Warum die Liebe auf den ersten Blick völlig überschätzt wird

Elke Naters und Sven Lager waren mehr als 25 Jahre ein Paar. Sie haben Romane und Sachbücher geschrieben und auf drei verschiedenen Kontinenten ihre beiden Kinder großgezogen. Sie haben in Berlin gewohnt und Paare in ihrer School of Love Berlin beraten. Sven Lager ist Mitte April 2021 plötzlich verstorben, nun führt seine Frau die Kolumne und die Paarberatungen alleine weiter.

Viele glauben, eine Beziehung müsse mit Herzklopfen und feuchten Händen beginnen. Doch die Wahrheit ist: Lang anhaltende Anziehung schlägt nicht ein wie eine Bombe, sondern wächst mit der Zeit. Ein Plädoyer für wahre Liebe.

Die Anziehung ist ein intelligentes System, das sich nicht täuscht und uns immer das gibt, was wir suchen. Auch wenn das Ergebnis manchmal nicht übereinstimmt mit dem, was wir uns wünschen. Das Problem ist, dass wir nicht dahinter sehen und verstehen, was vor sich geht. Der amerikanische Psychologe Ken Page hat eine Erklärung dafür gefunden, warum wir uns zu Menschen hingezogen fühlen, die uns schwach und verunsichert fühlen lassen. Und warum das eine große Anziehungskraft auf uns ausüben kann.

Er unterscheidet zwei Formen von Anziehung, die wir alle spüren: Anziehung durch „Inspiration“ und „Deprivation“. Deprivation ist das Gegenteil von Inspiration. Entbehrung oder der Entzug von Liebe und Anerkennung. Nimmt man einen Ball als Beispiel, wäre Inspiration die Luft, die ihn zum Schweben bringt, und Deprivation die Luft, die man herauslässt.

Beides hat das Potenzial, eine tiefe Bindung hervorzurufen. Je nach Prägung kann sich jemand mehr zu Menschen hingezogen fühlen, die ein Gefühl der Unsicherheit und Kleinheit auslösen. Diese Anziehung ist nicht zu unterschätzen. Allerdings wissen wir wahrscheinlich alle, dass nur eine dieser beiden Arten von Anziehung zu einer glücklichen und erfüllenden Partnerschaft führen kann.

Wenn ich Paare frage, was sie aneinander angezogen hat, erzählen sie mir meist von Äußerlichkeiten und wie sie sich in der Anwesenheit des anderen gefühlt haben. Es ist wichtig, auf diese Gefühle zu achten und sie ernstzunehmen, wenn man sich kennenlernt. Als ich meinen Mann kennenlernte, war das ganz anders als zuvor. Keine Aufregung, keine feuchten Hände und kein Herzklopfen. Kein „mag er mich?“, „findet er mich anziehend?“, „wird er mich anrufen?“. Stattdessen ein tiefes Gefühl der Ruhe und Sicherheit. Keine flatternde Unsicherheit, sondern ein Gefühl des Angenommen- und Angekommenseins.

Ich kannte Verliebtsein anders. Ich hatte Jahre mit einem Mann verbracht, von dem ich nie genug bekam. Das übte eine starke Anziehung aus, weil ich immer hungrig nach mehr Liebe, Zuwendung und Aufmerksamkeit blieb. Wenn man immer zu wenig zu essen bekommt und der Bauch knurrt, kann man an nichts anderes als an Essen denken. Wenn ich mich dann gelegentlich „satt essen“ konnte, sehnte ich mich nach diesem Zustand zurück. Ich wusste, was möglich war, bekam es aber nur gelegentlich zu spüren. Ich hielt dieses Sehnen für Liebe und war in Wirklichkeit nur ausgehungert.

Da mein Bedürfnis nach mehr Nähe nicht erwidert wurde, dachte ich, mit mir sei was falsch, weil ich zu bedürftig bin. Dabei war ich einfach nur an einen Mann geraten, der damit nicht umgehen konnte und sich dann in eine Frau verliebte, die ihn auf Abstand hielt. Im Grunde tat er das Gleiche wie ich. Er nahm meine Rolle in seiner neuen Beziehung ein. Das funktionierte nicht besser. Mit meinem Mann war Nähe kein Thema. Er wusste sie zu schätzen und suchte sie ebenso.

Eine junge Frau klagte mir ihr Leid, dass sie sich nach einem liebevollen und verlässlichen Partner sehnte, mit dem sie eine Familie gründen kann. Männer, die an ihr interessiert sind, gibt es genug, auch Männer, die liebevoll und verlässlich sind, aber sie fühlt sich zu diesen nur milde hingezogen und entscheidet sich dann doch immer wieder für die bad boys, die sie vernachlässigen und betrügen.

Sie besteht darauf, dass die Aufregung, die Anziehung, die sie bei diesen Männern verspürt, das Gefühl sein muss, das eine große Liebe ankündigt, und deshalb will sie sich nicht auf weniger einlassen. Was für ein Irrtum. Eine Freundin sagte einmal, es gehöre wahre Größe dazu, sich lieben zu lassen und diese Liebe wertzuschätzen. Ich weiß inzwischen, was sie damit meint.

Eine lang anhaltende Anziehung schlägt nicht ein wie eine Bombe, sondern wächst langsam, wenn man sie stetig nährt. Ken Page behauptet, dass 90 Prozent der Menschen, die auf uns anziehend wirken, nicht die Qualität der Inspiration besitzen und wir deshalb nicht unsere Zeit damit verschwenden sollten. Er glaubt, was zu langfristig guten Beziehungen führt, ist nicht „love“, sondern „like“ auf den zweiten Blick und daraus kann eine tiefe und nährende Liebe wachsen.

Der Psychologe David Buss hat eine ausgiebige Studie betrieben, was für Menschen die wichtigsten Eigenschaften sind, die sie in einem Liebespartner suchen. Attraktivität spielt natürlich eine Rolle, aber in der Suche nach einem Lebenspartner ist sie weit überschätzt. Studien beweisen, dass Menschen, die ausgesprochen attraktiv sind, nicht erfolgreicher darin sind, langjährige gute Beziehungen zu führen.

David Buss – Warum Frauen Sex haben: Rache, Karriere, Lust & Langeweile: Die 237 Motive für weiblichen Sex.

Die Ergebnisse der größten Untersuchung weiblichen Sexualverhaltens aller Zeiten. „Ich hatte Sex mit Männern, um zu sehen, ob es mit ihnen Spaß macht”, sagt Mary, 24, „dann wußte ich, ob es sich lohnt, mit ihnen weiter auszugehen.” Liz, 19, erzählt: „Wann immer mich ein Junge verletzt, der mir am Herzen liegt, lande ich mit einem anderen im Bett. Das hilft über den Schmerz hinweg.” Und Amy, 25, berichtet: „Manchmal machst du deinen Mann glücklich, weil du genau weißt, daß er dir dafür einen Gefallen tun wird. Etwa beim Putzen helfen …” Sex als Mittel des Partner-Castings, zur Enttäuschungsbewältigung oder als Belohnung für den Hausputz: Das sind nur drei Beispiele aus rund tausend Erklärungen von Frauen, warum sie Sex haben. Selbst Amor, Gott der Liebe, dürfte bei der Lektüre von Warum Frauen Sex haben einige Überraschungen erleben.

Der amerikanische Soziologe Davis Buss wertet in „Evolution des Begehrens“ Ergebnisse von breit angelegten interkulturellen Forschungen und Befunden aus der Tierwelt aus. Mit seinen Erkenntnissen über evolutionsbedingte Grundlagen von Partnerwahl, Partnersuche, Paarverhalten, „Geschlechterkampf“, Trennung und Scheidung weist er nach, dass menschliches Sexualverhalten und Paarungsmechanismen der heutigen Zeit nichts anderes sind als „lebende Fossilien, die uns zeigen, wie wir sind und woher wir kommen“. Ein Buch für alle, die schon immer wissen wollten, was sie eigentlich zu ihrem Partner/in treibt, ebenso desillusionierend bezüglich romantischer Liebesvorstellungen wie partiell erheiternd und dazu angetan, eigenes Verhalten mit den beschriebenen Anachronismen zu vergleichen – im Interesse der weiteren Evolution . . .

Je mehr wir verstehen, auf welche Qualitäten wir in einem Menschen achten und im Umgang miteinander entwickeln müssen, desto erfolgreicher ist die Beziehung. „Kindness“ steht laut dem Psychologen Arthur Aron dabei an erster Stelle. Nicht Attraktivität und Erfolg, sondern Liebenswürdigkeit und Verständnis. Daraus kann eine große, verlässliche Liebe wachsen. Wir alle wollen gehört und gesehen und dafür geliebt werden, wie wir sind, in all unseren Facetten.

Als ich meinen Mann kennenlernte, dachte ich mir immer wieder und sagte es ihm auch: „Du bist einfach zu nett.“ Es fiel mir anfangs nicht leicht, ihn richtig einzuordnen, aber ich empfand seine Liebenswürdigkeit von Anfang an auch als seine größte Qualität. Das wollte er nicht hören, denn kein Mann will „nett“ genannt werden. Vielleicht liegt darin das Problem.

Das englische „kind“ trifft es sehr viel besser. Darin liegt eine liebevolle Güte, Herzlichkeit und Freundlichkeit, die weit über „nett“ hinausgeht.

So sehr ich seine „Nettigkeit“ schätzte, verunsicherte sie mich gleichzeitig, weil ich so wie die junge Frau konditioniert war, emotionale Entbehrung als anziehend zu empfinden. Es liegt vielleicht auch an uns Deutschen, dass wir ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber „übermäßiger“ Freundlichkeit haben. Was das bedeutet, las ich in einem Reiseführer als Tipp für Deutsche im Ausland: Verhalten sie sich so freundlich, dass sie Angst haben, für verrückt gehalten zu werden. Dann haben sie die unterste Stufe an Freundlichkeit erreicht. Freundlichkeit ist ganz klar unterschätzt in Deutschland.

„Kindness“ ist immer angebracht. Auch oder gerade dann, wenn man in einen Konflikt gerät. Das bedeutet nicht, dass man rumsäuselt, obwohl man fast vor Wut platzt, sondern dass man grundsätzlich liebevoll und gütig über den anderen denkt und ihm keine hässlichen und beleidigenden Dinge sagt, wenn man sich über ihn ärgert. Es sollte eine Übereinkunft über diesen Umgang miteinander geben. In allen Lebenslagen. Wenn dieser Weg nicht verlassen wird, kann man auch über alles reden. Und wenn man sich in allem gehört und angenommen fühlt, sind die meisten Probleme, die ein Paar miteinander hat, auch schon so gut wie gelöst. Denn darum geht es in den meisten Auseinandersetzungen: gehört, verstanden und mit Liebe angenommen zu werden.

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