„Vor dem Tod schüttet das Gehirn oft beruhigende Botenstoffe aus“

„Selbst vermeintliche Kleinigkeiten sind ein Geschenk“: Stefanie Güttge

Stefanie Güttge ist ehrenamtliche Sterbebegleiterin in einem Kölner Hospiz. Mitunter monatelang trifft sie Totkranke, lacht mit ihnen. Gelernt hat sie dabei unter anderem, wie friedlich der Sterbeprozess sein kann. Und noch etwas hat ihren Blick aufs Leben verändert.

Der Tod ist in der Gesellschaft ein Tabuthema. „Völlig zu Unrecht“, sagt Stefanie Güttge, die als Sterbebegleiterin im Hospizverein Köln-Mülheim arbeitet. Die 33-Jährige begleitet Angehörige und Menschen, deren Leben zu Ende geht, und sie weiß: Gerade der offene Umgang mit dem Tod erleichtert vieles. Im Interview erinnert sie sich an den Abschied von ihrer Mutter und erzählt, was bei Trauer helfen kann.

Was bereuen wir, wenn unser Leben zu Ende geht? Eine Palliativpflegerin, die viele Menschen am Sterbebett bis zum Tod begleitete, hat darüber ein Buch geschrieben.

WELT: Wie kam es dazu, dass Sie im Alter von 30 Jahren Sterbebegleiterin wurden?

Stefanie Güttge: Innerhalb kurzer Zeit sind mehrere Menschen in meiner Familie gestorben – alle völlig unvorhersehbar. Ich war geschockt und konnte es schwer akzeptieren, also fragte ich mich: Warum ist das so? Und was kann ich tun, um es zu verstehen? Ich machte eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin und arbeite nun seit drei Jahren ehrenamtlich neben meinem Beruf als Projektmanagerin.

WELT: Welchen Menschen helfen Sie in der letzten Lebensphase?

Güttge: Die meisten haben unterschiedliche Krebserkrankungen. Gerade bei schleichenden Sterbeprozessen wie bei Krebs können die Begleitungen länger dauern. Eine Frau mit Brustkrebs betreute ich beispielsweise acht Monate lang. Fast jede Woche traf ich sie zu Hause. Dieser Fall ging mir besonders nah, weil wir uns über diese Zeit gut kennenlernten. Zudem war die Frau erst Mitte 50.

WELT: Wie haben Sie die Frau im Prozess begleitet?

Güttge: Wir haben viel gesprochen, oft über Alltägliches. In der Sterbebegleitung geht es darum, für die Person da zu sein, zuzuhören und sie zu unterstützen. Anfangs waren wir oft spazieren. Sie liebte die Natur, hatte einen eigenen Garten und ist viel gereist. Doch leider konnte sie alle diese Dinge nicht mehr machen. Es tat mir leid, zuzusehen, wie ihr Lebensraum immer kleiner wurde. Irgendwann konnte sie nicht mehr das Haus verlassen, später nicht mehr laufen. Dann spielten wir zusammen oder schauten Natur- und Tierfilme. Es war eine schöne Zeit. Es ist überraschend, wie viel Spaß ich bei den Begleitungen habe – es wird erstaunlich viel gelacht.

WELT: Was haben Sie aus der Begegnung gelernt?

Güttge: Viel Dankbarkeit für das Leben. Wir erachten viele Momente als nebensächlich, dabei sind selbst vermeintliche Kleinigkeiten ein Geschenk. Die Frau wollte beispielsweise ihr Leben lang Fahrrad fahren lernen und starb, ohne es jemals gemacht zu haben. Ich genieße das Leben nun bewusster, vor allem Dinge, die auf den ersten Blick unwichtig erscheinen.

WELT: Wie haben Sie reagiert, als Sie von ihrem Tod erfuhren?

Güttge: Die Hospizdienst-Koordinatorin erzählte es mir am Telefon. Natürlich musste auch ich es erst einmal verarbeiten. Meist mache ich kleine Rituale, nachdem ein Mensch stirbt. Ich zünde eine Kerze an oder treffe mich mit den Angehörigen am Friedhof und bringe Blumen. Das macht es realer und ich kann damit abschließen.

WELT: Spricht man zu wenig über den Tod?

Güttge: Es ist ein schweres Thema, aber in der Gesellschaft völlig zu Unrecht tabuisiert. Es gehört zum Leben dazu. Vor vielen Jahren war der Umgang mit Toten bei uns noch ganz anders. Sie wurden im Haus tagelang offen aufgebahrt. Heute wird alles möglichst diskret gehalten. Da kommt es schonmal vor, dass der Leichensack zur Hintertür hinausgetragen wird, damit es bloß niemand sieht. Menschen wollen sich schützen, dabei macht der offene Umgang damit vieles leichter.

WELT: Wie kann man Menschen die Angst vor dem Tod nehmen?

Güttge: Das Gefühl der Angst ist per se nicht schlimm. Sie darf da sein. Sie sollte nur nicht Überhand nehmen oder dazu führen, dass wir den Tod komplett ausblenden. Es kann sinnvoll sein, sich einmal bewusst zu fragen, woher dieses Gefühl kommt. Ist es eine unbestimmte Angst vor dem Ungewissen oder ganz konkret vor möglichen Schmerzen? Es gibt Palliativdienste, die nach Hause kommen und dafür sorgen, dass die Schmerzen möglichst gering sind. Unser Versorgungsnetz wird immer besser. Der Körper ist zudem darauf eingestellt, dass er abbaut und irgendwann stirbt.

WELT: Wie meinen Sie das?

Güttge: In der letzten Phase schüttet das Gehirn oft beruhigende Botenstoffe aus, die den Prozess unterstützen. Wer den friedlichen Gesichtsausdruck eines verstorbenen Menschen gesehen hat, bekommt möglicherweise ein gelasseneres Bild vom Tod. Manchmal blühen die Menschen einige Tage vor dem Tod sogar nochmal richtig auf.

WELT: Wie stellen Sie sich Ihren eigenen Tod vor?

Güttge: Idealerweise möchte ich nicht plötzlich sterben. Ich habe gelernt, dass es für mich schöner wäre, es aktiv zu erleben. Ich möchte Zeit haben, von meinen Angehörigen Abschied zu nehmen. Das ist auch für sie hilfreich. Wenn jemand plötzlich stirbt, ist es sehr schwer, es zu akzeptieren. Wir sollen die Chance haben, Gespräche zu führen, die uns wichtig sind. Noch bewusster wurde mir das, als meine Mutter im vergangenen Jahr an Krebs erkrankte. Wir wussten, dass sie zeitnah sterben wird. Es war schwierig, aber gleichzeitig auch ein Geschenk. Mein Vater, meine Schwester und ich erlebten nochmals eine sehr intensive, schöne Zeit. Vor einigen Monaten starb sie.

WELT: Was haben Sie in den letzten Momenten mit Ihrer Mutter gemacht?

Güttge: Wir schauten oft Fotos an, sie erzählte Geschichten von früher und gab uns ihr Wissen weiter: dass es wichtig ist, auf uns selbst zu vertrauen und unsere Bedürfnisse ernst zu nehmen, auch entgegen der Erwartung anderer. Sie hat das selbst bis zum Schluss beherzigt und war im Reinen mit sich. Es hat eine große Ruhe über uns als Familie gebracht. An dem Tag, an dem sie starb, waren wir bei ihr, jedoch nicht in dem Moment. Ich erinnere mich, dass ihre Hände und Füße ganz kalt wurden, ich sie wärmte und sie sagte, dass es ihr richtig guttut.

WELT: Sie werden in einigen Wochen selbst Mutter. Hat sich etwas in Ihrer Einstellung zum Tod verändert?

Güttge: Die Erfahrungen in der Sterbebegleitung und mit meiner Mutter rufen mir oft in Erinnerung, dass das Leben nicht selbstverständlich ist. Es gibt Dinge, die wir nicht in der Hand haben und das kann beängstigend sein, gerade als werdende Mama. Umso bewusster genieße ich jeden Moment, in dem es meinem Baby und mir gut geht. Das ist ein kleines Wunder für mich.

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Blog

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert