Die Objektbeziehungstheorie ist eine Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie. Man versteht darunter verschiedene Ansätze, denen gemeinsam ist, dass sie die Aufmerksamkeit nicht mehr wie Sigmund Freud ausschließlich auf die Triebentwicklung richten. Stattdessen stellen sie die Beziehung des Kindes zu seinem sozialen Umfeld und die Vorstellungen des Kindes über sich und seine Bezugspersonen in den Vordergrund.
Begriff Objekt
Dabei wandelte sich die Bedeutung des Begriffes „Objekt“ gegenüber der Freud’schen Theorie. Freud fasste darunter eine Person oder einen Gegenstand, auf den sich eine Triebregung richtet. In der Objektpsychologie wird der Begriff „Objekt“ hingegen im Rahmen der Interaktion zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen definiert. Während das „Objekt“ bei Freud weitgehend passiv erscheint, wird es in der Objektpsychologie als ein handelndes Gegenüber des kindlichen Subjekts aufgefasst, das auf dessen Verhaltensweisen und Äußerungen reagiert. Gestützt wird diese Auffassung durch spätere empirische Arbeiten zur Säuglingsforschung sowie durch die Bindungstheorie.
Melanie Kleins Theorie
Die Anfänge der Objektpsychologie gehen auf Melanie Klein zurück. Ihrer Auffassung zufolge spielen die Beziehungen des Kindes zu den wichtigen frühen Bezugspersonen, eben den „Objekten“, eine entscheidende Rolle für die spätere Persönlichkeitsentwicklung und weitere Beziehungsgestaltung. Sie prägen die Wahrnehmung und Erwartungen eines Menschen an seine soziale Umwelt. Dabei können die Objekte nach Klein in der kindlichen Vorstellung idealisiert oder entwertet, also geliebt oder gehasst werden.
William Fairbains Ansatz
Zwischen der orthodoxen Psychoanalyse und der Position Kleins bezog die „Britische Objektbeziehungstheorie“ in den 1940er und 1950er Jahre eine unabhängige Zwischenstellung. Als ihr Begründer gilt William Fairbairn.
Fairbairs Theorie der Objektbeziehungen und sein darauf aufbauendes Persönlichkeitsmodell bildet die theoretische Ausgangsbasis für die Arbeiten von bedeutenden Psychoanalytikern wie beispielsweise W. D. Winnicott, Michael Balint, John D. Sutherland, Harry Guntrip, Daniel Stern und Otto Kernberg.
Fairbairns Entwicklung einer umfassenden Objektbeziehungstheorie wird vielfach gepriesen als „Kopernikanische Wende“ innerhalb der psychoanalytischen Theorie der menschlichen Persönlichkeit. Er hat die theoretische Tradition der Objektbeziehungspsychologie begründet, zu der W. D. Winnicott, Michael Balint, John D. Sutherland, Harry Guntrip und viele weitere Autoren bis hin zu Daniel Stern und Otto Kernberg gehören.
Das Hauptanliegen seiner revolutionären Sichtweise besteht in dem Versuch, die Psyc hoanalyse vom „Trieb“ als primärem motivationalen Faktor zu lösen. An die Stelle von Freuds Trieben treten bei Fairbairn die Objektbeziehungen, welche seiner Ansicht nach das hauptsächliche motivationale System bilden. Zudem hat er ein neues Persönlichkeitsmodell entwickelt, das Freuds Ich-Es-Über-Ich-Modell zu einem komplexen System erweitert, in dem auch die Objektbeziehungen und ihr intrapsychischer Niederschlag ihren Platz finden.
Fairbairns Werk führte die Psychoanalyse dahin, das angeborene Bedürfnis des Kleinkindes nach Beziehung und Bindung als essentiell für die menschliche Entwicklung (und auch für die Therapie) anzusehen. Mit seiner Theorie der Objektbeziehungen liefert Fairbairn ein Modell der psychischen Struktur, basierend auf der Verinnerlichung und Modifikation von Erfahrungen mit den Eltern und anderen Personen von zentraler Wichtigkeit für ein Kleinkind. Er zeigt, wie das Selbst bzw. das Ich, aufgrund der Verinnerlichung des Objekts, frühere Enttäuschungen unvermei dlich mit einbezieht in alle folgenden Beziehungen, was schließlich zu einer Ich-Spaltung und einer Unterdrückung der schmerzhaften inneren Objekt-Beziehungen führt.
Fairbairns Theorie bildet bis zum heutigen Tag ein lebendiges Grundgerüst der psychoanalytischen Theorie und Praxis, der Kleinkind-Forschung, der Gruppen-Beziehungen und der Familientherapie.
Er betont, dass das Kleinkind von Anfang an in realistischer Art und Weise auf andere Menschen bezogen ist und diese Beziehungen die Basis für sein inneres Erleben sind. Als grundlegende Motivation des Kindes sah er nicht die Triebregungen an, sondern den Wunsch danach, Beziehungen aufzubauen. Während für Melanie Klein Liebe und Hass als phantasierte Momente in den frühen Beziehungen wichtig sind, stellt Fairbairn hingegen die tatsächliche Beziehungserfahrung des Kindes ins Zentrum. Durch ungünstige Erfahrungen, etwa die Enttäuschung des Bedürfnisses nach Zuwendung oder aber Überfürsorglichkeit, kommt es, Fairbairn zufolge, zur Herausbildung einer innerpsychischen Struktur, in der diese Erlebnisse in Form entsprechender Ich-Anteile abgespalten werden.
In der Praxis wurde Fairbairns Konzept vor allem für das Verständnis von Patienten mit Borderline-Störung sowie von Opfern sexuellen Missbrauchs bedeutungsvoll. Zudem führte Fairbairns Ansatz zur Entwicklung der Relationalen Psychoanalyse. Andere Weiterentwicklungen der Objektpsychologie sind Heinz Kohuts Konzept der Selbstpsychologie sowie die Arbeiten von Daniel Stern und Otto Kernberg.
Hierzu erzählt Michael Balint das schöne Beispiel vom Purzelbaum in der Therapiestunde: »Es war zu jener Zeit, als ich einmal die Deutung gab, es sei für sie (die Patientin,E.S.) sehr wichtig,immer den Kopfoben und die Füße fest aufden Erdboden zu behalten.Darauf erwähnte sie,dass sie es seit frühester Kindheit nie fertiggebracht habe,einen Purzelbaum zu schlagen,obwohl sie es oft versucht hatte und ganz verzweifelt war,wenn es nicht ging.Ich warf ein:›Na,und jetzt ?‹– worauf sie von der Couch aufstand und zu ihrer eigenen größten Überraschung ohne weiteres aufdem Teppich einen tadellosen Purzelbaum schlug.Dies erwies sich als ein wahrer Durchbruch…« Michael Balint (1986–1970) war wohl einer der kreativsten Köpfe in der bisherigen Geschichte der Psychoanalyse.