Wenn einer fremdgeht, ist angeblich immer etwas in der Beziehung faul. Der Paar- und Sexualtherapeut Ulrich Clement sagt: Das stimmt nur manchmal. Warum also tun wir uns das an? Und wie kommt man darüber hinweg?
Warum gehen Menschen fremd, Herr Clement?
Die häufigste Erklärung, die besonders bei Therapeuten beliebt ist, lautet: weil in ihrer Beziehung etwas nicht stimmt. Weil einem der Partner nicht reicht oder es aus verschiedenen Gründen nicht passt, suche ich mir heimlich etwas anderes.
Und? Stimmt das?
Manchmal stimmt es, manchmal nicht. Menschen lassen sich auch einfach verführen. Weil die Situation so ist. Weil man selbst überrascht wird von der Faszination für jemanden anders. Das kann passieren.
Ihr Buch zum Thema, „Wenn Liebe fremdgeht“, gibt es mittlerweile in der 10. Auflage. Ich bin darin auf einen schönen Gedanken gestoßen: Eine Liebesaffäre hat zwei Antriebskräfte. Fernweh und Heimweh. Was meinen Sie damit?
Vielleicht rührt der Mensch, der mich da außerhalb meiner primären Beziehung anzieht, an eine Sehnsucht, die mir gar nicht bewusst ist. Jede Beziehung hat Grenzen. Es ist ja Wahnsinn, was wir heutzutage alles voneinander erwarten: Mein Partner soll ein guter Gefährte sein, ein guter Unterstützer im Beruf, ein guter Sexualpartner, ein guter Vater oder eine gute Mutter meiner Kinder. Und wenn er sich erlaubt, unvollkommen zu sein, zieht es mich in die Ferne . . .
Das wäre dann das Klischee, dass mir in der Beziehung etwas fehlt.
Aber was für eine Arroganz! Als hätte der Partner vollkommen zu sein!
Und das Heimweh?
In längeren Parallelbeziehungen sagen die Beteiligten oft: Ich habe mich endlich gesehen gefühlt. Wiedererkannt mit meinen Sehnsüchten. Und es ist nicht so, dass diese Sehnsüchte immer schon herumgelauert hätten. Vielmehr erlebe ich mit der anderen Person etwas ungewöhnlich Vertrautes, ohne dass der primäre Partner etwas falsch gemacht haben muss.
Nimm es nicht persönlich, wenn dein Partner fremdgeht, schreiben Sie. Wie soll das, bitteschön, gehen?
Die Desillusionierung, für den anderen nicht in jeder Hinsicht die erste Wahl zu sein, bleibt natürlich. Aber das heißt eben nicht, dass du etwas falsch gemacht haben musst. Vielleicht hat dein Partner eine eigene Entwicklung durchlaufen, die für ihn zu der Entscheidung führt, sich auf jemanden anders einzulassen. Der Betrogene kann alles richtig gemacht haben. Und trotzdem.
Aber warum Heimweh? Geht es um ein Ankommen bei sich selbst?
Das ist gut gesagt. Oft geht es nicht um die andere Person, sondern um das, was sie verkörpert. Im Kern steht die Idee, mein Leben könnte anders sein.
Aber auch das ist eine massive Verletzung.
Weh tun Affären fast immer. Um den Schmerz herumzukommen, das ist eine ziemlich aussichtslose Angelegenheit. Aber dem Schmerz Zeit zu geben, auf dass er immer geringer wird – dafür stehen die Chancen ganz gut, mit oder ohne Therapie. Die Amplituden des Verletztseins, das richtig schlimme Gefühl, dieses innere Bluten, das lässt mit der Zeit von selber nach.
Es gibt aber auch Fälle, wo so eine Verletzung immer wieder hochkommt, noch nach vielen Jahren . . .
Wenn jemand es hochkommen lässt! Das passiert nicht von selbst. Auch der schlimmste Schmerz muss am Leben erhalten werden. Und vielleicht lohnt es sich ja, die alten Vorwürfe zu pflegen. Damit kultiviert man einen masochistischen Triumph: Ich trinke Gift in der Hoffnung, dass der andere dran stirbt.
Wie meinen Sie das?
Es macht einen Unterschied, ob eine Fremdgehkrise zwei Wochen oder zwei Jahre alt ist. Solange das ganz frisch ist, brennt die Bude. Da geht es darum, den ersten Affekt durchzustehen und zu überleben: Hass, Wut. Ich schmeiß dich raus.
Das ist angemessen?
Völlig angemessen. Aber wenn man nach zwei Jahren noch auf demselben Stand ist, würde ich schon fragen: Was tun die Beteiligten dafür, dass das Problem aufrechterhalten wird? Und wer hat welchen Vorteil davon? Der Betrogene sieht sich in der moralisch überlegenen Opfer-Position. Ich stelle dann Fragen: Wie lange wollen Sie Ihrem Partner das vorwerfen? Was müsste Ihr Partner tun, dass Sie ihm verzeihen? Wollen Sie ihm überhaupt verzeihen?
Welche Rolle spielt Sex? Haben Affären in langjährigen Partnerschaften etwas damit zu tun, dass Sehnsucht und Begehren sich abnutzen?
Das ist auch so ein Dauerthema. Fast alle Paare erzählen davon, wie sie am Anfang übereinander hergefallen sind. Aufregend! Leidenschaftlich! Und jetzt? Die erotischen Trampelpfade werden als langweilig empfunden. Aber das ist normal. In jedem anderen Lebensbereich akzeptieren wir Routinen. Im Beruf. Mit Freunden. Irgendwann gehen die Kinder eben aus dem Haus. Nur im Sexuellen soll es immer so bleiben wie am Anfang! Wir haben kulturell keine Theorie über reife Sexualität, in der auch Langsamkeit und Stille einen guten Platz haben. Entwicklung ist etwas Normales. Dabei liegt die Chance darin, dass eine neue Qualität entsteht. Die Leidenschaft lässt in der Regel nach. Aber die Erfahrung nimmt zu. Damit kann man sogar eine Fremdgehgeschichte durchstehen.
Trotzdem meine Frage: Ist sexuelle Sehnsucht nun die Triebfeder für Affären? Oder mehr so ein Begleitumstand?
Es kann eine Ursache sein. Aber auch eine Ausrede. Männer sagen oft: Es war „nur Sex“.
Wieder so ein Klischee: Männer, die fremdgehen, wollen Sex. Frauen verlieben sich immer gleich.
Wenn es heißt, es war nur Sex, ist das in aller Regel eine Ausrede, um die Angelegenheit herunterzuspielen. Der fremdgehende Partner versucht, die Geschichte kleinzureden und sagt: Es war doch nur Sex. War nur einmal. War nur im Urlaub. Der Betrogene lässt das nicht gelten und betont: Es war immerhin Sex. Wenn der Fremdgehende dann noch so unklug ist, Details zu erzählen, wird es noch schlimmer.
Kann man seinen Partner und seine Beziehung schützen, indem man eine Affäre geheim hält?
Kann man schon. Aber das ist kein Rezept für jeden. Wir sind da bei einer moralischen Frage: Was ist für mich das höhere Gut? Die Ehrlichkeit meinem Partner gegenüber oder der Schutz vor einer Verletzung?
Oft kommt es am Ende trotzdem raus. Und es gibt viele Menschen, die aus dieser Erfahrung heraus sagen: Schlimmer noch als das Fremdgehen waren die Lügen, der Vertrauensbruch.
Das sagen alle. Auf diese Aussage kann ich wetten, immer.
Woher kommt das Gefühl des Verrats?
Jedes Paar trifft – explizit oder implizit – eine Absprache, die andere Leute ausschließt, indem sie besagt: Gewisse Dinge gehören nur uns beiden. Das können die Kinder sein, Vermögen. Geheimnisse. Erlebnisse. Und eben auch der Sex. Deshalb ist auch die symbolische Bedeutung so wichtig: Für den Betrogenen macht es einen Unterschied, ob ein Fremdgehen im Ehebett passiert oder im Hotel. Irgendein Hotel – das heißt nichts für das Paar. Aber in unserem Ehebett hat niemand anders etwas zu suchen. Oder ausgerechnet das Hotel, in dem wir damals diesen schönen Urlaub verbracht haben – das wird als Verrat erlebt. Der Verrat besteht darin, dass die Wir-Grenze durchbrochen wird. Das ist sehr schwer zu heilen.
Wie repariert man Vertrauen?
Ich finde den Unterschied zwischen Vertrauen und Verzeihen wichtig. Beim Vertrauen geht es um die Wahrheit, beim Verzeihen um Schuld. Also: Wie kann ich jemandem die Schuld erlassen? Muss der andere etwas dafür tun oder nicht? Das Verzeihen ist meistens – aber nicht immer – die Voraussetzung, um zusammenzubleiben. Im Vertrauen steckt manchmal auch die naive Sehnsucht nach der Unschuld des Anfangs. Eigentlich ist eine gesunde Skepsis besser.
Was heißt das praktisch?
Angenommen, eine Affäre ist rausgekommen, haben Sie verschiedene Möglichkeiten. Erstens: Sie trennen sich. Zweitens: Sie bleiben zusammen und halten die Beziehung mehr schlecht als recht dadurch am Laufen, dass Sie sich diese Geschichte ewig vorwerfen. Dritte Möglichkeit: Sie heiraten nochmal neu. Nicht real, sondern symbolisch. Sie fragen sich, angesichts eines Partners, der nicht vollkommen ist, der eine böse oder schwache Seite hat, der auch in der Lage ist zu lügen: Hat der genügend andere Qualitäten, dass ich unterm Strich sage, mit dem will ich es nochmal versuchen? Der bleibt nämlich, wie er war. Ich jedenfalls würde nicht viel darauf geben, wenn der fremdgehende Partner schwört: Ich mache es nie wieder. Man kann auch schlecht beweisen, dass man etwas nicht tut. Besser sind Taten, man kümmert sich mehr um Gemeinsamkeiten mit dem primären Partner. So wächst Vertrauen. Denn wenn es einmal Grund für Misstrauen gegeben hat, geht das so schnell nicht wieder weg.
Sie unterscheiden auch zwischen Geständnis und Bekenntnis.
Ja. Es macht einen Unterschied, ob der Fremdgehende winselnd gesteht und sagt: Entschuldigung, es tut mir total leid. Wie konnte ich nur? Das ist das Geständnis, die Position des Sünders. Das Bekenntnis dagegen ist eine Zumutung, aber die ist aufrecht: Ich habe es getan. Ich habe es gewollt. Im Wissen darum, dass es dir wehtut, wenn es herauskommt.
Aber das ist doch der Gipfel der Kränkung und des Schmerzes. Dir war klar, wie weh du mir tust, und trotzdem hast du es getan. Wie wenig bin ich dir wert?
Die Frage ist: Womit kann der betrogene Partner besser umgehen? Der geständige Sünder verhält sich wie an Silvester: Ich höre mit dem Rauchen auf, ich mach das nie wieder, es ist nicht gesund. Der Betrogene kann ihm gar nichts vorwerfen, weil der sich selbst schon ständig Vorwürfe macht. Einen, der bekennt, kann man attackieren.
Und diese Auseinandersetzung ist wichtig?
Sonst läuft es darauf hinaus, dass alles Fremdgehen ein Irrtum war: blöd gelaufen. Selbst, wenn das Paar sich nicht trennt, gehen die Partner vielleicht innerlich auf Abstand. Das Bekenntnis heißt: Ich habe es gewollt. Ich musste abwägen, ob ich dir zuliebe verzichte – oder ob ich tue, was mir wichtig ist. Und trotzdem bist du die Person, mit der ich weiter leben möchte.
Sie haben viel Verständnis auch für den Partner, der fremdgegangen ist, und vertreten die Auffassung, dass man um die Affäre trauern dürfen müsse. Warum?
Man geht ja nicht nur aus niederen Beweggründen fremd, sondern da ist eine Intensität entstanden, mit der es einen erwischt, mit der man vielleicht nicht gerechnet hat. Die Entscheidung, das zu beenden, ist nicht einfach. Das kann eine traurige Angelegenheit sein. Man hat ja wirklich etwas erlebt, da ist etwas mit mir passiert.
Ein Seitensprung, dieser Verrat, kann für den Betrogenen eine traumatische Erfahrung sein.
Inklusive Schlaflosigkeit und Flashbacks, das kann sein. Aber es kann auch einfach nur Mist sein, einfach eine blöde, doofe Erfahrung. Ich will das nicht bagatellisieren. Es kann ein Trauma sein, richtig. Aber man darf es nicht automatisch dazu deklarieren.
Wenn Paare mit so einer Thematik zu Ihnen kommen: Haben Sie einen Blick dafür, ob sie es hinkriegen miteinander oder ob sie sich trennen?
Ich bilde mir ein, ja.
Woran machen Sie das fest?
Nicht an den großen Gemeinsamkeitsschwüren. Sondern an kleinen Gesten der Zugewandtheit. Ob man den anderen freundlich am Arm fasst, ihm zulächelt zum Beispiel. Wenn ein Paar nur noch verächtlich über den anderen spricht, wenn nur noch Beschuldigungen eine Rolle spielen, nur noch Bosheit herrscht, was man heute als toxisch bezeichnet, dann ist die Prognose schlecht. Eine gute Prognose hat es, wenn in der Therapie eine emotionale Berührung passiert – wenn ein Partner merkt, dass er oder sie eine andere Seele verletzt hat. Man muss allerdings kein Therapeut sein, um das zu sehen.
Glauben Sie an die Liebe?
Ich finde es interessant, dass Sie das zu einer Frage des Glaubens und nicht der Erfahrung machen. Wenn Sie mich persönlich fragen: Ja! Man kann man Liebe nicht intentional erzeugen, aber wenn sie sich gezeigt hat, kann man sie pflegen und lebendig halten. Als Therapeut muss ich mir klar machen, ob ich es mit Liebe oder mit partnerschaftlichen Konflikten zu tun habe. Partnerschaft kann man bewusst gestalten, Liebe nur begrenzt: Teilen wir unser Geld oder nicht? Wer kümmert sich wie um die Kinder? Das lässt sich entscheiden. Ob man den Partner liebt, entzieht sich der Entscheidbarkeit. Deshalb braucht man sich auch nicht zu trennen, wenn die Liebe verschwunden ist, sondern kann sich entscheiden, in Anstand und Würde zusammenzubleiben.
Würden Sie denn sagen, in der Regel lohnt es sich, um die Primärbeziehung zu kämpfen?
Die Kampf-Metapher ist heikel, weil sie Sieg und Niederlage impliziert. Ich würde eher sagen: Für eine gute Beziehung braucht es gute Investitionen, dann kann es zwei Gewinner geben. Aber im Sinne Ihrer Frage: Ja, das meine ich in der Tat. Sonst wäre ich im falschen Job.