1) Anteilnahme
Wer wissen will, was Liebe ausmacht und warum sie so viel mit dem Sinn des Lebens zu tun hat, sollte sich mit der Einsamkeit beschäftigen. Allzu oft hüllen wir uns beim Thema Einsamkeit in Schweigen: Wer niemanden hat, schämt sich; wer jemanden hat, empfindet Mitleid. Dabei ist es alles andere als peinlich, an Einsamkeit zu leiden. Einsamkeit betrifft uns alle. Darum gibt es keinen Grund, sich noch einsamer zu fühlen, als man ohnehin schon ist.
Ganz nebenbei versorgt uns Einsamkeit mit tiefen Einsichten darüber, warum Liebe so unverzichtbar ist. Kaum jemand versteht mehr von der Liebe als ein Mensch, der niemanden hat, den er lieben kann. Es ist schwierig, das ganze Getue um Liebe nachzuvollziehen, wenn man noch nie völlig auf sich allein gestellt war.
Sind wir allein, bemühen sich andere Menschen oft, freundlich zu uns zu sein; Einladungen werden ausgesprochen, rührende Angebote gemacht. Aber der Eindruck, dass Interesse und Zuwendung an Bedingungen geknüpft sind, lässt sich nicht vertreiben. Selbst beste Freunde stehen nur zeitweise zur Verfügung. Die Forderungen, die wir an sie stellen dürfen, sind begrenzt. Oft ist es zu spät – oder zu früh -, sie anzurufen. In unseren düstersten Momenten fürchten wir, von der Erde verschluckt zu werden, ohne dass es jemand merkt.
Der Preis, den wir für Geselligkeit zahlen, ist, unser wahres Selbst auf ein bekömmliches Format zurechtzustutzen.
Wir können auch nicht alles sagen, was uns durch den Kopf geht. Das Allermeiste ist zu belanglos oder heftig, zu beliebig oder angstbesetzt, um für andere interessant zu sein. Unsere Bekannten setzen verständlicherweise voraus, dass wir normal sind. Es wäre unklug, sie darin zu enttäuschen.
Darüber hinaus wird ein gewisses Maß an Höflichkeit verlangt. Niemand findet Wut oder Besessenheit, Verschrobenheit oder Verbitterung besonders charmant. Wir dürfen uns weder aufspielen noch ausrasten. Der Preis, den wir für Geselligkeit zahlen, ist, unser wahres Selbst auf ein bekömmliches Format zurechtzustutzen.
Wir müssen akzeptieren, dass wir häufig nicht auf Anhieb verstanden werden. Selbst unsere wichtigsten Anliegen stoßen auf Langeweile, blankes Unverständnis oder Ablehnung. Die meisten Menschen scheren sich kein bisschen um unsere tiefgründigen Gedanken. In ihren Köpfen existieren wir als angenehme, stark redigierte Abbilder unserer selbst.
Die Liebe verspricht, uns von all diesen zerstörerischen Seiten des Singlelebens zu erlösen. In der Gesellschaft unserer Liebhaber*innen genießen wir grenzenlose Anteilnahme und Fürsorge, Aufmerksamkeit und Freiheit. Wir werden weitgehend so akzeptiert, wie wir sind; wir stehen nicht unter Druck, ständig unseren Status beweisen zu müssen. Es ist möglich, unsere ausgefallensten und absurdesten Verletzlichkeiten und Zwänge zu offenbaren – und das Ganze unbeschadet zu überleben. Wir dürfen Wutanfälle haben, schlecht singen oder nah am Wasser gebaut sein. Man toleriert uns auch dann, wenn wir mal uncharmant oder abscheulich sind. Wir wecken unsere Liebhaber zu den ungewöhnlichsten Zeiten, um unsere Freuden und Sorgen mit ihnen zu teilen. Selbst die kleinste Schürfwunde finden sie bedeutend! Getrost sprechen wir die belanglosesten Themen an – etwas, das es seit jener Zeit nicht mehr gegeben hat, als freundliche Menschen mit großem Ernst darüber diskutierten, ob der oberste Knopf unserer Strickjacke vor dem Besuch des Spielplatzes zugemacht oder offengelassen werden sollte.
Bei Menschen, die uns lieben, ist unsere Verletzlichkeit in sicheren Händen.
Unsere Partner fällen auch keine überstürzten oder zynischen Urteile. Deuten wir etwas auch nur zaghaft an, sind sie wie elektrisiert. Sie sagen: „Mach weiter”, wenn wir straucheln und akzeptieren, dass es großer Aufmerksamkeit bedarf, zu enträtseln, wie wir wurden, was wir sind. Sie nehmen sich Zeit. Niemals fertigen sie uns mit einem knappen „Du Armer!” ab. Sie sammeln eifrig alle relevanten Details und setzen sie zu einem akkuraten Bild zusammen, das unserem Innenleben gerecht wird. Statt uns angesichts dessen, was wir ihnen über uns verraten haben, für verrückt zu erklären, sagen sie verständnisvoll: „Das geht mir genauso!”. Unsere Verletzlichkeit ist bei ihnen in sicheren Händen. Wir spüren eine unfassbare Dankbarkeit, weil sie etwas tun, was wir eigentlich für unmöglich gehalten haben: Sie kennen uns wirklich gut – und mögen uns trotzdem. So entkommen wir dem bedrückenden Gefühl, das uns sonst begleitet: Nur dann gemocht zu werden, wenn wir einen Großteil dessen, was wir sind, unter Verschluss halten.
Wir spüren, dass wir existieren; wir sind in Sicherheit; wir sind nicht allein mit unserer Geschichte. Wenn uns das Desinteresse der Welt verschreckt und innerlich aushöhlt, können wir zu dem geliebten Menschen zurückkehren, um wieder zusammengesetzt, beruhigt und getröstet zu werden. Allseits von Kälte umgeben spüren wir in den Armen eines außergewöhnlich geduldigen, freundlichen, unendlich viel Dankbarkeit verdienenden Wesens, dass wir wirklich wichtig sind.
2) Bewunderung
In Platons Dialog Das Symposion deutet der Dramatiker Aristophanes an, am Ursprung der Liebe stünde der Wunsch, uns selbst zu vervollständigen, indem wir eine lange verlorene „andere Hälfte” finden. Am Anfang der Zeit, so seine spielerische Vermutung, waren alle Menschen Zwitterwesen mit doppeltem Rücken und Flanken, vier Händen und vier Beinen, einem Kopf, aber zwei Gesichtern. Diese Zwitterwesen waren so mächtig, stolz und überheblich, dass sich Zeus gezwungen sah, sie in zwei Hälften zu teilen: eine männliche und eine weibliche. Seither besteht unsere nostalgische Sehnsucht darin, uns mit dem Teil, der abgetrennt wurde, wieder zu vereinen.
Wir müssen die Geschichte nicht wörtlich nehmen, um ihre symbolische Wahrheit zu erkennen: Wir verlieben uns in Menschen, die uns versprechen, dazu beizutragen, uns auf irgendeine Weise „ganz“ zu machen. Die ekstatischen Gefühle zu Beginn einer Liebe sind von der Dankbarkeit getragen, jemanden gefunden zu haben, der unsere Eigenschaften und Neigungen perfekt zu ergänzen scheint. Vielleicht legt dieser Jemand eine bemerkenswerte Geduld im Umgang mit buchhalterischen Details an den Tag. Oder hat die belebende Angewohnheit, sich gegen die Bürokratie aufzulehnen. Vielleicht hat er oder sie die Fähigkeit, die Dinge ins richtige Verhältnis zu setzen und jeden Anflug von Hysterie abzupuffern; oder ist von Natur aus so melancholisch und sensibel, dass ihm oder ihr die tieferen Strömungen des Denkens und Fühlens gut vertraut sind.
Wir finden an Partnern reizvoll, was wir bewundern und selbst nicht haben
Weil uns allen sehr unterschiedliche Dinge fehlen, verlieben wir uns nicht in dieselben Menschen. Die Eigenschaften, die wir an unseren Partnern begehrenswert finden, spiegeln wider, was wir bewundern und selbst nicht haben. Vielleicht fühlen wir uns heftig zu einer besonders kompetenten Person hingezogen, weil wir wissen, dass unser mangelndes Selbstvertrauen und die Neigung, bei bürokratischen Komplikationen in Panik zu geraten, uns das Leben schwer machen. Vielleicht gilt unsere Liebe auch ihrer humorvollen Seite, weil wir unsere Neigung zu Verzweiflung und Zynismus nur allzu gut kennen. Oder wir fühlen uns von Nachdenklichkeit angezogen, weil sie unserem eigenen, allzu sprunghaften, oberflächlichen Gemüt so fern liegt. Das gilt auch für äußere Attribute: Wir können ein Lächeln bewundern, weil es andere so zu akzeptieren scheint, wie sie sind (und unserer strafenden, bissigen Haltung deutlich entgegengesetzt ist). Ein freches, ironisches Lächeln zieht uns womöglich an, weil es unser viel zu nachgiebiges Gemüt ausbalanciert. Immer sind es unsere eigenen Unzulänglichkeiten, die darüber bestimmen, was uns an anderen gefällt.
Wir lieben zumindest teilweise in der Vorstellung, von unseren Liebhabern unterstützt und erlöst zu werden. Dahinter steckt die Sehnsucht, dazu zu lernen und zu wachsen. Wir hoffen, uns in ihrer Gegenwart ein wenig verändern und – durch ihre Hilfe – zu besseren Versionen unserer selbst werden zu können. Die Liebe birgt die Hoffnung auf Erlösung: Blockaden sollen gelockert, Verwirrungen beseitigt werden. Allein schaffen wir das nicht. In bestimmten Dingen sind wir Schüler und sie Lehrerinnen. Gewöhnlich stellen wir uns Erziehung als etwas vor, das uns gegen unseren Willen aufgezwungen wird. Die Liebe dagegen verspricht, uns auf ganz andere Weise zu erziehen. An der Seite unserer Liebhaberinnen beginnt unsere Entwicklung sehr viel angenehmer und belebender: nämlich mit Aufregung und Verlangen.
Angesichts der Qualitäten des Menschen an unserer Seite erlauben wir uns Momente der Verzückung und ungetrübten Begeisterung. Die Erregung, die wir empfinden, kontrastiert mit unseren Enttäuschungen und der Skepsis, die wir gegenüber anderen Leuten eigentlich haben. Herauszuarbeiten, was uns an einer Person missfällt, ist uns ein Leichtes. Die Liebe dagegen stärkt uns darin, nur die allerbesten Geschichten über einen Menschen zu konstruieren und daran festzuhalten. Wir kehren zu einer ursprünglichen Dankbarkeit zurück. Darum freuen wir uns über scheinbar unbedeutende Details: Dass er oder sie uns angerufen hat, dass er oder sie einen bestimmten Pullover trägt, dass er oder sie den Kopf so charmant auf die Hand stützt, dass er oder sie eine winzig kleine Narbe auf dem linken Zeigefinger hat oder die entzückende Angewohnheit, ein Wort ein wenig falsch auszusprechen …
Sich in einem solchen Ausmaß auf einen anderen Menschen einzulassen und so viele kleine, rührende, vollkommene und ergreifende Dinge an ihm zu entdecken, ist ganz und gar unüblich. So etwas erwarten wir höchstens von Eltern, Künstlern oder einem Gott. Ewig können wir so natürlich nicht weitermachen. Verzückung ist nicht immer gesund, aber sich eine Zeit lang der Komplexität, Schönheit und Tugendhaftigkeit eines anderen Menschen hinzugeben, ist eine der edelsten und erlösendsten Beschäftigungen – und eine Kunst für sich.
3) Begehren
Ein besonders überraschender und ziemlich verwirrender Aspekt der Liebe besteht darin, dass wir unsere Partner nicht nur bewundern, sondern auch körperlich besitzen wollen. Normalerweise zeigt sich die Geburt der Liebe in einem ausgesprochen seltsamen Akt: Zwei Organe, sonst zum Essen und Sprechen verwendet, werden mit zunehmender Kraft aneinandergepresst und gerieben, begleitet von der Absonderung von Speichel. Eine Zunge, die normalerweise Vokallaute artikuliert oder Kartoffel- oder Brokkolipüree an den hinteren Teil des Gaumens schiebt, bewegt sich nun nach vorne, um auf ihr Gegenstück zu treffen, dessen Spitze sie in wiederholten Stakkato-Bewegungen berührt.
Die Rolle, die Sexualität in der Liebe spielt, verstehen wir nur dann, wenn wir akzeptieren, dass sie – rein körperlich gesehen – keine besonders schöne Erfahrung sein muss. Nicht immer ist sie angenehmer als eine Kopfhautmassage oder das Schlürfen einer Auster. Andererseits kann Sex zu dem Besten gehören, war wir in unserem Leben jemals tun.
Sex ist ein großartiger psychologischer Nervenkitzel!
Denn Sex ist ein großartiger psychologischer Nervenkitzel! Das Vergnügen, das wir dabei erleben, hat seinen Ursprung in der Vorstellung, mit einem anderen Menschen etwas sehr Privates tun zu dürfen. An sich ist der Körper ein geschützter, intimer Bereich. Es wäre nicht nur eine Beleidigung, sondern kriminell, auf einen Fremden zuzugehen, seine Wangen zu befingern oder ihn zwischen den Beinen zu berühren. Umso größer und dramatischer ist der Schritt, einander die Erlaubnis zum Sex zu erteilen. Indem wir uns entkleiden, zeigen wir der anderen Person, dass sie zu einer winzigen, streng selektierten Gruppe Menschen gehört, und wir ihr ein außergewöhnliches Privileg gewähren.
Sexuelle Erregung ist psychologischer Natur. Uns erregt weniger das, was unser Körper gerade tut als das, was in unseren Gehirnen passiert: Akzeptanz steht im Mittelpunkt der Erfahrungen, die wir gemeinhin als „erregt” bezeichnen. Erregung spüren wir zwar körperlich – das Blut pumpt schneller, der Stoffwechsel schaltet einen Gang höher, es wird uns warm – , aber hinter all dem steckt eine ganz anderes Phänomen, nämlich, dass unsere Isolation ein Ende hat.
Im Allgemeinen verlangt die Zivilisation von uns, dass wir anderen eine stark redigierte Version unserer selbst präsentieren. Wir treten sauberer, makelloser und höflicher auf, als wir sind. Das ist mit einem hohen seelischen Preis verbunden. Wichtige Seiten unseres Charakters fristen so ein Schattendasein.
Der Konflikt zwischen unseren edlen Idealen und den drängenden Begierden unserer sexuellen Natur hat die Menschheit seit langem fasziniert – und ungemein beunruhigt. Im frühen dritten Jahrhundert kastrierte sich der christliche Gelehrte und Heilige Origenes selbst, so entsetzt war er über die Kluft zwischen dem Menschen, der er sein wollte (kontrolliert, zärtlich und geduldig), und dem, der er durch die Sexualität zu sein glaubte (obszön, lasziv und zügellos). Darin spiegelt sich die groteske Zuspitzung einer in Wirklichkeit ganz normalen und weit verbreiteten Not. Und manchmal begegnen wir Menschen, die diese Spaltung – unwissentlich – noch verstärken.
Die Person dagegen, die uns sexuell liebt, tut etwas Erlösendes: Sie unterscheidet nicht zwischen unseren verschiedenen Seiten, sondern sieht, dass wir ein und dieselbe Person sind. Die Sanftmut oder Würde, mit der wir viele Situationen meistern, ist nicht vorgetäuscht, nur weil wir im Bett ganz anders sind. Das gleiche gilt umgekehrt.
Die sexuelle Liebe gibt uns die Chance, eines der tiefsten und einsamsten Probleme der menschlichen Natur zu lösen: So akzeptiert zu werden, wie wir wirklich sind.