Peter Fonagy, Professor für Psychologie, setzt sich für eine andere Nomenklatur der Persönlichkeitsstörung ein. Lesen Sie im Interview, weshalb:
Sie sagen, dass Sie den Begriff „Persönlichkeitsstörung“ fehl am Platz finden. Warum?
Aus zwei Gründen. Erstens glaube ich nicht, dass es eine Störung ist, und zweitens glaube ich nicht, dass eine Persönlichkeitsstörung viel mit der Persönlichkeit zu tun hat. Aber viele meinen genau das, weil das mit einer Persönlichkeitsstörung verbundene Verhalten hartnäckig und lang anhaltend ist, sich nicht ändert. Es gibt auch die Überzeugung, dass Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung nicht gut auf therapeutische Behandlungen ansprechen. Auch dies wird oft mit der Vorstellung gleichgesetzt, dass sie eine „gestörte Persönlichkeit“ haben.
Welche diagnostische Beschreibung halten Sie für angemessen?
Meiner Erfahrung nach haben diese Menschen eine stark erhöhte Anfälligkeit für eine ganze Reihe von psychischen Symptomen. Mir scheint, dass es im Kern darum geht, negative Erfahrungen viel intensiver zu erleben. Menschen sind ohne „Haut“, ohne „Schutzschicht“ unterwegs. Sie haben emotionale Schmerzen, sie leiden darunter und sie versuchen, das irgendwie zu bewältigen. Bildlich gesprochen sinken alle Erfahrungen tief in ihr Bewusstsein. Diese Verletzlichkeit geht auch mit einer großen Sensibilität für gute Erfahrungen einher.
Wie kommt es, dass manche Menschen diese erhöhte Verwundbarkeit entwickeln und andere nicht?
Es wird davon ausgegangen, dass es eine gewisse genetische Disposition gibt. Wie sich diese Gene ausdrücken, hängt dann davon ab, wie Eltern und Kinder miteinander umgehen. Kinder versuchen immer, Bindungen aufzubauen. Wenn sie sich unangemessen verhalten und bei den Eltern, die ihnen diese Gene gegeben haben, etwas auslösen, so dass auch sie sich unangemessen verhalten, dann entstehen negative Eskalationsspiralen.
Was sind die Hauptschwierigkeiten von Menschen mit erhöhter Vulnerabilität?
Menschen mit dieser erhöhten Verletzlichkeit können Schwierigkeiten haben, sich mit anderen zu verbinden und Intimität, Nähe und gegenseitigen Austausch zu erfahren. Ihre genetische Disposition und ihre Erfahrungen hindern sie daran. Sie lernen sich im Laufe ihrer Entwicklung nicht kennen, sie reflektieren nicht, sie denken nicht an sich selbst. Sie wissen nicht, wer sie sind, also entwickeln sie keine eigene Einstellung zum Leben und haben keine Ziele. Sie wissen auch nicht, was andere von ihnen erwarten. So zu leben ist sehr schmerzhaft.
Wissen Sie, Menschen mit dieser Diagnose sind nicht nur „eine Art von Person“. Ich kenne Menschen, die wunderbar, freundlich und großzügig sind und bei denen eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert wurde. Aber ich kenne auch andere, die nicht immer sehr nett sind und die gleiche Diagnose erhalten haben.
Sie schlagen vor, den Begriff „Persönlichkeitsstörung“ durch den Begriff der sozialen Kommunikationsstörung – social communication disorder – zu ersetzen. Warum?
Meine Theorie ist: Jede Persönlichkeitsstörung basiert auf einem großen Verlust an epistemischem Vertrauen, Menschen glauben anderen nicht. Aber wenn wir nur misstrauen, lernen wir nichts von anderen. Das bedeutet, dass in einer Therapie in erster Linie ein vertrauensvolles Verhältnis aufgebaut und gepflegt werden muss. Erst dann kommt es zu einem therapeutischen Prozess.