Leidenschaften II

Mankind’s Eternal Dilemma; the Choice between Virtue and Vice, circa 1633. Painted by Frans Francken II This intricate allegorical painting explores the moral struggle between virtue and vice. The upper part depicts a grand palace setting, where Virtue, represented by noble and modest figures, guides mankind toward divine wisdom and celestial rewards, as shown by angels and divine beings above. In contrast, the right side shows Vice, portrayed with indulgent, sensual pleasures and decadence, leading to moral decay. Below, a hellish scene with demons and tormented souls illustrates the consequences of vice, emphasizing eternal damnation. Francken masterfully contrasts light and dark, moral elevation and degradation, presenting humanity’s perpetual moral choice.

Leidenschaft, Moral und Vernunft

Schon die Vor-Sokratiker verkündeten: „Man hüte sich, die Leidenschaften zu wecken.“ Plato war davon beeinflusst, wenn er in den Ideen hinter den Dingen das höchste sah.

Aristoteles behandelt in seiner „Nikomachischen Ethik“ auch Leidenschaften wie Lust, Begierde, Zorn, Freude, Hass und Eifersucht und nennt sie „Bewegungen der Seele“. Er brandmarkt zwar die „Übertreibung“ als „fehlerhaft“ und plädiert für die Tugend als die Mitte zwischen den Extremen, hält aber die Lust durchaus für eine Leidenschaft, die dem Leben förderlich ist. „Die Frage, ob wir das Leben wegen der Lust oder die Lust wegen des Lebens begehren, mag offen bleiben. Denn beide sind so eng miteinander verknüpft, dass keine Trennung möglich ist. Ohne Tätigkeit aber gibt es keine Lust, und jede Tätigkeit wird von der Lust zur Vollendung gebracht.“

‚Paulina in the Temple of Isis‘ by Fortunino Matania, c. 1939

Für die Stoiker sind Leidenschaften die Folge „fehlerhafter Verstandesurteile“, die als „unvernünftige Strebungen der Seele“ „außerhalb der Vernunft“ stehen. Hier wird eindeutig moralisiert. Leidenschaft wird grundsätzlich als unvernünftig und schädlich verworfen.

Bei Thomas von Aquin wiederum schließen sich wie bei Plato sittliche Tugend und Leidenschaft nicht aus. Bei ihm sind Leidenschaften „weder gut noch böse“. Sie ergreifen sogar das geistige streben, den freien Willen, die Vernunft; sie führen aber sogleich ein Eigenleben, und zwar als „begehrfähige“ Leidenschaften wie Liebe, Verlangen und Freude, als „kampffähige“ Leidenschaft wie Wut und Zorn.

Eine begehrfähige Leidenschaft – ‚The Kiss‘, artist : Konstantin Somov, 1914.

Dem Willen und der Vernunft wird aber ein regelnder Einfluss zuerkannt. Die Bewertung der Leidenschaften hängt also davon ab, inwieweit sie von der Vernunft kontrolliert, gesteuert werden.

Eine begehrfähige oder eine kampffähige Leidenschaft? Wir wissen es nicht, aber leidenschaftlich ist das sicher. – „Dante and Virgil“ by William-Adolphe Bouguereau (1850) Musée d’Orsay, Paris, France.

Diesem ausgewogenen Urteil des Thomas von Aquin stehen eine Fülle ausdrücklich negativer Bewertungen durch die Kirchenväter des Mittelalters gegenüber. Bei ihnen sind die Leidenschaften Todsünden wider Gott.

Die sieben Todsünden heißen: Unmäßigkeit oder Völlerei, Zorn oder Hass, Stolz, Habsucht oder Geiz, Trägheit oder Faulheit, Müßiggang sowie Unkeuschheit oder Unzucht.

Die Liste der sieben Hauptsünden wird angeführt von Hochmut und Eitelkeit (lat.: Superbia) – Allegorie von Willem van Mieris (1662–1747)

Nr. 2: Geiz, Habgier (Avaritia) – nach dem Petrarcameister (1. Drittel 16. Jahrhundert).

Nr. 3: Wollust (Luxuria) – ihre Höllenstrafen nach Vasari und Zuccari (16. Jahrhundert) in der Kuppel des Doms S. Maria del Fiore in Florenz.

Nr. 4: Zorn, Wut (Ira) – in der Kapelle Saint-Sébastien in Roubion (um 1510).

Nr. 5: Völlerei, Gefräßigkeit (r.; Gula neben der Wollust) – Kupferstich (um 1600).

Nr. 6: Neid, Eifersucht (Invidia) – Fresko in der Arenakapelle in Padua von Giotto di Bondone (um 1306).

Nr. 7: Faulheit (Acedia) – nach Eduard Ille (1861). Die Anfangsbuchstaben der lateinischen Wörter ergeben das Akronym „Saligia“.

Speziell der Wollust wird der Kampf angesagt. Eine allgemeine Verteufelung der Sexualität setzte im Mittelalter ein, deren Spuren bis heute nachwirken. Nicht nur Wollust als sexuelle Lust wurde verdammt, vielmehr Lust überhaupt, die Freude am sinnlichen Leben, die Erotik, ja alle Körperlichkeit. Alle Gefühle waren geläutert: Man betete die Geliebte an, verehrte ihre Schönheit und verachtete mit der Geringschätzung der Sexualität ihre Naturhaftigkeit.

Alle Gefühle waren geläutert: Man betete die Geliebte an – das Minnesängertum

Kommt ihr Jungfern helft mir klagen
Meine Jungfernschaft ist hin
Ach, ich möchte schier verzagen
Wenn ich denk‘ in meinem Sinn

(Geschlechtliche) Liebe wurde in fataler Weise mit Unheil und Tod in Zusammenhang gebracht, eine unselige Verknüpfung, die den Menschen bis zum heutigen Tag viel Leid beschert.

In der Neuzeit spielt zwar die Problematik zwischen religiösem Heil und Sünde nicht mehr dieselbe Rolle wie im Mittelalter. Der Zwiespalt zwischen Moral und Leidenschaftlichkeit besteht aber unvermindert weiter.

Bei Schopenhauer wird in „Die Welt als Wille und Vorstellung“ einerseits der „Wille zum Leben“ als „Lebenstrieb“ gelobt: „Alles drängt und treibt zum Dasein, zur möglichen Steigerung desselben.“ Dazu gehört nicht nur der Wille zur Selbsterhaltung, sondern auch der Geschlechtstrieb, der „Kern des Lebenstriebes“. Andererseits hebt dieser Trieb Sorglosigkeit, Heiterkeit und Unschuld auf und bringt Unglück in die Welt, nämlich „Unrast, Melancholie, Unfälle, Sorge und Not“.

Sehr deutlich sah Friedrich Nietzsche das „Stück roher Kultur“ in uns. In „Menschliches, Allzumenschliches“ schrieb er unmissverständlich: „Ohne Lust kein Leben.“ An anderer Stelle heißt es: „Das Unlogische der Leidenschaften ist notwendig zum Leben.“ Die Moralvorschriften der Kirche sind nach Nietzsche „in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen deren Glück nicht“. „Die Gewalt der moralischen Vorurteile ist tief in die geistige…. Welt gedrungen…, schädigend, hemmend, blendend, verdrehend.“

Edvard Munch – Nietzsche

Das Ziel lautet, nach Nietzsche, in Abwandlung des berühmten freudschen Ausspruches „aus Es muss Ich werden“ somit: „Aus Über-Ich muss Ich werden.“ Sonst sind seelische Störungen und Ressentiments die folge. Dafür müssen „die großen Verbrechen der Psychologie rückgängig gemacht werden“, nämlich folgende: 1. „dass alle Unlust mit Schuld gefälscht ist“, 2. „dass alle starken Lustgefühle als sündlich… gebrandmarkt worden sind“, 3. dass alles Große Entselbstung, Sich-Opfern, Entpersönlichung sein soll“, 4. „dass die Liebe gefälscht worden ist als Hingebung und Altruismus, während sie ein Hinzunehmen ist oder ein Abgeben infolge eines Überreichtums an Persönlichkeit“, 5. „dass Leben als Strafe, dass Glück als Versuchung und dass die Leidenschaften als teuflisch hingestellt worden sind“.

Salvador Dalí – Die Versuchung des heiligen Antonius

Die Versuchung des Heiligen Antonius von Joos Van Craesbeeck

Veröffentlicht am
Kategorisiert in Blog

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert