Wir alle sind herrlich verrückt oder, um es vorsichtiger auszudrücken: auf faszinierende Weise unausgeglichen. Unsere Kindheit lässt uns keine andere Wahl – selbst wenn sie scheinbar glimpflich verlief.
Aufgrund dieser Kindheit neigen wir uns – wie eine Segelboot bei starkem Wind – bei den meisten Themen zu sehr in die eine oder andere Richtung. Wir sind zu schüchtern oder zu selbstbewusst, zu starr oder zu nachgiebig, zu sehr auf materiellen Erfolg fixiert oder zu lethargisch. Wir sind zwanghaft sexbesessen oder misstrauen unseren eigenen erotischen Impulsen zutiefst. Wir sind naiv-verträumt oder bitter und bodenständig; wir schrecken furchtsam vor Risiken zurück oder gehen sie leichtsinnig ein; wir werden erwachsen mit dem festen Vorhaben, uns niemals auf jemand anderen zu verlassen, oder wir suchen verzweifelt nach einem anderen Menschen, der uns vervollständigt; wir sind total vergeistigt oder völlig gleichgültig gegenüber Gedanken und Ideen.
Die Liste emotionaler Disbalancen ist endlos. Aber die Unausgewogenheit hat einen hohen Preis. Denn sie hindert uns daran, unsere Talente und Möglichkeiten zu nutzen, ein befriedigendes Leben zu führen und jemand zu sein, mit dem man Spaß hat …
Wir halten unsere Eigenschaften für angeboren und denken: „So sind wir nun mal!“
Weil wir uns nur ungern mit unserer emotionalen Vergangenheit beschäftigen, glauben wir, dies niemals ändern zu können. Wir halten unsere Eigenschaften für angeboren und denken: „So sind wir nun mal!“ Wir sind einfach Menschen, die sich im Mikromanagement verlieren oder dem Sex wenig abgewinnen können; wir werden laut, wenn uns jemand widerspricht und laufen vor Liebhaber*innen weg, die zu nett zu uns sind. Mit all dem zu leben ist zwar nicht leicht. Aber es lässt sich, wie wir vermuten, weder erforschen noch ändern.
Die Wahrheit stimmt hoffnungsvoller, fordert uns aber erstmal heraus. Unsere Überzogenheit ist nämlich immer eine Reaktion auf etwas, das in der Vergangenheit geschehen ist. Wir sind so, wie wir sind, weil wir vor Jahren so sehr verwundet wurden, dass es uns aus der – besseren – Bahn warf.
Vor unserem wettbewerbsorientierten Elternteil flüchteten wir uns in Leistungsschwäche. Weil sich Mutter oder Vater vor allem Körperlichen ekelte, wurde Sex zu etwas Beängstigenden. Weil wir in materieller Unsicherheit aufwuchsen, bemühen wir uns heute um Geld und soziales Prestige. Verletzt von einem abweisenden Elternteil, verfielen wir in das Muster emotionaler Vermeidung. Die Launenhaftigkeit von Mutter oder Vater bewog uns dazu, sanftmütig zu sein und wenig Aufhebens von uns zu machen. Frühe Überfürsorglichkeit führte zu Schüchternheit und – manchmal – zu Panikattacken. Ein ständig beschäftigter, unaufmerksamer Elternteil zwang uns zu dem zermürbenden, aufmerksamkeitsheischenden Verhalten, das wir noch heute an den Tag legen.
Alles folgt einer Logik, immer findet sich eine Geschichte.
Wir mussten als Kinder mit etwas zurechtkommen, das die Fähigkeiten, die wir als junge Menschen besaßen, völlig überstieg.
Dass unser Ungleichgewicht aus der Vergangenheit stammen, erkennen wir auch daran, dass es die Instinkte und Denkweisen der Kinder widerspiegelt, die wir einst waren. Es soll nicht abwertend klingen, aber unsere Unausgeglichenheit tendiert zu einer grundlegenden Unreife und trägt die Spuren eines Versuchs, mit etwas zurecht zu kommen, das die Fähigkeiten, die wir als junge Menschen besaßen, völlig überstieg.
Leiden Kinder unter einem Erwachsenen, glauben sie fast immer, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimmt. Werden sie von jemandem gedemütigt, ignoriert oder verletzt, muss es – wie sie vermuten – daran liegen, dass sie dumm, abstoßend und überflüssig sind. Es kann viele Jahre geduldiger Selbsterforschung erfordern, zu der zunächst weniger plausiblen Schlussfolgerung zu gelangen, dass die Verletzung völlig unverdient war und im Inneren des herumwütenden Erwachsenen eine Menge Dinge vor sich gingen, für die das Kind keinerlei Schuld trifft.
Da Kinder eine Situation, in der sie gekränkt werden, nicht einfach verlassen können, fallen sie dem grenzenlosen, mächtigen Verlangen zum Opfer, die kaputte Person, von der sie so abhängig sind, zu „reparieren“. In der kindlichen Phantasie ist es ihre Aufgabe, die Wut, die Sucht oder die Traurigkeit des Erwachsenen, den sie anbeten, zu heilen. Es kann Jahrzehnte dauern, bis man die Reife und Kraft entwickelt, diejenigen, die man nicht ändern kann, zu bedauern, statt sich bis in alle Ewigkeit für sie verantwortlich zu fühlen.
Dieses Vermächtnis aus der Kindheit belastet unsere Kommunikationsmuster. Selbst wenn etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist, bleibt Kindern die Ursache verborgen. Es fehlt ihnen an Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und verbalem Geschick, ihre Argumente mit der nötigen Ruhe und Autorität vorzubringen. Stattdessen neigen sie zu dramatischen Überreaktionen. Sie beharren auf etwas, nörgeln, schreien oder explodieren. Vielleicht greifen sie auch zu übertriebenen Unterreaktionen wie Schmollen, mürrischem Schweigen und Vermeiden. Oft gelingt es erst im mittleren Alter, den spontanen Impuls zu kämpfen oder zu fliehen, wenn jemand unsere Bedürfnisse missversteht, abzulegen und stattdessen geduldig zu versuchen, sie zu erklären.
Einzelne konkrete Ereignisse formen später unsere Erwartungen an alle Menschen und das Leben im Allgemeinen
Darüber hinaus führen die emotionalen Wunden der Kindheit häufig zu groben Verallgemeinerungen. Unsere Wunden wurden uns zwar in einer ganz konkreten Situation zugefügt, etwa von einem Erwachsenen, der spät nachts in einem Reihenhaus am Stadtrand auf seinen Partner einschlug. Oder von einem Elternteil, das nach dem Verlust des Arbeitsplatzes in der Fabrik zwei Straßen weiter für sein Kind nur noch Verachtung übrig hatte. Aber diese klar umrissenen Ereignisse formen seither die Erwartungen an andere Menschen und das Leben im Allgemeinen. Darum gehen wir davon aus, dass alle Menschen zu Gewalt neigen, unser Partner sich jederzeit gegen uns wenden und ein Geldproblem eine Katastrophe auslösen kann. Die Denkweisen und Charaktereigenschaften, die sich als Reaktion auf ein oder zwei bedeutsame Akteure der Kindheit herausgebildet haben, sind Schablonen für die Interpretation von allem und jedem. So wird zum Beispiel die stets scherzhafte und leicht manische Art, die wir entwickelt haben, um eine depressive, lustlose Mutter bei Laune zu halten, zu unserer zweiten Natur. Selbst wenn sie schon lange nicht mehr lebt, bleiben wir Menschen, die bei jedem Treffen glänzen wollen. Wir brauchen einen Partner, der sich ständig auf uns konzentriert und können keinerlei negatives oder entmutigendes Feedback ertragen.
In ähnlicher Weise überdauert das Bedürfnis aus der Kindheit, zwei unglückliche, streitende Eltern zu beschwichtigen. Es kann sein, dass wir noch Jahrzehnte später den starken Wunsch verspüren, niemals zu stören und jeder Konfrontation aus dem Weg zu gehen, obwohl die Ursache unserer Zurückhaltung längst verschwunden ist und die Vermeidung einen hohen Preis hat.
So verengen die Dramen der Vergangenheit die weithin offene Gegenwart. Wir leiden, weil wir unseren schwierigen Anfangsjahren zu sehr die Treue halten. Das hat einen hohen Preis. Wir sollten es wagen, die Heimat zu verlassen, wann immer wir können.
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