die Psychologie das sein werden, was die DNA für die Biologie war.«
Doch inzwischen hat das wissenschaftliche Interesse an den berühmten Nervenzellen nachgelassen (siehe »Das Ende eines Hypes?«). Es stellt sich die Frage: Was wissen wir – 30 Jahre nach ihrer Entdeckung – eigentlich über die Spiegelneurone? Sind sie die Alleskönner, für die Medien und viele Forschende sie hielten? Oder ist das Strahlen der ehemals schillernden Stars inzwischen verblasst?
Eigentlich wollten Rizzolatti und sein Team 1992 die so genannten kanonischen Neurone genauer untersuchen. Das sind Nervenzellen, die sowohl beim Greifen nach einem Gegenstand feuern als auch beim bloßen Anblick desselben Objekts. Aber wie wir heute wissen, kam es anders: »In den ersten Jahren nach unserer Entdeckung wiederholten wir die Experimente immer wieder, weil wir Angst hatten, dass es sich dabei nur um einen Messfehler handelte«, so der Neurophysiologe. Doch die folgenden Versuche bestätigten den faszinierenden Zufallsfund: Bestimmte Zellen im motorischen und prämotorischen Kortex entladen sich nicht nur beim Ausführen einer Handlung, sondern ebenso, wenn man dieselbe Bewegung bei anderen nur beobachtet.
2010 fand ein Team um Roy Mukamel, der heute an der Universität Tel Aviv forscht, die begehrten Zellen auch im menschlichen Gehirn – genauer gesagt in Teilen des Motorkortex und im Schläfenlappen. Als Probanden dienten 21 Epilepsiepatienten, denen im Vorfeld eines neurochirurgischen Eingriffs Elektroden ins Hirn implantiert worden waren. So konnten die Wissenschaftler ihre Nervenzellaktivität direkt messen, während die Patienten Handbewegungen entweder selbst ausführten oder nur beobachteten. Dass an solchen »Spiegelungen« auch Teile des Kleinhirns sowie Emotionen verarbeitende Regionen beteiligt sind, stellten australische Forscher um Pascal Mohlenberghs 2012 in einer Übersichtsarbeit fest.
Allerdings basierte ihre Analyse ausschließlich auf MRT-Daten, die nur ein unvollständiges Bild zeichnen. Denn sie erfassen nicht die Aktivität einzelner Neurone, sondern ganzer Zellverbände. So lässt sich mit der Methode nicht genau sagen, ob wirklich dieselben Zellen sowohl bei der Ausübung als auch bei der Beobachtung einer Bewegung feuern. Um diese Ungenauigkeit zu berücksichtigen, spricht man bei Daten aus dem Hirnscanner häufig nicht von Spiegelneuronen, sondern von einem »Spiegelneuronen-System« oder von »Regionen mit Spiegeleigenschaften« (siehe »Das Spiegelsystem im Gehirn«).
Caroline Catmur vom King’s College London, eine Expertin auf dem Gebiet, blickt auf die vergangenen Jahre seit Rizzolattis Entdeckung zurück: »In den letzten drei Jahrzehnten haben Wissenschaftler den Spiegelneuronen eine Menge Funktionen zugesprochen. Aber viele dieser großen Behauptungen lassen sich nicht mehr halten, auch weil Forscher inzwischen vorsichtiger an die Sache herangehen.« Welche sind die »großen Behauptungen«, und wie steht es heute um sie?
1. Dank der Spiegelneurone können wir Handlungen erkennen und nachahmen
Forscherinnen und Forscher sind sich größtenteils darüber einig, dass Spiegelneurone es uns ermöglichen, Handlungen zu erkennen und zu imitieren. Werden Hirnregionen mit Spiegeleigenschaften geschädigt, können die Betroffenen Bewegungen schlechter identifizieren als Menschen ohne solche Verletzungen, wie 2014 ein Team um Cosimo Urgesi von der italienischen Universität Udine in einer studienübergreifenden Analyse von 361 Patienten herausfand. So fällt es ihnen etwa schwerer, menschliche Bewegungsmuster aus sich bewegenden Punkten herauszulesen. Zudem haben Probanden Probleme damit, Fingerbewegungen zu imitieren, wenn ihr Gyrus frontalis inferior durch magnetische Impulse gehemmt wird, wie Marc Heiser 2003 gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern von der University of California, Los Angeles, belegte.
Diese Ergebnisse bestätigte eine Forschungsgruppe um Ellen Binder von der Universität Köln. Sie wies 2017 nach, dass Menschen mit Schäden in Hirnregionen, in denen sich Spiegelneurone befinden, schlechter im Nachahmen von Handlungen sind als Personen ohne Verletzungen in den entsprechenden Bereichen. »Ich glaube, es gibt ausreichend Hinweise darauf, dass Gehirnregionen mit Spiegelneuronen beteiligt sind, wenn wir etwas nachahmen oder Bewegungen erkennen«, sagt Catmur.
2. Spiegelneurone sind die Grundlage für die »Theory of Mind«
Doch diese Zellen hätten wohl kaum ihren Bekanntheitsgrad erreicht, wenn sie ausschließlich mit dem Kopieren von Bewegungen in Verbindung gebracht worden wären. Die Idee, dass im Gehirn Neurone auf die Gebärden anderer reagieren, lädt dazu ein, größer zu denken. Spiegeln sie dann vielleicht auch innere Zustände? Sind sie möglicherweise sogar der Grund, warum wir eine Ahnung davon haben, was in den Köpfen anderer vor sich geht?
Fachleute sprechen bei dieser Fähigkeit von der »Theory of Mind«. Schon 1998 veröffentlichte Vittorio Gallese, der Teil der Entdeckergruppe um Rizzolatti war, zusammen mit dem amerikanischen Philosophen Alvin Goldman einen Aufsatz über die Rolle der Spiegelneurone in der »Theory of Mind«. In den folgenden Jahren versuchten Forschende in Experimenten zu zeigen, dass die Nervenzellen nicht bloß auf fremde Handlungen reagieren, sondern auch die dahinterliegende Absicht des Gegenübers erkennen.
In einer viel beachteten Neurostimulationsstudie von 2014 spielten Kognitionswissenschaftler um John Michael, der mittlerweile an der Central European University in Budapest forscht, Versuchspersonen Videos von Pantomimen vor. Die Probanden sollten aus einer Reihe von Bildern jenes auswählen, welches am besten zu der dargestellten Handbewegung passte (etwa eine Gießkanne). Dafür mussten sie die Handlung richtig erkennen. In einer anderen Bedingung war es zusätzlich wichtig, den Kontext zu beachten, in dem die Handbewegung ausgeführt wurde. So kann eine Geste des Ausgießens im Garten bedeuten, dass man die Pflanzen wässert. Am Essenstisch hingegen schüttet man wohl eher Tee in eine Tasse. Um den korrekten Gegenstand, also entweder Gieß- oder Teekanne, auszuwählen, war es laut den Forschern nicht nur notwendig, die Handlung zu identifizieren, die Versuchspersonen mussten zudem die dahinterliegende Absicht richtig deuten können.
Als das Team den prämotorischen Kortex der Teilnehmenden mit magnetischen Signalen hemmte, schnitten diese in beiden Aufgaben schlechter ab. Für Catmur ist das Experiment kein Beweis dafür, dass Spiegelneurone mentale Zustände wie eine Handlungsabsicht codieren. Die Ergebnisse ließen sich erklären, wenn die Nervenzellen bloß auf die rein äußerliche Handlung ansprechen. Michael stimmt der Kritik zu: »Das ist möglich. Das Experiment veranschaulicht aber auch, dass das Erkennen von Bewegungen durchaus Teil des Verstehens von Absichten sein kann.«
Eine andere Herangehensweise wählten 2014 Robert Spunt und Ralph Adolphs vom California Institute of Technology. Um die Identifikation von Bewegungen und das Verstehen der Absicht dahinter zu entkoppeln, sollten ihre Probanden entweder angeben, wie andere Personen eine bestimmte Handlung durchführen (»Hebt die Person jemanden hoch?«) oder warum sie sie ausüben (»Hilft die Person jemandem?«). Die Forscher verwendeten für beide Fragen dasselbe Foto. Wenn sie also Unterschiede zwischen beiden Bedingungen beobachteten, konnten sie sicher sein, dass diese nicht auf einer unterschiedlichen Verarbeitung der Bilder beruhten. Die Hirnregionen mit Spiegelneuronen zeigten in der »Wie«-Bedingung stärkere Aktivitäten. Während der »Warum«-Aufgabe feuerten hingegen vor allem Nervenzellen in Bereichen der präfrontalen Hirnrinde, die Neurowissenschaftler auch schon vorher mit Theory-of-Mind-Prozessen assoziiert hatten. Der Befund spricht somit gegen die Beteiligung der Spiegelneurone an der Theory of Mind.
»Spiegelneurone helfen uns dabei, herauszufinden, was eine andere Person gerade macht, aber nicht, warum sie das tut« Caroline Catmur, Psychologin
Im Unterschied zu Spunt und Adolphs hatte John Michael die Hirnaktivität der Teilnehmenden direkt mittels Magnetimpulsen beeinflusst. Solche »disruptiven« Studien sind im Allgemeinen überzeugender, weil man damit zeigen kann, dass eine Region wirklich notwendig und nicht einfach nur während einer Aufgabe aktiv ist. Dennoch findet die britische Psychologin Catmur: »Die Forschung der letzten Jahre zeigt, dass Spiegelneurone uns dabei helfen, herauszufinden, was eine andere Person gerade macht, aber nicht, warum sie das tut.« Allerdings gibt Michael zu bedenken: »Vieles hängt auch davon ab, was das bedeutet: Absichten zu verstehen. Darüber gibt es bis heute keinen klaren Konsens.«
3. Spiegelneurone sind die Wiege unserer Sprache
1998 stellten Rizzolatti und der englische Neurowissenschaftler und Informatiker Michael Arbib die These auf, die menschliche Sprache sei vor allem durch das Zutun von Spiegelneuronen entstanden. Der Gedanke ist naheliegend: Die italienische Forschergruppe entdeckte die Nervenzellen erstmals in der Area F5 im Motorkortex der Affen. Beim Menschen heißt diese Region »Broca-Areal« und bildet eine der Hauptkomponenten des Sprachnetzwerks. Zudem entladen sich die Neurone, wenn man etwa die Arme bewegt oder anderen dabei zuschaut; da erscheint es durchaus plausibel, dass sie für die Kommunikation über Gesten wichtig sind. Von dort ist es zumindest theoretisch kein weiter Weg zur Entstehung von Sprache.
Ein Team um Stephen Wilson von der Vanderbilt University in Nashville untermauerte diese Theorie 2004 mit Daten aus dem Hirnscanner. Im MRT sollten Versuchspersonen einzelnen Silben entweder lauschen oder sie nachsprechen. In beiden Bedingungen wurden Teile der motorischen Hirnrinde mit Spiegeleigenschaften aktiv. Verstehen wir also Sprache, indem Spiegelneurone im Motorkortex die Laute unseres Gegenübers nachahmen? Es gibt zahlreiche Befunde, die gegen diese Vermutung sprechen. Schon 1978 fand eine Arbeitsgruppe um Jay Mohr, der heute an der Columbia University in New York forscht, heraus: Menschen, die auf Grund von Schädigungen im Broca-Areal nicht richtig sprechen können, sind trotzdem in der Lage, Wörter und Sätze genau zu verstehen.
»Es ist hilfreich, zwischen Sprechakten und Sprache zu unterscheiden«, sagt Catmur. »Sprache ist sehr vielseitig, man kann auch über Gebärdensprache oder Schriftwechsel miteinander kommunizieren, dafür sind verbale Laute überhaupt nicht notwendig.« Trotzdem glaubt sie, dass Spiegelneurone eine Funktion beim Verstehen von Sprechakten übernehmen. Neueren Studien zufolge könnten sie vor allem dann wichtig sein, wenn etwas schwer zu verstehen ist, zum Beispiel bei verzerrten Lauten oder in störenden Geräuschkulissen: »Wir alle wissen mittlerweile, dass es schwerer ist, jemanden zu verstehen, der eine Schutzmaske trägt. Das liegt zum einen daran, dass unsere Stimmen dumpfer werden, und zum anderen daran, dass uns visuelle Reize fehlen, die unser motorisches System sonst nutzt.«
Für diese Theorie sprechen auch die Ergebnisse der Neurowissenschaftlerin Helen Nuttall. 2018 untersuchte sie mit Kollegen und Kolleginnen vom University College London, wie sich die Stimulation des motorischen Kortex auf das Sprachverständnis auswirkt. Mittels magnetischer Impulse hemmten sie bei Freiwilligen jeweils 20 Sekunden lang die Regionen mit Spiegeleigenschaften. Anschließend brauchten die Versuchspersonen länger, verzerrte Silben zu verstehen. Waren die Silben nicht verzerrt, unterschied sich die Reaktionszeit hingegen nicht. Catmur vermutet, dass das Gehirn in solchen Fällen das eigene Motorsystem ansteuert, um eine Prognose über das gerade Vernommene zu treffen, und diese mit den gehörten Lauten abgleicht. Selbst wenn Spiegelneurone wohl wichtig sind, wenn wir miteinander kommunizieren, unerlässlich seien sie nicht. »Die große Behauptung, dass Spiegelneurone für die Entstehung unserer Sprache verantwortlich sind, wurde mit den Jahren schrittweise kleiner«, sagt Catmur.
4. Spiegelneurone machen uns empathisch
»Der eigentlich große und interessante Schritt war unsere Entdeckung, dass der Spiegelmechanismus nicht nur bei Handlungen, sondern auch bei Emotionen wirkt«, schwärmt Rizzolatti. Zahlreiche Studien belegen: Es gibt Nervenzellen im menschlichen Gehirn, die sowohl beim Beobachten wie beim Erleben desselben Gefühls aktiv sind. Fausto Caruana aus Rizzolattis Forschungsgruppe bestätigte das 2020 erneut. Zusammen mit Neurochirurgen aus Mailand untersuchte er Zellen im zingulären Kortex. Diese Region liegt auf dem Balken, der beide Hemisphären miteinander verbindet und nicht zu den klassischen Spiegelregionen gehört.
Als das Forschungsteam einzelne Neurone von Epilepsiepatienten stimulierte, fingen diese plötzlich an zu lachen. Die Zellen feuerten auch dann, wenn Caruana den Probanden Videoaufnahmen von lachenden Menschen vorspielte – sie spiegelten somit die Freude der anderen. »Das ist extrem interessant, weil es uns zeigt, wie Empathie entsteht«, sagt Rizzolatti. »Nämlich, wenn sich die Gefühlszustände von zwei Menschen einander angleichen.«
Doch machen uns Spiegelneurone empathisch, bloß weil sie die Emotionen unserer Mitmenschen nachzeichnen? Catmur ist skeptisch: »Es kommt ganz darauf an, was man unter Empathie versteht. Heißt das einfach nur, Qualen zu leiden, wenn man jemanden sieht, der sich vor Schmerzen krümmt? Oder braucht es auch eine mitfühlende Antwort? Dann wäre es etwa empathisch, dem leidenden Menschen zu helfen.«
Soukayna Bekkali und andere Wissenschaftler der Deakin University in Melbourne sehen das ähnlich. Laut ihrer Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2021 setzen Forscher in den meisten Studien zu dem Thema ein zu einfaches Empathieverständnis voraus. Das australische Team argumentiert, Empathie gehe über das bloße Imitieren von emotionalen Verhaltensweisen hinaus. Womöglich sind die Neurone im zingulären Kortex tatsächlich wichtig für die Entstehung von Empathie. Pauschale Behauptungen wie »Spiegelneurone machen uns empathisch« sind jedoch zu vereinfachend und vernachlässigen, dass etwas so Komplexes wie Mitgefühl durch das Zusammenspiel mehrerer Hirnregionen entsteht. Insgesamt sei die Studienlage aber zu dünn, um ein abschließendes Urteil zu fällen.
5. Ein »zerbrochener Spiegel« ist die Ursache von Autismus
Viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind der Meinung, Spiegelneurone seien vor allem bei sozialen Interaktionen gefragt. Daher rührt auch die Hypothese des »zerbrochenen Spiegels« von Lindsay Oberman und Vilayanur Ramachandran. Nach deren Einschätzung ist das »Spiegelsystem« von Autisten gestört, was erklären soll, warum sie gerade in zwischenmenschlichen Situationen Schwierigkeiten haben.
Zwar gibt es Hinweise darauf, dass Menschen mit Autismus Handlungen schlechter imitieren können. Jedoch stellte Antonia Hamilton vom University College London 2013 in einer Begutachtung von 25 neurowissenschaftlichen Studien fest, dass es vor allem sozial komplexere Handlungen sind, die Autisten nicht so gut nachahmen können. Wenn es zum Beispiel um einfache Handbewegungen geht, die nicht emotional behaftet sind, imitieren Autisten diese mindestens genauso gut wie neurotypische Menschen. Manche Hirnregionen mit Spiegelneuronen sind dabei sogar stärker aktiv als bei Nichtautisten. Zu dem Ergebnis kamen die australischen Forscherinnen Jie Yang und Jessica Hofmann 2016 ebenfalls in einer Übersichtsarbeit.
»Autisten wissen nicht immer, wann sie etwas imitieren oder was sie nachahmen sollen. Doch dafür sind weniger defekte Spiegelneurone verantwortlich als vielmehr Entscheidungssysteme im präfrontalen Kortex«, sagt Hamilton. Die Psychologin schreibt dem Spiegelsystem eine spezifischere Aufgabe zu: »Es ermöglicht Menschen, die Handlungen anderer zu sehen, auf diese Handlungen zu reagieren und sie zu imitieren. Aber eben nur durch die Zusammenarbeit mit anderen Gehirnsystemen wie dem präfrontalen Kortex.
Blick in den Rückspiegel
2021 veröffentlichte Caroline Catmur gemeinsam mit Cecilia Heyes von der University of Oxford ein Resümee über das in den letzten 30 Jahren gesammelte Wissen zu den Spiegelneuronen. Das Fazit der britischen Expertinnen klingt ernüchternd: Die geheimnisumwitterten Nervenzellen können uns demnach dabei helfen, zu verstehen, wie wir Bewegungen erkennen und imitieren. Außerdem trügen sie zu bestimmten Aspekten des Sprachverständnisses bei. Zu ihrer Rolle bei der Entstehung von Empathie und der Theory of Mind äußern sich die Forscherinnen eher verhalten.
Warum diskutieren Fachleute nach Jahrzehnten Forschung immer noch so kontrovers über die Rolle der Spiegelneurone? Vielleicht liegt ein Problem gerade in der sehr eingängigen Bezeichnung: »Allein der Name suggeriert schon eine bestimmte Sichtweise auf die Funktion von Spiegelneuronen«, sagt John Michael, dessen Pantomimenstudie oft als ein Beweis dafür herangezogen wird, dass die Zellen die Theory of Mind ermöglichen. Catmur ergänzt: »Selbst, wenn jemand noch nie etwas über die Forschung gehört hat, wird er wahrscheinlich denken, Spiegelneurone hätten etwas mit Empathie zu tun. Und ich glaube, das ist ein Problem.«
Zudem verschwamm in der anfänglichen Studienflut immer mehr, welche Nervenzellen nun eigentlich mit Spiegelneuronen gemeint sind. Für Catmur sind das ausschließlich die ursprünglich in den motorischen Bereichen des Gehirns entdeckten Neurone. Allerdings fand man ähnliche Eigenschaften auch in anderen Regionen. Etwa die Zellen im zingulären Kortex, deren Stimulation unfreiwilliges Lachen auslöst. Deshalb spricht Rizzolatti von einem »Spiegel-Mechanismus«. Solche Uneinigkeiten führten laut Michael dazu, dass das Forschungsinteresse abnahm: »Die Debatte wurde unproduktiv, weil sich Menschen auf allen Seiten nicht verstanden. Anstatt Energie für terminologische Streitereien zu verschwenden, verwendeten die Forscher kurzerhand lieber andere Begriffe oder sprechen nur von ›motorischen Neuronen‹.«
Diese Einschätzung erweckt den Eindruck, die Spiegelneurone seien zum Opfer ihres eigenen Ruhms geworden. Doch selbst da sind sich die Experten nicht einig. »Wir erleben gerade eine regelrechte Renaissance des Spiegelsystems in der Neurologie«, entgegnet Rizzolatti. Er ist davon überzeugt, dass Spiegelneurone auch in der Rehabilitation eine besondere Rolle spielen. 2021 widmete er sich in einem Fachartikel dem »action observation treatment«, also der Behandlung von Bewegungseinschränkungen durch die reine Beobachtung ebendieser Abläufe. Es wird somit nicht langweilig um die vermutlich bekanntesten Nervenzellen. Und wir fragen uns weiter: »Spieglein, Spieglein nah der Stirn, was macht ihr bloß in meinem Gehirn?«