Alle Dinge sind leicht; schwer ist nur die Kunst, dahin zu gelangen, wo sie es werden.
Es gehört zu den verlorenen Erinnerungen der Zivilisation, dass sich in der Materie nicht nur etymologisch «Mutterstoff» verbirgt. Der Gewinn, den die Menschheit aus diesem Verlust gezogen hat, mag zu ihrem sprunghaften Fortschritt beigetragen haben: Es hat uns indessen ebenso weit von Goethes Natur entfernt und zugleich dem, was für ihn Bildung heisst, den Boden entzogen.
Wissen Sie, wann das Leben anfängt? Das Leben fängt an, wenn Sie eine Strasse sperren.
So geschehen – und von Goethe beschrieben – in «Das römische Karneval», einem Höhepunkt seiner italienischen Reise 1786. Eine Barriere beim Obelisken der Piazza del Popolo, eine beim Palazzo Venezia, und die drei Kilometer lange Strasse dazwischen wird zum Corso, zu Deutsch: zur Laufbahn. Nur: Von Laufen kann erst einmal keine Rede mehr sein. Das Gedränge lässt den Kutschen gerade so viel Raum, dass sie die Strecke im Schritttempo abfahren können.
Aber man hat nicht angespannt, um vom Fleck zu kommen, sondern um sich zu zeigen. Die gehobene Welt wird von zahllosen Masken zu Fuss bedrängt, belacht, mit Konfetti oder Bonbons eingedeckt. Frauen kommen im Männerkostüm und umgekehrt, dafür sehen echte Geistliche wie verkleidet aus, und der Wache leistet man erst Folge, wenn sie die Strecke für das allabendliche Pferderennen räumt. Die närrischen Tage bieten dem Erzähler ein Konzentrat jenes freien Lebens, das er in Italien gesucht und für sich selbst gefunden hat. Hier geht ihm ein vermeintliches Paradox in Fleisch und Blut über: Man muss das Leben nur an Grenzen binden, um es ins scheinbar Unbegrenzte zu steigern. In Italien erlebt er als soziales und kulturelles Phänomen, was er in den Rang eines Naturgesetzes erheben wird: Begrenzungen sind keine Hindernisse des Lebens, sie sind seine Bedingung.
1: Advokat mit Pulcinellen | 2: Neapolitanischer Sbirre mit Neapolitanern | 3: Quacquero mit Bettlerpaar | 4: Hahnrei, Wahrsager und Quacqueri | 5: Nordländer, Tabarri | 6: Masken mit Tüchern, Pulcinell
DAS LEBEN ALS GRENZPHÄNOMEN
Nach der Rückkehr muss ihm das Studium der Farben das südliche Licht ersetzen, und nun bestätigt es ihm auch seine Physik: Farben entstehen als Grenzphänomene zwischen Hell und Dunkel. Die Ränder sind die Zone des Wachstums; hier bilden die Kontrahenten ein Drittes, erzeugen die Pole Spannung, den Corso des Lebens. Lineares Wachstum bleibt für Goethe gestaltlos, es kommt eigentlich nur als bösartiges oder rein mathematisches vor, was für ihn fast auf eins hinausläuft. Das Leben bedarf der Nische, eines polarisierenden Gefässes, um die ihm eingeprägte Form erst zu finden, dann zu entwickeln.
Aber auch Entwicklung bedeutet wiederum neue Begrenzung; für die Farbe heisst das: sie rundet sich zum Farbkreis, für die Pflanze: ihr Wachstum tendiert zur Spirale. Nur wenn Materie erstarrt, verfällt sie der geraden Linie; soll ihre Essenz beweglich bleiben, nimmt sie Kugelform an, vom Tautropfen bis zum Himmelskörper. Auch die Erde hat Goethe als atmende Sphäre gesehen, eingehüllt vom Schutzmantel ihrer Atmosphäre – damit nahm er die «Gaia-Theorie» der modernen Lebenswissenschafterin Lynn Margulis vorweg. Jenseits erstreckt sich der ungeheure, darum leblose Raum, ein kosmisches Vakuum, in dem sich das Perpetuum mobile des Sonnensystems nach Newton’schen Gesetzen drehen mag. Aber für dieses Universum sind wir nicht geschaffen, und seine Sprache, die reine Mathematik, hat unseren Sinnen nichts zu sagen: Sie kommandiert Verhältnisse, aber entwickelt keine bildende Kraft.
Das sehen wir – dank einer zu Goethes Zeiten noch unvorstellbaren Teleskopie – inzwischen anders. Aber schon bei den Wissenschaftern seiner Zeit kam Goethe mit seiner Farbenlehre in Teufels Küche. Das hätte den Schöpfer Mephistos eigentlich nicht stören dürfen. Dies war aber nun der eine Fall seines Forscherlebens, wo er keinen Spass verstand. Denn im Newton’schen Spektrum steckt für ihn nicht nur der Teufel, sondern auch der Tod, will sagen: Hier drohte die Entleibung, Entsinnlichung eines Phänomens. Nicht umsonst hat er «Spektrum» so korrekt wie boshaft als «Gespenst» verdeutscht.
Die Wahrnehmung allein war für Goethe das Fundament jener Wahrheit, die uns bekam und gebührte. Denn sie akzeptierte den Gegenstand in der Form, in der es ihm gefiel, uns zu erscheinen. Jede sogenannte Wahrheit mochte trügen; der Schein trog nicht. Mit Goethes Respekt vor Würde und Eigen-Sinn des Objekts hätte es die moderne Naturwissenschaft, zumal in ihrer technologischen Anwendung, nicht «so herrlich weit gebracht». Sie hat den Leitfaden des Newton’schen Spektrums nach beiden Seiten weiter ausgerollt, und auf dem endlosen Band elektromagnetischer Wellen nehmen die Farben, die wir sehen können, nur einen bescheidenen Platz ein.
Was die Unwissenschaftlichkeit von Goethes Ansatz betrifft, so hat Werner Heisenberg, also einer, der es wissen müsste, dazu eine ganz eigene Meinung: «Wenn man (. . .) fragt, warum die Newton’sche Optik den Sieg über Goethes Farbenlehre davongetragen hat, so wird man neben manchen andern Gründen feststellen können, dass zwar sehr viele Menschen erfolgreich an der Weiterbildung und Nutzanwendung der Newton’schen Optik arbeiten konnten, dass aber zur Weiterbildung der Goethe’schen Farbenlehre eine sehr hohe künstlerische und wissenschaftliche Begabung nötig gewesen wäre.»
Begabung, Bildung – dabei könnte es um die Kunst gehen, wie man Lasten ohne überflüssigen Aufwand bewegt. Dafür hat sich der praktische Menschenverstand schon lange bestimmter Tricks bedient: Beim Flaschenzug spielt, wie beim Fahrrad, die richtige Übersetzung eine Rolle; für die Bewegung eines Balkens – oder einer Marionette – arbeitet man mit dem richtigen Schwerpunkt, und dabei bleibt man am besten auch selbst im Gleichgewicht. Goethe hat von einem «deutsch» genannten Charakter gesagt, über ihm werde alles schwer, und er werde schwer über allem. Goethe konnte «leichtsinnig» sein, und zwar gerade in dem Punkt, wo es eben noch besonders ernst galt: beim Setzen von Grenzen. Nach dem römischen Beispiel, in dem sie Leben gestiftet haben, ist nun eines fällig, wo sie Leben verhindern. Das Lob der Grenzüberschreitung war Goethe früher so «natürlich» wie irgendeinem jungen Menschen; als Dichter des «Werther» und des «Prometheus» war er sogar notorisch dafür. Aber ich halte mich an ein Zeugnis des alten Mannes, das naturwissenschaftlich wie literarisch aus dem Rahmen fällt: die Fabrikation einer künstlichen Intelligenz in Faust II.
KOPFGEBURT
Ihr Schöpfer ist jener Famulus Wagner, der sich früher für seine Zuversicht, «wie wir’s doch zuletzt so herrlich weit gebracht», Fausts ironische Entgegnung einhandelt: «O ja, bis an die Sterne weit.» Wenn Faust nicht gerade im Heilschlaf läge, müsste er seinem Wagner zu einem wissenschaftlichen Durchbruch gratulieren. Der forschende Junggeselle hat einen Weg gefunden, die Sexualität – und auch Mutter Natur – beim Zeugen überflüssig zu machen. Wissenschaftshistorisch betrachtet, war der Homunculus, das Kunstmenschlein, das sich Wagner in der Retorte gezogen hat, ein Produkt der Harnsäure-Kristallisation, der man damals die Genese von Leben zutraute. Und die Kopfgeburt im Glas deutet auch gleich an, dass sie sich auf Männerwitze versteht. Dann aber emanzipiert sie sich von ihrem Erzeuger und entschwebt über alle Berge ans griechische Meer. Homunculus will «auf rechte Art entstehn» – er hat nichts Dringenderes zu tun, als seine lebensrettende Raumkapsel am Muschelwagen der Liebesgöttin Galathee zu zerschlagen, um als Einzeller im mythologischen Fruchtwasser wieder ganz von vorn anzufangen. Damit kehrt er auf den biologischen Dienstweg der natürlichen Evolution zurück.
Der Leichtsinn verlangt die Feststellung, dass Goethe sich widerspricht. Am römischen Karneval bedurfte es nur eines begrenzten Raums, damit sich darin alles erdenkliche Leben von selbst entwickelte. Homunculus aber – und Faust erst recht – drängen um jeden Preis aus ihren begrenzten Bedingungen heraus. Ihnen wird das Gefäss zum Gefängnis, und um es zu sprengen, scheute Faust auch nicht davor zurück, seine Seele dem Teufel zu verpfänden. Nur: Sein ungeduldiger Geist bewohnt immer noch einen organisierten Leib, und diesem ist das morphologische Programm – das Potenzial zur Bildung – von Haus aus eingeschrieben. Faust mag irren, wie er will und muss: Die Natur selbst ist es, die in ihm einer höheren Form entgegenstrebt, und solange er tätig ist, wird sie ihn nicht fallen lassen. Dagegen verfügt Homunculus, die Super-Intelligenz, als chemisch-mineralogisches Produkt nur über ein eingeschränktes Entwicklungsrepertoire. In der anorganischen Physik geht es bei Goethe geometrisch, mit Ecken und Kanten, darum keineswegs unspektakulär zu: Mineralische Kristalle oder solche der Schneeflocken kann man auch zum Vollkommensten zählen, was dem Auge begegnet. Nur: Sie leben nicht, und dass sie den Sternen gleichen, kann er nicht für Zufall halten. Denn im Fundament wie am Firmament der Schöpfung herrscht gewissermassen Gesetzmässigkeit pur – oder so pur wie möglich. Aber die Beweglichkeit solcher Körper ist eingeschränkt, und jede Steigerung führt zur Zerstörung ihrer Form. Schreiten sie aus ihrer Bahn, so werden sie ruiniert, wie die künstliche Intelligenz des Homunculus im Naturlaboratorium der «Klassischen Walpurgisnacht».
Goethe hat den Fall unnachgiebiger Vollkommenheit an der Ottilie seiner «Wahlverwandtschaften» durchgespielt. Sie ist den Sternen verwandt und besitzt zugleich einen Blick in die verborgenen Schichten der Erde. Ihre Eigenschaften sprengen die Beziehungschemie auf dem Gutshof; dabei oszilliert ihre Gestalt zwischen derjenigen der heiligen Unschuld und der Hexe. Aber auch ihre Selbstzerstörung, mit der sie ihr polares Gegenstück, den quasi fliessenden Charakter Eduards, vollends liquidiert, hat seine naturgesetzliche Richtigkeit. Goethe setzt seine poetische Alchemie einer in seinem Sinn «dämonischen» Intervention aus – derjenigen einer unbedingt, darum auch nicht ganz «menschlich» Liebenden. Ottilies Tagebucheinträge – «jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn» – belegen die polarisierende Kraft ihrer Intelligenz – im Internat hat sie als zurückgebliebene Schülerin gegolten.
DIE INKALKULABLE
Nur: Diesmal liebt Goethe seine Figur dafür, dass ihre Natur nur Entweder-oder kennt – also gerade die Eigenschaft zeigt, für die er die formalisierte Logik nicht lieben kann. Denn unter denen, die nichts weiter sind als human, wirkt sie, Ottilie, als die Inkalkulable. In ihr verbirgt sich ein ganz eigenes, un-heimliches Entwicklungsgesetz, ihr liefert der Autor die Entelechie seines Romans aus, auch wenn sie ihn in die Katastrophe führt, über die «Grenzen der Menschheit» hinaus. Das Mathematische mag nicht zuständig sein für das Gebildete. Aber das Gebildete weiss nichts, oder nie genug, von der Strenge der Seele.
Wenn Mathematik immer noch einigen Schülern Spass macht – bei «Bildung» hört er für die meisten auf. Für Goethe fängt er da erst richtig an – leider haben wir verlernt, «Bildung» so elementar zu verstehen wie er. Für Goethe ist nicht erst der Akademiker gebildet – vielleicht weniger als der Kiesel, den er warf, als er es noch nicht so herrlich weit gebracht hatte. Gebildet ist schon jedes Stück Natur in unserer Hand, auch der Stein ist ein Gegenstand «zarter Empirie», und seine Bildung setzt sich fort, «steigert» sich in der Spur, die er in die Organisation des menschlichen Subjekts zeichnet. Die in Goethes Sinn gebildete Frage gilt daher nie zuerst dem Woher, Wozu und Warum eines Gegenstandes, sondern seinem Wie. Das morphologische Interesse verweilt beim Phänomenalen des Gegenstandes. Sie führt niemals voreilig vom Einzelnen weg in die Abstraktion oder die Reduktion, sondern immer tiefer ins Lebendige hinein. Die Bildung der Dinge sei, nach Goethe, ihre Mitgift an unsere eigene Entwicklungsfähigkeit, und sie appelliert an die gemeinsame Naturverwandtschaft. Forschung in Goethes Sinn ist geschwisterliche – wir würden sagen: ökologische Liebesmüh; sie offenbart mit jedem «Aperçu» die gemeinschaftliche Wurzel von Subjekt und Objekt im Reich der «Grossen Mutter», deren Einfallsreichtum jeder Verallgemeinerung spottet. «Was ist das Allgemeine? Der einzelne Fall.»
Auf diese Kernmaxime von Goethes Naturwissenschaft lässt sich freilich keinerlei Statistik gründen, geschweige denn eine grenzenlose Technologie oder eine globale Ökonomie. Beide leben vom Bedürfnis, das Wie der Objekte hinter das Wozu zurückzustellen – für Goethe: eine barbarische Praxis. Wenn der «Wilde» die Natur instrumentalisiert, tut er es aus Not, doch ohne dem Tier, das er für den eigenen Lebensunterhalt tötet, die Ehrfurcht oder gar religiöse Verehrung schuldig zu bleiben. Es gehören Barbaren dazu, das Produkt der Schöpfung ohne Not als «Verbraucher» zu behandeln. Dass der Mensch die eigene Würde aus den Umgangsformen mit seinen Gegenständen zieht, dass sich in seinen Materien nicht nur etymologisch «Mutterstoff» verbirgt, gehört zu den verlorenen Erinnerungen der Zivilisation. Der Gewinn, den sie aus diesem Verlust gezogen hat, mag zu ihrem sprunghaften Fortschritt viel beigetragen haben: Sie hat uns ebenso weit von Goethes Natur entfernt und zugleich dem, was für ihn Bildung heisst, den Boden entzogen.
Goethes Frage an die Gegenstände seines Interesses bleibt diejenige des Liebhabers – keineswegs abschätzig betrachtet er sich selbst als «Dilettanten» – und lautet darum nicht: Was mache ich mir daraus?, sondern: Was macht das aus mir? An diesem Punkt beginnt Goethes Spass. Denn da glaubt er auch dem der Natur eigenen Humor am nächsten zu sein, der Quelle eines unerschöpflichen Spieltriebs, der sich im Menschen einen adäquaten, einen bewussten Gefährten sucht. In ihm will das Gesetz, das er in der Natur beobachtet, durch «Steigerung» beweglich werden, ein Stück Freiheit, mit dem er seine Grenzen überschreitet, ohne ihren Schutz entbehren zu müssen – in dem er aber auch bereit ist, den Eigensinn der Natur zu ertragen und sich ihren Widersprüchen auszusetzen. Damit aber die Frage an die Natur den Frager selbst bilde, kann sie nicht geduldig genug gestellt sein – Übereilung war für Goethe der Ursprung aller Übel, die durch den Menschen in die Welt gekommen sind. Ganz ähnlich hat später auch Kafka in seinem Tagebuch die Ungeduld, «das scheinbare Einpfählen der scheinbaren Sache» für den Verlust des Paradieses verantwortlich gemacht.
SELBSTBEHAUPTUNG
«Spass» – wie viel Ernst dazu gehört, ihn zu verstehen, hat Goethe auch in eigener Sache mit der Charakteristik seines «Faust» – «diese sehr ernsten Scherze» – mehr als deutlich gemacht. Dass man beim Spieltrieb der Natur auf die grössten Überraschungen gefasst sein muss, dass es ihr auch nichts ausmacht, dass es ihr zusteht, dem Bedürfnis nach Ordnung und Stetigkeit böse Streiche zu spielen, hat er sich nicht verhehlt – auch wenn er gewissermassen Gegenrecht hielt und sich die Freiheit nahm, darauf nicht einzugehen. Etwa auf die Hauptrolle des ungeliebten Vulkanismus bei der Bildung der Erde, die er – spätestens nach den Zeugnissen Alexander von Humboldts – immer weniger leugnen konnte. Dafür liess er sie getrost des Teufels sein – sogar im empfindlichen Fall der Alpenbildung, bei der Mephisto persönlich dabei gewesen sein wollte: Warum sollte er ihm widersprechen? Dass Goethes quasi höchstpersönliches Urgestein, der Granit, auf den er seinen ungeschriebenen Roman «Über das Weltall» hatte gründen wollen, schon auf dem Brocken ein «Teufelsaltar» gewesen war und als Tanzplatz der Hexen gedient hatte, war ihm nichts Neues. Er leistete sich immer noch den Spass, sich aus der Natur eben nur das zu nehmen, was zu seiner persönlichen Bildung beitrug, und dabei war er nicht zimperlicher als sie selbst. In der Geschichte beispielsweise sah er kein bildungswürdiges Naturgesetz am Werk, und der Satz: «den Tod statuiere ich nicht», zu dem sich der alte Mann im Gespräch mit Kanzler Müller verstieg, war wohl das stärkste Stück von Selbstbehauptung angesichts anders lautender und durchaus widerwärtiger Tatsachen. Das Gegenspiel, das er im Namen seiner Natur anzettelte, lautete «Tätigkeit» – von dieser erhoffte er sich eine Metamorphose, über welche der physische Tod keine Gewalt besass.
Wer die Polarität «Leben – Tod» steigern will, zieht eine übernatürliche Sphäre an, vor der Goethe ähnlich graute wie vor dem Horror vacui, der Grenzenlosigkeit des leeren Firmaments. Aber sein Lebenswerk ist ein einziger Versuch, dieses Grauen vor der Erstarrung in Schaudern – «der Menschheit bestes Teil» – vor dem Lebendigen zu verwandeln. So setzt er die Gesellschaft der «Wahlverwandtschaften» dem Einfluss des Urphänomens Ottilie aus. Oder er versetzt den gestirnten Himmel geradezu ins Innere einer zugleich gross-mütterlichen und jungfräulichen Romanfigur, der invaliden Makarie, damit sie, ihrem Kopfweh zum Trotz, der ins Maschinenzeitalter aufbrechenden Gesellschaft der «Wanderjahre» noch einmal eine höhere Art von Korrespondenz, einen kosmischen Halt unterlege.
Und im gleichen Roman – der alle Formen seiner Gattung sprengt – spricht eine junge Dame gelassen aus, was das Ende der moralischen Welt sein könnte, womit wir uns aber, worauf Goethe vertraut, noch lange in der natürlichen befinden. Hersiliens Oheim, der Gutsherr, hat nach islamischem Vorbild seine vier Wände mit Sprüchen der Lebensweisheit gesichert, und sie bemerkt dazu: «Ich finde, dass man sie alle umkehren kann, und dass sie alsdann eben so wahr sind, und vielleicht noch mehr.»
Ein Satz, den Niels Bohr ein Jahrhundert später für die Naturwissenschaften verifiziert hat, im Hinblick auf bestimmte Symmetriegesetze im Bereich der Teilchenphysik: Wahre Sätze seien daran zu erkennen, dass ihr Gegenteil nicht weniger wahr sei. Wie sagte sein Schüler Heisenberg? Es sei eine Begabungsfrage, was sich die moderne Naturwissenschaft aus derjenigen Goethes zu machen wisse. Vielleicht ist es auch eine Frage der rechten Bildung. Wir haben der Natur unsere Instrumente gezeigt; jetzt zeigt sie uns damit unsere Grenzen. Die ihren sind es nicht. Dass die Praxis der Zivilisation von der Illusion grenzenlosen Fortschritts nicht abzubringen ist, könnte Goethe auch belustigt haben. Er hat der bildenden Kraft der Natur zugetraut, dass sie eine ihr nicht bekömmliche Behandlung richtigstellt, wenn wir es nicht anders tun: auf unsere Kosten. Zimperlichkeit ist nicht ihre Art. Wer sich unbedingt verrechnen will, trägt das Risiko dafür selbst, und die Natur erhält ihre Geschöpfe nur um seinen Preis, den sie mit der zu ihren Verhältnissen passenden Bildung zahlen. Die Saurier haben dem Homo sapiens schon vorgemacht, wie man an Übergewicht untergeht.
Kunst habe es mit dem Schweren und Guten zu tun, sagte Goethe, und das gilt wohl auch für die Lebenskunst. Aber mit dem «Schweren» meinte er nicht die Last, sondern das spezifische Gewicht jeder Kreatur. Alle Dinge sind leicht; schwer ist nur die Kunst, dahin zu gelangen, wo sie es werden. Warum wünschen wir erst den Toten, die Erde möge ihnen leicht sein, und nicht schon den Lebenden? Nur weil es schwer ist? Wenn wir Goethe lesen: Es ist nicht schwerer als wir selbst.