Die Vernachlässigung der Sexualität in der Psychoanalyse
„Die großen Theorien der Psychoanalyse setzen heute den Schwerpunkt auf andere Felder klinischer Arbeit…..“
Fonagy (2008 S.14 Übers.d.V.)
Das Thema der Sexualität hat nicht nur in der Gesellschaft eine Entwicklung durchgemacht, es hat auch eine Entwicklung in der Psychoanalyse erfahren. Diese ist allerdings nahezu entgegengesetzt. Bis in die 50er Jahre gab es nur zwei Institutionen, denen eine Kompetenz für Aussagen über Sexualität zugebilligt wurde, den Kirchen/Religionen und der Psychoanalyse. Dem Bedeutungsverlust, den die Psychoanalyse hinsichtlich dieses Themas erfahren hat, liegen zwei Entwicklungen zu Grunde.
- Die gesellschaftlichen Aspekte der Sexualiät waren in der Psychoanalyse durch das Triebmodell zu wenig ins Blickfeld geraten. Wissenschaftler aus anderen Gebieten lieferten. Die Kinsey Reports (1948, 1953 Herzog S. 32) zum Beispiel untersuchten in der amerikanischen Gesellschaft das sexuelle Verhalten von Männern und Frauen. Mit Masters & Johnson‘s “Human sexual Response” (1966, : Die sexuelle Reaktion, 1967) erreichte die Entwicklung einen Höhepunkt, der die Kompetenz und Exklusivität der Psychoanalyse zu diesem Thema in Frage stellte. Statt die Entwicklung als Herausforderung zu begreifen, soziale und gesellschaftliche Aspekte mit aufzugreifen, holte die angloamerikanische Psychoanalyse (im Gegensatz zur französischen Psychoanalyse) zu einem Gegenschlag aus. Man kritisierte, dass Kinsey et al. die Menschen wie Tiere behandele und das Thema der „Liebe“ ausklammere. Man entdeckte die Liebesdoktrin (1948-68). Der Mainstream der Psychoanalyse folgte fortan der Auffassung, dass man das Thema Sexualität nur dann wirklich verstehen könne, wenn es an das Thema Liebe gekoppelt sei. ( s.Herzog S. 32).
- In der Psychoanalytischen Theoriebildung geriet im angloamerikanischen Raum durch die Selbstpsychologie, die Objektbeziehungspsychologie und den Intersubjektiven Ansatz der Aspekt des Trieblebens und Begehrens zugunsten der Konzepte von primärer Liebe und Bindungsbedürfnissen in den Hintergrund. (nach Herzog 2019)
In den psychoanalytischen Behandlungen wird die Psychosexualität immer weniger zum Thema, während Übertragung und Gegenübertragung immer stärker zum Thema werden. Dies ist unter anderem ein Ergebnis der Abwendung von der Triebtheorie und Hinwendung zur Objektbeziehungstheorie, der Selbstpsychologie und dem Intersubjektiven Ansatz in der angloamerikanischen Psychoanalyse (im Gegensatz zur französischen Psychoanalyse). Fonagy (2008) zeigt dies anhand einer sprachanalytischen Studie: Die Begriffe „Übertragung und Gegenübertragung“ nehmen in der psychoanalytischen Literatur zwischen 1925 und 2000 kontinuierlich zu, während die Begriffe zur Sexualität im selben Zeitraum kontinuierlich abnehmen (s. Fonagy 2008 S.32 Fig. 4).
Erotische Ästhetik – Die nackte Maja von Francisco Goya, 1795–1800, Museo del Prado, Madrid.
Eine neue entwicklungspsychologische Perspektive auf die Bedeutung von Sexualität
Target und Fonagy gehen dem Thema des sexuellen Lustempfindens aus Sicht des Mentalisierungskonzepts in vier Beiträgen nach (Target 2013, 2019; Fonagy 2008, 2019). Grundlage für die Integration von Trieberleben, sexuellem Affekt und Bindungserfahrungen ist dabei die Theorie der Affektspiegelung und ihrer Entwicklung, wie sie im Mentalisierungsansatz beschrieben wird.
Sie greifen dabei auf die allgemeine Verführungstheorie des französischen Psychoanalytikers Laplanche (1995), Laplanche & Pontis (1968), zurück, der die unbewusste Kommunikation erotischer Erfahrungen in der frühen Mutter-Kind Beziehung untersucht hatte.
Laplanche (1968) nimmt eine Sexualisierung früher Erregung an, wenn das Objekt verloren geht, kann es niemals wiedergefunden werden, aber die Suche danach prägt die menschliche Sexualität (die Brust als verlorenes Objekt, dann aufgeladen als phantasmatische Brust). Die Mutter sexualisiert die Erregung des Kindes, unbewusst verführt sie es, lässt es alleine mit einer unerreichbaren Bedeutung.
Fonagy und Target gehen wie Laplanche dem Gedanken nach, wie und warum sich notwendigerweise Geheimnisvolles und Beunruhigendes in der Sexualität entwickelt und zu ihr gehört. Sie führen dies darauf zurück, dass sexuelles Begehren und Affekte zwischen Bindungsperson und Baby/Kleinkind keine adäquate Spiegelung und kein Containment erfahren.
Grundannahmen einer entwicklungspsychologisch begründeten Psychosexualität
Sexuelle Erregung ist gegenwärtig seit der frühen Kindheit. Das psychische Leben ist aufgebaut auf Repräsentationen körperlicher Erfahrungen des Kindes, dessen sensomotorische Erfahrungen bilden die Basis für Empfindungen.
Psychosexualität wurzelt ebenso in sensomotorischen Wahrnehmungen. Erotik ist unbestritten eine intensive körperliche Wahrnehmung.
Psychosexualität und nicht ausreichend markierte Affektspiegelung
Die wichtigste Aufgabe markierter Spiegelung ist es, unintegrierte Aspekte von Selbstzuständen in kohärente Repräsentationen einzubinden.
Die Bildung einer symbolischen Repräsentation von Affektzuständen erzeugt die Grundlage für Affektregulation und Impulskontrolle (Target 2013, S.129).
Detail einer antiken Oinochoe (Weinkanne). Schuwalow-Maler um 430 v. Chr.
Fonagy (2008) beschreibt zwei Beobachtungen:
- In einer Untersuchung wurden Mütter darüber befragt, wie sie auf die affektiven Signale ihres 3-6- Monate alten Babys reagieren, einschließlich sexueller Erregung. Alle Mütter gaben an, dass sie auf Freude, Angst etc. regelmäßig reagieren und diese spiegeln, aber sexuelle Erregung in den meisten Fällen gänzlich ignorieren (z. B. wegschauen), obwohl in der Befragung 80% der Mütter sexuelle Erregung bei Babys wahrgenommen hatten.
- In Säuglings- und Kleinkindbeobachtungen wird der sexuellen Erregung selten Beachtung geschenkt, eine positive Reaktion darauf war dabei noch seltener.
Die Forderung, auch sexuelle Erregung und Affekte des Babys/Kleinkinds zu spiegeln, führt die Bindungsperson in ein normales Dilemma bzw. Unmöglichkeit. Wenn das Baby/Kleinkind eine Affektspiegelung überhaupt erfährt, so geschieht dies auf eine Weise, die Laplanche (1995) als „enigmatisch“ (rätselhaft) beschrieben hat. Es ist eine meist unbewusste verführerische Spiegelung auf das Begehren des Kindes (zusammen mit dem Begehren der Bindungsperson gegenüber dem Kind) und einer gleichzeitigen Frustration der Bedürfnisse und des Begehrens.
Die Folge: sexuelle Erregung bleibt ungespiegelt und erreicht niemals eine stimmige, metabolisierte Repräsentation.
Sexuelle Erregung wird dann häufig als fremd, als nicht zum Selbst gehörend erlebt. Die sexuelle Erregung wird nicht als etwas ursprünglich Eigenes erlebt, weil sie nicht ausreichend als markiert gespiegelt wird. Das Baby/Kleinkind identifiziert sich dann mit der weitgehend ins Leere gelaufenen Erregung.
„Die rätselhafte Dimension der Sexualität lädt dazu ein, sie auszuarbeiten, was normalerweise durch einen anderen geschieht.“ (Target 2019, S.69) Im sexuellen Erleben werden die als fremd empfundenen Anteile nach außen projiziert. Dabei werden körperliche und seelische Grenzen überschritten und überwunden, um sich gleichzeitig und dadurch diese Teile wieder anzueignen.
Eine feinfühlige Resonanz von Bindungspersonen und Sicherheit in den Beziehungen sind einerseits die Voraussetzungen für eine befriedigende Sexualität im Erwachsenenalter, andererseits entstehet die sexuelle Erregung und das Begehren aus den Fehlern und den Nichtresonanzen gegenüber der kindlichen sexuellen Erregung.
Die Beschreibungen sind möglicherweise stark von einer männlichen Sichtweise geprägt. Sie beschreiben aber die grundlegenden Mechanismen, die auch für das weibliche Geschlecht gelten. Möglicherweise beginnt die Entwicklung der Männer aber eher mit der Spaltung im Selbst und bei den Frauen eher mit der zwischenmenschlichen Identifikation. Die Frau befreit sich dadurch selbst von Inkongruenzen (Fonagy 2008 S.34).
Erwachsene Sexualität ist inkongruent mit dem Selbst
- Das Fremde Selbst wird projiziert und re-introjeziert (die Erregung wird im Gegenüber erfahren, genossen, mit ihm/ihr erfahren und re-internalisiert)
- „Das Vergnügen der Erotik[…] kommt davon, sich selbst in einen Zustand der Psyche zu versetzen, der sich als der Zustand des Anderen anfühlt und der die Begrenzungen des eigenen Selbst aufhebt“[…]
- „Sexuelles Vergnügen, indem man momentan Kontrolle über Gedanken und Gefühle des Anderen ausübt, kann als besonderes Beispiel der projektiven Identifizierung gelten“ (Target 2013, S. 134)
- Das Nachlassen des sexuellen Interesses in langjährigen Beziehungen ist dann „eigentlich die Erreichung eines stärker integrierten Zustandes von sich Selbst“(ebd. S.135) durch die Entstehung einer tragfähigen Bindungsbeziehung
Eine befriedigende Sexualität des Erwachsenen ist an drei Voraussetzungen gebunden:
- In der Beziehung muss es unbewusste und bewusste Möglichkeiten geben, sich für die Projektionen des anderen zu öffnen. Die Bindungserfahrungen müssen hierzu eine ausreichende Sicherheit liefern.
- Ein zuverlässiges Gefühl von sicheren Grenzen des körperlichen Selbst, Ein als sicher erlebtes Körperselbst ist die Voraussetzung dafür, dass die Grenzen ohne eine zu starke Bedrohung kurzfristig aufgegeben werden können.
- Ein gegenseitiges Begehren/gegenseitige Erregung ist der Schlüssel für ein volles Erleben im Psychosexuellen.
- Eine Wiederaufnahme der projizierten Anteile nach dem Abklingen der sexuellen Erregung und sexuellen Erfahrungen muss möglich sein.
- o Der Bogen vom Sexuellen, in dem anderen aufzugehen und danach wieder zu sich zu kommen, sollte idealerweise geschlossen werden. Gelingt dies einer Person nicht, so bleibt die Person in bedrohlicher Weise beim anderen hängen.
Fonagy 2008, S.26
Das Mentalisierungskonzept wird von Psychoanalytikern oft als weit entfernt von der Psychoanalyse gesehen. Das Thema Sexualität und Mentalisierungskonzept zeigt aber, dass das Konzept in der Psychoanalyse verwurzelt ist und vielfältige Beziehungen zu ihren Protagonisten wie Freud und Laplanche hat.
Literatur
Herzog D. (2019) Die sexuelle Revolution und ihre Folgen für die Psychoanalyse in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Lemma, Alessandra; Lynch, Paul E. (Hg.): Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse
Fonagy P. (2008) A Genuinely Developmental Theory of Sexual Enjoyment and Its Implications for Psychoanalytic Technique, Journal of the American Psychoanalytic Association 56(1), 11-36
Fonagy P.; Allison E. (2019) Eine wissenschaftliche Theorie der Homosexualität für die Psychoanalyse. In: Lemma, Alessandra; Lynch, Paul E. (Hg.): Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse
Laplanche J (1995) Seduction, persecution, revelation. International Journal of Psychoanalysis 76:663-682
Laplanche J & Pontalis JB (1968) Fantasy and the origins of sexuality. International Journal of Psychoanalysis 49:1-19
Lemma, Alessandra; Lynch, Paul E. (Hg.) (2019) Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse Brandes & Apsel
Masters & Johnson (1966) Human sexual Response dt.: Die sexuelle Reaktion(1967).Akademische Verlagsgesellschaft, Frankfurt am Main
Target M. (2013) Ist unsere Sexualität unsere eigene? Ein Entwicklungsmodell der Sexualität auf der Basis früher Affektspiegelung. Z. f. Individualpsychol. 38, 125-141.
Target M. (2019) Ein Entwicklungsmodell für sexuelle Erregung, Begehren und Entfremdung In: Lemma, Alessandra; Lynch, Paul E. (Hg.): Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse
Berner, W, (2019): Buchbesprechung.
Lemma, Alessandra; Lynch, Paul E. (Hg.):Psychoanalyse der Sexualitäten – Sexualitäten der Psychoanalyse. Psyche 73 Heft3/19 Seiten…
Laplanche, J.P. (1988/2017) Die allgemeine Verführungstheorie und andere Aufsätze. Übers. Gunter Gorhan. Edition Diskord, Tübingen . 2. durchges. Aufl. Brandes & Apsel, Frankfurt 2017