Leidenschaften

Leidenschaft - Liebe, Hass, Neid, Eifersucht

Wir leben in einer gefühls- und leidenschaftslosen Welt, beherrscht von Technik und wirtschaftlichem Expansionsdrang, und doch steuern uns unbewusst heftige Gefühle, auch wenn sie verdrängt sind.

Es gilt, die Sprache unserer Gefühle, Affekte und Leidenschaften, die uns niemand lehrte, wiederzuentdecken oder neu zu erfinden.

Phänomenologie einer leidenschaftslosen Gesellschaft

Die heutige Welt ist eine komplizierte Welt. Die politischen Probleme sind schwierig geworden. Politiker und Wirtschaftsexperten bemühen sich unter Einsatz eines Managements mit Funktionären, Sachverständigen und Beratern um Lösungen. Krisenstäbe werden gebildet. Komplizierte Berechnungen mit Hilfe elektronischer Datenverarbeitung sind zur besseren Erfassung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Prozesse notwendig geworden.

Ziel ist es, unter Nutzung technischer Apparaturen diese Prozesse unter Kontrolle zu bekommen, sie rational zu beherrschen und zu steuern. Das Ergebnis ist die Technokratie, das heißt die Herrschaft der Technik, in der ausschließlich der technische Fortschritt Wirtschaft und Politik bestimmt.

Selige Sehnsucht – Johann Wolfgang von Goethe

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Der Mensch hat in einer derart technokratischen Welt keinen Platz mehr. Er wird vielfach durch Apparate ersetzt. Wird er noch als Mensch gebraucht, dann muss er wie ein Roboter oder PC funktionieren. Dass er Bedürfnisse, Gefühle und Wünsche hat, ist in einer solchen Welt nicht vorgesehen. Gefühle gelten als Gefühlsduselei. Selbst in der Freizeit herrscht die industrielle, durch Reisebüros vorfabrizierte Fertigung, der sich menschliche Bedürfnisse unterwerfen müssen.

Dass Menschen auch anders leben können, haben wir vergessen: geschüttelt von Leidenschaften, verstrickt in gegenseitigen Hass, der die Menschen nicht nur tage-, sondern monate-, ja jahrelang verfolgt; ergriffen von schmachtender Liebe, gequält von Eifersucht, gelb vor Neid, blind vor Wut, besinnungslos in der Hingabe, erbarmungslos in der Rache.

Dass Menschen so leben können, ist überliefert: in Dramen, Romanen, Epen. Die griechischen Mythen und Tragödien bezeugen es, desgleichen die Literatur der Romantik, die des 19. Jahrhunderts. Romane wie Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ spiegeln ebenso die Gefühle jener Zeit wider, wie sie die Gefühle der lesenden Menschen identifikatorisch beeindruckten. Gefühle beherrschen die Menschen, Leidenschaften steuern sie. Gäbe es eine Gefühl und Leidenschaft entsprechende Herrschaftsform, man könnte von Passiokratie sprechen, das heißt: Herrschaft der Leidenschaft.

Wir sind kaum noch zu spontanen Gefühlsäußerungen fähig. Auf die Sekunde genau leisten wir klar nach Uhrzeit geregelt unsere tägliche Arbeit. Dabei steht nicht nur der Arbeiter am Fließband unter dem Diktat entfremdeter Tätigkeit, auch der Angestellte und der Chef sind Sachzwängen untergeordnet, die ihnen kaum noch eine persönliche Freiheit lassen, wie sie ihnen im Grundgesetz garantiert ist. Selbst der Freiraum Freizeit ist vorprogrammiert: Sehenswürdigkeiten werden wie am Fließband konsumiert, fotografiert und im Reiseführer abgehakt. Für neue, auflockernde Erlebnisse, leidenschaftliche Begegnungen bleibt keine Zeit.

Liebe, Gefühle und Kommunikation gibt es zum Beispiel beim Picknick. Emile Claus (Belgian painter) Le Pique-Nique, ca. 1887

Wundert es uns da, wenn die Persönlichkeit des Menschen zum „Charakterpanzer“ erstarrt ist, innerlich durch dieselben Zwänge eingeengt, die den Menschen äußerlich beherrschen, wenn er, als „autoritärer Charakter“ zwar selbst autoritätsgebunden, aber autoritär andere unterdrückt und, anstatt freigebig, unordentlich und ungebunden leben zu können, sparsam, ordentlich und pünktlich handeln muss? Solche Menschen haben keinen Zugang zu ihrem Gefühlsleben. Sie sind gefühllos, leidenschaftslos. Sie entscheiden rational, denken pragmatisch und funktionieren dabei äußerlich einwandfrei. Sie leisten das, was die Gesellschaft fordert: Menschen ohne Leidenschaft in einer Welt ohne Leidenschaft.

Gefühl und Leidenschaft sind uns weitgehend verlorengegangen, ohne dass uns dies als Verlust, Defizit oder Mangel bewusst wäre. Wir funktionieren zwar äußerlich einwandfrei, obwohl unser Leben dabei vielfach stagniert und viele an innerer Leere und Langeweile, wenn schon nicht leiden, so doch eine Art Unbehagen empfinden.

Ursache ist die allgemeine Entwertung all dessen, was Leidenschaftlichkeit heißt, oder, umgekehrt formuliert, Ursache ist die Idealisierung der Leidenschaftslosigkeit, der Rationalität, der Technik.

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