Freuds „Massenpsychologie“ weiter aktuell

Es ist ein fundamentaler Irrtum zu glauben, als Ich wäre man Selbst.

Menschen sind immer zugleich Individuen und Teile eines Kollektivs. Welche psychologischen Mechanismen zur Bildung stabiler Gruppen führen, hat Sigmund Freud vor über 100 Jahren untersucht. Seine Gedanken sind auch heute – in Zeiten sozialer Netzwerke, von Krieg und anderen Krisen – aktuell, wie die Germanistin Gail Newman in einem Gastbeitrag ausführt.

Vor 101 Jahren hat Sigmund Freud seine bahnbrechende Arbeit „Massenpsychologie und Ich- Analyse“ publiziert. Gut möglich, dass der stets auf die Aufnahme seiner Ideen und auf die eigene Beliebtheit bedachte Gründer der Psychoanalyse gehofft hat, dass sein Werk noch in 100 Jahren relevant sein würde. Wie vorausblickend sich das kleine Essay indes erweisen würde, konnte er freilich nicht voraussehen. Die Konferenz mit dem Titel „Thoughts for the Times on Groups and Masses“ am 10. und 11. Juni 2022 im Sigmund Freud Museum zeigte, dass die im Essay aufgeworfenen Fragen noch — oder wieder — hochaktuell sind: Welche Kraft hält eine Masse von Menschen zusammen? Welche Rolle spielt eine mächtige Führerfigur? Von welchen Defiziten im Einzelnen zeugt die Masse, von welchen Sehnsüchten?

Gespaltene Psyche

Ob die Psychoanalyse überhaupt noch ein passendes Werkzeug zum Entschlüsseln der Geheimnisse aktueller Phänomene sei? Das ist vielleicht die erste Frage, die sich Nicht-Psychoanalytiker:innen stellen mögen. Es steht außer Zweifel, dass sich die großen Massenbewegungen und -erscheinungen insbesondere seit dem vorigen Jahrhundert reichlich der Psychologie bedienen. Von der Propaganda über die Werbung bis hin zu algorithmisch berechnetem Sozialverhalten arbeiten die Mächte der Beeinflussung ständig mit psychologischen Mitteln und Wegen.

Aber im Unterschied zur Psychologie richtet die Psychoanalyse ihren Fokus nicht allein auf die Motive menschlichen Verhaltens, sondern auf die tiefergehenden Spaltungen, die diesen zugrunde liegen. In der Psychoanalyse ist vor allem jene von Bedeutung, die zwischen dem menschlichen Bewussten und Unbewussten liegt – und die nach Freud jeweils eigenen „Logiken“ (Vorgehensweisen) folgt. Im System des Unbewussten existiert zum Beispiel kein Widerspruch und kein „Nein“; Hass und Liebe, Wissen-Wollen und Nicht-wissen-Wollen sind zwei Seiten derselben Medaille.

Mensch ist wie Licht: Welle und Teilchen

Aber treffen die Einsichten der Psychoanalyse auf der gesellschaftlichen Ebene überhaupt zu? Trotz des Titels kommt Freuds Aufsatz unter anderem zu dem Schluss, dass man auch in der Masse die wichtigsten Beweggründe des Einzelnen findet, hauptsächlich die Tendenz zur Identifizierung mit einem (meist väterlich getönten) Ich-Ideal und die libidinöse Qualität der Anhänglichkeit an der Gruppe. Trotzdem schreibt Freud, dass „Individualpsychologie . . . immer auch Sozialpsychologie ist“, eine Einsicht, die weitreichende Wirkung auf seine Nachfolger in Frankreich und England haben sollte.

Vortragender Jan De Vos behauptet noch radikaler als Freud, dass die Psychoanalyse weder eine Individual- noch eine Sozialpsychologie, sondern im Grunde eine Massenpsychologie sei. Ranjanna Khanna erinnert uns noch dazu an Frantz Fanons Idee, dass das Ich aus dem Wir entsteht. Und Francisco Gonzalez entwirft eine schöne Metapher, wonach der Mensch dem Licht ähnelt, das gleichzeitig Partikel- und Wellenform hat. Das heißt, der Mensch ist zur gleichen Zeit autonomes Individuum und Teil eines Kollektivs, das durch ihn spricht.

Gemeinsamkeit durch Identifikation

Tatsächlich können wir nach Ansicht der Teilnehmenden diesem jahrhundertalten Aufsatz viele wertvolle Ideen entnehmen, beginnend mit der Rolle der Identifizierung in der Formierung von Massen. In Ulrike Mays resümierender Erklärung basiert die Bildung einer Gruppe auf der Idealisierung des Elternteils (bei Freud natürlich hauptsächlich des Vaters), dessen Attribute man sich dann selber aneignen will. Die Kohäsion innerhalb der Gruppe beruht wiederum auf der Gemeinsamkeit unter den Mitgliedern in ihrer narzisstischen Beziehung zur Führerfigur.

Obwohl Freuds Schilderungen eher im Rückblick auf das Habsburger Reich als in einer Vorausschau auf das „Dritte Reich“ formuliert wurden, finden Kommentator:innen in „Massenpsychologie und Ich- Analyse“ immer wieder Anhaltspunkte für einen quasihypnotischen Hitlerkult und dessen Mitläufertum: Der Prozess der Identifizierung sei eine strukturelle Dynamik ohne inhärente politische Richtung, konstatiert Sama Maani in seinem Beitrag über die heutige Tendenz, sich auf Basis einer empfundenen gemeinsamen Identität zu gruppieren —egal ob es das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Mehrheit oder einer Minderheit betrifft.

Bewältigung von Traumata

Bei diesen identitätsbasierten Bewegungen kann man einen weiteren Antrieb der Gruppenbildung beobachten, nämlich das Trauma, das im gewissen Sinne wie die Vater- oder Führerfigur funktionieren kann, indem die einzelnen Gruppenmitglieder sich mit dem Urtrauma identifizieren. Das Traumanarrativ gründet manchmal auf einem realen oder aber auch imaginären Verlust; der Drang, einen Verlust wieder gut zu machen oder gar zu rächen, stellt den Brennpunkt zahlreicher rechter Bewegungen dar, wie Earl Hopper es anhand vom Fundamentalismus und der Suche nach Sündenböcken dargestellt hat. Lene Auestad identifiziert auch bei Antimigrationsbewegungen entsprechende Ressentiments: „Wir haben schon so viel für euch gemacht, und du wirst immer noch nicht wie ich“!

Eine noch radikalere Auswirkung hat jene Art von Trauma, die entwicklungspsychologisch weiter zurückliegt, bevor es überhaupt ein separates und daher idealisierbares Objekt gibt. Hier geht es nicht so sehr um die gesellschaftlich verankerte Vaterfigur im Sinne von Freuds Ödipuskomplex als um die Mutterfigur, die primäre Pflegefigur, die Grundbedürfnisse nach Wärme, Nahrung und Sicherheit abdeckt. Fehlt diese Funktion, so erlebt man das, was Giuseppina Antinucci nach Amber Jacobs „loss-less-ness“ („Verlustlosigkeit“) nennt. Im gesellschaftlichen Kontext denkt man dabei an Menschengruppen, die eine solche primäre Pflege kaum je erfahren haben, wie es zum Beispiel bei versklavten Menschen der Fall ist oder die, zur Flucht gezwungen, einen abrupten und radikalen Verlust dieser notwendigen Hinwendung erleiden.

Suche nach Beziehung in einer beziehungslosen Welt

So kann Trauma – insbesondere in seiner intergenerationellen Form – auch eine Triebfeder der Gruppenbildung sein, die in einer sich selbst befruchtenden Welt sozialer Medien zudem eine Verstärkung erfährt. In der digital hervorgebrachten Masse kann sich das Individuum auflösen und dabei das Gefühl eines neueren besseren Selbst genießen, gleichzeitig aber auch seine Singularität und authentische Sozialität ersticken, wie Jan De Vos diese komplexe Dynamik auslegt.

Erleben wir also heutzutage durch das Primat des Digitalen eine führerlose Massifizierung? Wie erklärte man sich dann die Wucherung von „little leaders“ (De Vos) wie Trump, Bolsonaro, Orban oder Putin? Stellt jeder von ihnen vielleicht einen (nur) temporären Anhaltspunkt in der stets gleitenden Suche nach Beziehung in einer beziehungslosen Welt dar? Oder verbinden sich in ihnen eventuell gleichermaßen väterliche wie mütterliche Funktionen, die in der gegenwärtigen Welt ein rares Gut darstellen?

Im Kontext der neoliberalen Aushöhlung jeder zusammenhängenden und nachvollziehbaren geistigen Infrastruktur und jeder tiefgreifenden Garantie des physischen Wohls entsteht allzu leicht eine verzweifelte Anfälligkeit für psychologischen Schwindel. Vielleicht kann uns die Psychoanalyse, mit ihrem scharfen Sinn für die dem Menschen zugrundliegende Widersprüchlichkeit, zumindest Orientierungspunkte geben, denen wir am Weg aus unserer gegenwärtigen Misere folgen können.

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