Der Kuss

Ist der sexuelle Kuss älter als gedacht? – Fresco aus Pompeji

Wann hat der Mensch das Küssen für sich entdeckt? Genanalysen von Krankheitserregern und historische Dokumente sollen diese Frage beantworten.

Henri de Toulouse-Lautrec, Dans le Lit, Le Baiser , 1892

Fragt man Liebende, so ist der Kuss eine leichte Angelegenheit, eine natürliche Notwendigkeit. Fragt man Wissenschaftler, so wird es kompliziert. Da gibt es das Rätsel, warum Menschen einander als Zeichen höchster Zuneigung mit ihren Lippen berühren – und dieses Verhalten im sexuellen Repertoire anderer Tiere kaum eine Rolle spielt. Rätselhaft auch, wann das Küssen in die Welt kam, warum manche Kulturen es als Selbstverständlichkeit erachten und es bei anderen verpönt ist. Und welche Rolle spielen Viren wie Herpes simplex und andere Erreger, die für ihre eigene Verbreitung geradezu auf küssende Menschen angewiesen sind?

Gustav Klimt, Der Kuss , 1909. Schloss Belvedere, Wien

Die wissenschaftliche Erkundung des Kusses hat im vergangenen Jahr neuen Aufwind bekommen. Damals veröffentlichte ein internationales Forscherteam um die Wissenschaftler der Universitäten Cambridge und Tartu eine große Studie zur Evolutionsgeschichte von Herpes simplex-1. Das Virus ist der Erreger des Lippenherpes, einer lästigen und lebenslang immer wieder aufflamemenden Infektion, an der ein Großteil der Erwachsenen weltweit leidet. Das Virus wird fast ausschließlich über den oralen Kontakt übertragen, weshalb es für die Erforschung der Evolution des Küssens besonders interessant ist.

CORNELIA SCHLEIME Der Kuss, 2007

Die Wissenschaftler hatten für ihre in „Science Advances“ publizierte Studie rund 3000 Erbgutanalysen von archäologischen Funden auf Spuren von HSV-1 untersucht. Die älteste Probe, in der sie fündig wurden, war 1500 Jahre alt: Sie stammte von einem Mann, der im Ural gelebt hatte. Die Forscher verglichen das Erbgut des Herpes-Virus mit dem von heute in der Gesellschaft kursierenden und schätzten darüber seine Mutationsrate ab.

Zunächst entwickelte sich demnach das Virus sehr schleppend. „Vor etwa fünftausend Jahren geschah dann etwas, das es einem Herpesstamm ermöglichte, alle anderen zu überholen“, erklärte Christiana Scheib, Expertin für alte DNA von der Universität Tartu damals. Was das sein könnte, ist für Prähistoriker recht offensichtlich: Vor 5000 Jahren, in der Bronzezeit, kam es zu großen Migrationsbewegungen. Aus den Grasebenen Eurasiens gelangten Menschen nach Europa. Hier kam es zu einem Anstieg der Bevölkerungsdichte. Und was passiert, wenn viele, auch fremde Menschen einander begegnen? Sie nähern sich an – und tauschen Küsse aus.

Francesco Hayez, Le Baiser , 1859. Pinacoteca de Brera, Mailand.

So zumindest die Theorie der Wissenschaftler damals. Sie zogen als Beleg auch ein in Südostasien (Indien) in der Bronzezeit abgefasstes, möglicherweise 3500 Jahre altes Manuskript heran, in dem möglicherweise ein Kuss erwähnt wurde. Die Theorie basiert also auf einem indirekten Beweis: Die Verbreitung des Herpes-Virus dient demnach als Beleg für die Ausbreitung des sexuellen Kusses.

René Magritte: Les amants (Die Liebenden), 1928

Doch nun zeigen neue Funde, dass die These vom südostasiatischen Ursprung des sexuellen Küssens wohl nicht zu halten ist: In „Science“ schreiben Troels Pank Arbøll von der Universität Kopenhagen und seine Kollegin Sophie Lund Rasmussen, dass das Verhalten bereits viel früher ins Verhaltensrepertoire der Menschen aufgenommen wurde. Tonmodelle aus Ägypten und Mesopotamien, die bis zu 4500 Jahre alt sind, zeigen Menschen in eindeutiger Kusshaltung. Das Küssen sei nicht irgendwo plötzlich entstanden und habe sich dann verbreitet, betonen die beiden Wissenschaftler. Vielmehr sei es wohl in vielen verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlichsten Weltregionen erfunden worden.

Auguste Rodin, Der Kuss , 1889 . Rodin-Museum, Paris.

Die Wissenschaftler betonen in ihrer Übersicht, dass bereits in akkadischen Keilschriften zwei Formen des Küssens, das sexuelle und das familiär freundschaftliche, beschrieben wurden. In sumerischen Schriften wird das Berühren der Lippen als postkoitales Verhalten erwähnt.

Roy Lichtenstein: We Rose Up Slowly (Wir tauchen langsam auf), 1964

Biologisch sei sexuelles Küssen quasi ein Partnercheck: Die Küssenden prüften über den Austausch chemischer Moleküle im Speichel und Atem ihre Kompatibilität. Passt alles, würden Bindungsgefühle gestärkt. Wie tief verwurzelt in der Evolution des Menschen das Küssen sei, belegten auch Beobachtungen bei Bonobos (die beim sexuellen Küssen beobachtet wurden) und Schimpansen (bei denen Mütter ihre Kinder anscheinend voller Zuneigung küssen, ein Verhalten, das von Ethologen als familiäres Küssen bezeichnet wird, welches die Bindung stärken soll). Das Verhalten ist demnach keine originär menschliche Entwicklung, sondern reicht möglicherweise sogar bis in eine Zeit vor der Menschwerdung zurück.

Marc Chagall, Der Geburtstag , 1915. Museum of Modern Art, New York.

Die beiden Autoren weisen auch auf zwei Studien aus dem Jahr 2017 hin: Der Fund des Bakteriums Methanobrevibacter oralis, das bei Neandertalern und modernen Menschen gefunden wurde, lässt demnach auf „oralen Austausch“ zwischen diesen beiden Spezies vor 100.000 Jahren rückschließen.

Edvard Munch: Vampir, 1893/94 Der tötende Kuss: Dieser Kuss verheißt nichts Gutes – zumindest nicht für den Mann.

In den Keilschriften aus Mesopotamien seien übrigens auch Krankheiten beschrieben worden, die durchaus als Beschreibung von Lippenherpes durchgehen könnten, schreiben Arbøll und Rasmussen. „Dieses Material sollte allerdings mit Vorsicht genossen werden.“ Die retrospektive Diagnose und die Korrelation mit modernen Krankheiten müsse immer miteinbeziehen, dass alte medizinische Texte von vielen kulturellen und religiösen Konzepten beeinflusst wurden. Doch von der schwierigen Interpretation mesopotamischer Krankenakten abgesehen, belegten die Bild- und Schriftdokumente, dass das sexuelle und familiäre Küssen damals zu Alltag der Menschen gehört hätten.

Lawrence Alma-Tadema: A kiss (Ein Kuss), 1891 Der mütterliche Kuss: Liebevoll küsst diese Frau das kleine Mädchen – und zwar nicht an einem antiken Badeort, sondern am Starnberger See in Bayern.

„Auch wenn einige Gesellschaften den romantisch-sexuellen Kuss nicht praktiziert haben, muss er in den meisten alten Kulturen bekannt gewesen sein“, so die Wissenschaftler. Sie gehen von einer nahezu universellen Verbreitung des sexuellen Küssens aus.

Henryk Siemiradzki: Nach dem Beispiel der Götter, 1879 Der göttliche Kuss: Dieses Liebespaar macht es den Göttern nach – und versinkt in den gleichen Kuss wie die Amor-und-Psyche-Statue.

Klar ist: Die Evolution des Küssens ist längst nicht verstanden. Die Kombination von genetischen Analysen und historischen Zeugnissen aber wird dieser Geschichte noch einige Kapitel hinzufügen.

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