Schamgrenzen in der Sexualität

Einzelvorlesung zum Thema: Dynamik an der Schamgrenze Kongress: 57. Lindauer Psychotherapiewochen, Leitthemen: Scham / Neid

In diesem Vortrag bewegen wir uns zwischen Scham- und Charmegrenze.

Der Fachmann für Scham und Sexualität in Deutschland ist Prof. Ulrich Clement aus Heidelberg.

Der Übergang zur modernen Sexualität bewegte sich in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einem Spannungsfeld zwischen Unterdrückung und Befreiung. Damals war die Scham die Gegnerin der Selbstbestimmung.

Und in der Dialektik der Befreiung war ein gewisses Maß an Unverschämtheit nötig, um diese Selbstbestimmung zu realisieren.

Die postmoderne Zeit macht ein anderes Spannungsfeld auf, nämlich das Spannungsfeld zwischen Beliebigkeit und Authentizität.

Scham entsteht, wenn ein Aspekt der eigenen Person sichtbar wird, der nicht dem positiven Selbstideal entspricht. Scham ist also ein Vergleich zwischen Selbstideal und Selbst zuungunsten des letzteren.

Scham ist jedoch nicht ein nur intrapsychischer Vorgang, es braucht eine interaktionelle Szene, den bewertenden Blick des anderen und die niedergeschlagenen Augen des Beschämten.

Scham unterbricht einen Handlungsablauf. Schamgefühle entstehen abrupt und plötzlich. Es setzt eine neue Handlungssequenz ein, die der Bewältigung des Schamgefühls dient. Die Schamreaktion lässt sich also auch kommunikativlesen, als Appell des Schämenden, mach nicht weiter, nimm deinen Blick weg von mir, thematisiere mich nicht weiter.

Für die Unterbrechung des Handlungsablaufes zwei Beispiele, ein männliches und ein weibliches Beispiel:

Das männliche Beispiel: Ein Paar hat sex zusammen, der Mann hat einen frühzeitigen Samenerguss, er schämt sich, er erlebt die Ejaculatio praecox als unmännlich und zieht sich zurück. Sie fühlt sich abgewiesen. Sie denkt, dass er so früh kommt, macht mir nicht soviel aus, aber dass er so mit seiner Blamage beschäftigt ist, das schon.

Das ist ein wichtiger unterschied zwischen „Scham“ und „Peinlichkeit“: bei der Scham ist man in der ganzen Person in seiner Handlungssouveränität beeinträchtigt.

Für das weibliche Beispiel ist die sexuelle Lustlosigkeit die Hauptstörung mit einer Prävalenz von 20 %. Die sexuelle Scham zeigt sich hier an einem sehr auffälligen Phänomen: die Frauen, wissen sehr genau, was sie nicht wollen, und was sie am Verhalten ihres Partners stört. Aber sie können kaum Auskunft darüber geben, was sie stattdessen wollen. Frauen mit dieser Störung sind meist sehr kompetent zum „Nein“ bei der Sexualität, aber wenig kompetent zum „Ja“; sie haben keine bewusstseinsnahe Vorstellung davon, was sie wollen. Es liegt nicht ein Mangel an Lust, sondern ein zuviel an Scham vor.

Das hat auch mit sexueller Sprachkultur zu tun. Die dominante Paar-Kultur heute ist durch romantische und demokratische Werte definiert.

Das Romantische Ideal heißt:

Das Demokratische Ideal heißt:

Dieser Hintergrund definiert die demokratisch-romantische Sprache in Paarbeziehungen. Daneben gibt es eine „inoffizielle“ Triebsprache, die weder romantisch noch demokratisch ist.

Dominanz statt Konsens

Territorialität statt Gemeinsamkeit

Transitivität

Sex-als-Sex oder Sex-als-Liebe

Das sind jedoch kulturelle Vorgaben, die sich individuell bewegen lassen. Die Schamgrenze kann beweglich und durchlässig gemacht werden.

Ein möglicher weiterer Weg in der Sexualtherapie ist das „Ideale sexuelle Szenario“.

Das Verhandeln, ob und was davon gezeigt werden kann, bringt das zuerst noch intrapsychische Spannungsbild zwischen Selbst und Selbstbild in einer interaktionelle Szene zwischen dem, was ich aufgeschrieben habe, also dem Ausdruck des sexuellen Selbst, und dem, was ich im bewertenden Auge des Partners vermute, also das zugeschriebene Selbstideal im Auge des Partners.

Diese Differenz kann nun ein positives oder ein negatives Vorzeichen tragen, also das Selbst kann sexueller sein oder weniger sexuell sein als das Selbstideal.

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