Teilzeit-Gesellschaft

Ein Vater spielt mit seinem Sohn in seiner Freizeit in der Sonne.

Geht es uns zu gut? – Immer mehr Menschen arbeiten Teilzeit – einfach, weil sie öfter frei haben wollen und auf Geld verzichten können. Was ist da los?

Mittwochs ist Anne Wenders nicht erreichbar. Mittwochs sitzt sie nicht wie sonst an ihrem Schreibtisch in der Kommunikationsabteilung der Telekom, sondern an der Bettkante schwerkranker Kinder. Die 49-Jährige arbeitet schon viele Jahre in Teilzeit, seit einigen Monaten widmet sie die freien Stunden dem Kinderhospiz in Düsseldorf. Ihren Job mache sie sehr gerne, sagt Wenders. Das Ehrenamt erfülle sie aber auf andere Art: „Dieses Gefühl, auf einer emotionalen Ebene gebraucht zu werden und etwas zurückzugeben, empfinde ich als unheimlich sinnstiftend.“

Weniger zu arbeiten, mehr Zeit für Ehrenamt, Hobbys oder Freunde zu haben – das wünschen sich viele Menschen. Seit Jahren steigt die Teilzeitquote in Deutschland, inzwischen arbeitet fast jeder dritte Beschäftigte in Deutschland weniger als Vollzeit. In einigen Betrieben arbeitet mehr als die Hälfte der Belegschaft in Teilzeit, zum Beispiel in mancher Schule.

So erfreulich eine Teilzeitstelle für den Einzelnen sein mag, so gefährlich ist diese Entwicklung für das Land. Denn Deutschland fehlt es an Arbeitskräften. Wenn der Haarschnitt ausfällt, ist das noch verkraftbar. Aber der Personalmangel gefährdet jetzt den Klimaschutz, die Kinderbetreuung und die Versorgung Kranker. Zwei Millionen Arbeitsplätze sind vakant, mehr als die Hälfte aller Betriebe kann Stellen lange Zeit nicht besetzen.

Zwang ist aus der Mode

Es ist paradox: In diesen Tagen jährt sich zum 20. Mal die Ankündigung von Gerhard Schröders großer Sozialreform, die als „Agenda 2010“ bekannt wurde. Damals sollten Arbeitslose in Stellen gezwungen werden, die es nicht gab. Heute gibt es freie Stellen, aber zu wenige Arbeitskräfte. Und der Zwang ist aus der Mode gekommen. Nur Markus Söder will die Teilzeit für Lehrer einschränken. Dabei sind es gerade die guten Bedingungen am Arbeitsmarkt, die dazu führen, dass die Menschen weniger arbeiten. Einst gab es eine Teilzeitfalle für Arbeitnehmer, heute ist das eher eine Falle für Unternehmen. Die wenigsten Betriebe können es sich noch erlauben, ihre Mitarbeiter zur Vollzeit anzuhalten.

Und da geht es nicht nur um die Kinderbetreuung. Von den Teilzeit arbeitenden Frauen hat nicht mal jede zweite ein Kind unter 18 Jahren. In den vergangenen Jahrzehnten gab es noch einen Trend, dass immer mehr Frauen in Teilzeit arbeiten, statt ganz zu Hause zu bleiben. Doch dieser Trend ebbt allmählich ab, es gibt nur noch wenige Hausfrauen. Ein weiterer Trend zur Vollzeitarbeit ist allerdings auch nicht erkennbar, das Gegenteil ist eher wahr. Deutschlands neu erworbene Arbeitsleistung stammt inzwischen nicht zuletzt von Einwanderern aus östlichen EU-Staaten.

Die Deutschen dagegen lieben ihre Teilzeit. Wenn das Statistische Bundesamt die Reduzierarbeiter fragt, warum sie nicht in Vollzeit Geld verdienen, lautet die häufigste Antwort: „Vollzeittätigkeit nicht gewünscht“. Diese Antwort fällt häufiger als der Verweis auf Kinderbetreuung und Altenpflege zusammen. Der Präsident des Arbeitgeberverbands BDA forderte jüngst „Mehr Bock auf Arbeit“ und befand, die Deutschen hätten vergessen, „dass das Geld auch erwirtschaftet werden muss“. Andrea Nahles, die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, kritisierte in der F.A.S. die junge Generation und ihre Forderung nach mehr Work-Life-Balance: Sie sei anders erzogen worden, „ein Arbeitsmensch“.

Mehr Wohlstand – weniger Arbeit

Damit fällt sie zunehmend aus der Zeit. Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen, dass die Wunsch-Arbeitszeit der Deutschen immer weiter abnimmt – auch wenn sie wissen, dass das mit Gehaltseinbußen verbunden ist. Im Jahr 2000 lag sie noch bei 34,4 Stunden, im Jahr 2020 bei 32,8 Stunden.

Ganz überraschend kam das nicht. Schon in den 1930er-Jahren prognostizierte der Ökonom John Maynard Keynes, dass wir über die Jahre immer weniger arbeiten müssten. Er rechnete für die Generation seiner Enkel mit 15 Wochenstunden. Das ist zwar nicht wahr geworden. Aber in einem entscheidenden Punkt scheint sich seine Annahme zu bewahrheiten: dass die Menschen einen Teil des gewonnenen Wohlstands in Form von Freizeit genießen wollen statt mit materiellem Konsum. Geht es uns also zu gut, um noch viel zu arbeiten? Immerhin gibt es inzwischen einige Deutsche, deren Konsum eher vom Umweltschutz gebremst wird als vom Einkommen. Sie tun sich mit Lohnverzicht leichter.

Als Anne Wenders vor zehn Jahren erstmals ihre Arbeitszeit reduzierte, ging es ihr schlicht darum, unter der Woche „unverplante Zeit“ zu haben – für Ausstellungsbesuche, Sport, Freunde. Im Laufe der Jahre haben sich ihre Motive verändert. „Ich habe Weiterbildungen gemacht, zum Beispiel zur Mediatorin“, erzählt sie. Als ihre Mutter an einem Hirntumor erkrankte, hat sie die freie Zeit ihr gewidmet. Später den Menschen im Hospiz.

Lohnerhöhungen funktionieren vielleicht nicht so gut

Dieter Frey, Professor für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, beobachtet schon länger, dass sich die Präferenzen für Arbeit und Freizeit verschieben. Für viele beginne das Leben erst, wenn der Arbeitstag vorbei sei. Die Menschen würden zunehmend reflektieren: „Was ist eigentlich ein sinnvolles Leben? Entspricht das, was ich mache, meinen Vorstellungen? Hätte ich Alternativen?“

Längst versuchen die Unternehmen daher, ihre Jobs ideologisch aufzuladen, ihrem Wirtschaften einen höheren Sinn zu geben – auf den Homepages meist wahlweise unter den Reitern „Unsere Mission“ oder „Unsere Philosophie“ nachzulesen. Bei Adidas etwa heißt es auf Englisch „Mit Sport können wir Leben verändern“, bei Rossmann „Gemeinsam einzigartig sein“, bei Continental kann man „die Zukunft der Mobilität gestalten“. Doch die hehren Ziele sind oft zu abstrakt, um die Sehnsucht nach Sinn zu erfüllen.

Die klassische Lehre sagt: Wenn Unternehmen es mit gewogenen Worten nicht schaffen, die Menschen zu mehr Arbeit zu motivieren, bleibt ihnen die Lohnerhöhung. So ähnlich argumentieren namhafte Ökonomen wie Clemens Fuest oder Simon Jäger, zuletzt vergangene Woche in einem F.A.S.-Gastbeitrag.

Doch Bernd Fitzenberger, der Direktor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), rät zur Vorsicht: „Immaterielle Werte gewinnen mit steigendem Wohlstand an Bedeutung.“ Das hieße auch, dass mit höheren Löhnen womöglich das Gegenteil bewirkt würde und Menschen ihre Arbeitszeit erst recht reduzierten – zumindest in den besser bezahlten Berufen. Anders sei das bei Leuten mit niedrigem Einkommen. Für sie vermutet auch er, dass Lohnerhöhungen zu längeren Arbeitszeiten führen.

Doch gerade bei diesen Leistungen baut der Staat Hürden ein. Steuerrechtliche und sozialpolitische Vorgaben wirkten dem längerfristig entgegen, konstatiert die Arbeitsmarktforscherin Regina Riphahn. „In Deutschland machen wir es insbesondere für Geringverdienende unattraktiv, von Teilzeit in Vollzeit zu gehen.“ Steuern, Sozialleistungen und Sozialversicherung wirken oft so zusammen, dass vom zusätzlich verdienten Geld nur wenig bei den Menschen ankommt – oft bei Geringverdienern, nicht so selten auch bei zuverdienenden Ehepartnern.

Was macht jetzt die Inflation?

Allmählich macht sich allerdings auch die Inflation in den Budgets der Deutschen bemerkbar. Die kommenden Monate werden zeigen, ob sich die Entwicklung auch wieder umkehren kann: ob schrumpfender Wohlstand dazu führt, dass die Deutschen wieder mehr arbeiten.

Vielleicht passiert da aber kurzfristig auch nur wenig. IAB-Direktor Bernd Fitzenberger glaubt: „Wenn es der deutliche Wunsch ist, in Teilzeit zu arbeiten, reichen wirtschaftliche Anreize allein nicht aus.“ Telekom-Mitarbeiterin Anne Wenders wird bei jedem Mitarbeitergespräch aufs Neue gefragt, ob sie nicht wieder Vollzeit arbeiten wolle. „Aber meine Antwort ist immer dieselbe: Auf keinen Fall. Ich habe meine Balance gefunden.“

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