Gesundheitsrisiko Einsamkeit

Der unerbittliche Visualist der Einsamkeit: Edward Hopper

Vier Bücher zur Einsamkeit:

Manfred Spitzer schlägt in seinem neuen, lesenswerten Buch Alarm: Der Mangel an Gemeinschaft ist eine Krankheit – mit fatalen Folgen.

Manfred Spitzer: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. Droemer, München 2018, 317 S., € 19,99

Ernährung, Fitness, Schlaf, Stressabbau – die großen Gesundheitskampagnen der letzten Jahrzehnte haben viele Millionen Menschen zu gesünderen Lebensgewohnheiten animiert. Wissenschaftler, Journalisten und Ärzte konnten die breite Öffentlichkeit für die Gesundheitsrisiken moderner Lebensweisen sensibilisieren.

Die gefährlichste aller Zivilisationskrankheiten haben wir dabei jedoch schändlich vernachlässigt, meint der Hirnforscher und Bestsellerautor Manfred Spitzer. In seinem wissenschaftlich fundierten und faszinierenden Buch Einsamkeit legt er überzeugend dar, dass sich der Mangel an Gemeinschaft verheerend auf die körperliche und geistige Gesundheit auswirkt. Er befürchtet, dass die reichen Industriegesellschaften von einer Einsamkeitsepidemie großen Ausmaßes heimgesucht werden. Seine düstere Diagnose begründet er mit einer beachtlichen Menge an Forschungsbefunden aus verschiedenen Wissenschaftszweigen.

Spitzer unterstreicht, dass Alleinsein heilsam sein kann, insbesondere wenn wir uns in die Natur zurückziehen. Lang andauernde Einsamkeit betrachtet er jedoch als ansteckende Krankheit, die mit erheblichen Schmerzen und chronischem Stress verbunden ist.

Für unsere Vorfahren war Isolation lebensbedrohlich

Laboruntersuchungen zeigen, dass ein Foto des Partners die Schmerzen von Probanden lindert. Schmerzen und Einsamkeit gehen mit der Aktivierung des gleichen Hirnareals einher. Außerdem belegen Experimente, dass Probanden mit wenig sozialer Unterstützung auf belastende Situationen mit mehr Stress reagieren. Spitzers evolutionstheoretische Begründung: Für unsere Vorfahren sei jede Art von Isolation vom Stammesverband lebensbedrohlich gewesen. Der Einsamkeitsschmerz habe das abgesonderte Individuum zurück in die Gemeinschaft getrieben. Der Stress habe die Bewältigung der Gefahrensituation erleichtert.

Spitzers eingehende Analysen von hochwertigen Studien zu den Gesundheitsfolgen der Vereinzelung sind überzeugend. Chronische Einsamkeit erhöht das Erkrankungsrisiko für die wichtigsten körperlichen und seelischen Leiden: Herzinfarkt, Schlaganfall, Krebs, Erkältung, Alzheimer, Demenz, Depression, Schizophrenie, Sucht. Komplexen statistischen Untersuchungen zufolge vermindert Einsamkeit die Lebenserwartung stärker als Rauchen, Bewegungsmangel und Übergewicht. Seine Schlussfolgerung lautet daher: „Nichts ist gesünder als die aktive Teilnahme an der Gemeinschaft.“

Der Autor hält die zunehmende „Singularisierung“ für einen gefährlichen Megatrend, der sich wie ein roter Faden durch sämtliche Lebensbereiche ziehe. In einer umfassenden Studie verzeichnete die große Mehrheit der untersuchten Länder eine deutliche Zunahme individualistischer Werte und Praktiken während der letzten fünfzig Jahre, die sich größtenteils auf sozioökonomische Faktoren zurückführen ließ. Weitere Studien legen einen starken Anstieg von Egozentrismus, Narzissmus und Materialismus nahe. In Deutschland hat die Zahl der Singlehaushalte und Scheidungen stark zugenommen.

Resultat gesellschaftlicher Veränderungen

Der Wohlstand verringere die Abhängigkeit des Einzelnen von Familie, Freunden, Verwandten und Gemeinschaften. Die liberale Kultur und Pädagogik huldigten der Selbstentfaltung des Individuums. Fernsehen und Internet ersetzten das gesellige Beisammensein. Einer Studie zufolge verdreifacht die häufige Nutzung von sozialen Onlinemedien wie Facebook das Einsamkeitsrisiko.

Was tun? Der Autor belegt, dass Verhaltenstherapie und soziale Unterstützung gegen Einsamkeit helfen. Bislang sei jedoch unklar, welche gesellschaftlichen Veränderungen die Einsamkeitsepidemie zurückdrängen könnten. Er übersieht, dass die Einsamkeit eine Schattenseite von Modernisierungsprozessen darstellt, die unser aller Leben deutlich verbessert haben.

So beweist der Sozialwissenschaftler Christian Welzel in seinem Buch Freedom Rising, dass Massenwohlstand, Bildung und moderne Medien liberale Kulturnormen fördern, die das Individuum aus den Fängen von autoritären Überlebensgemeinschaften befreien. Die individualistische Kultur bildet die wichtigste Grundlage der liberalen Demokratie. Die Frage ist also, wie wir starke Gemeinschaften bilden, welche die Freiheiten aller Mitglieder achten.

Spitzers bedeutende Warnschrift öffnet uns die Augen für eines der schwerwiegendsten Probleme unserer Zeit.

Gibt man bei einer Internetsuchmaschine „loneliness epidemic“ ein, erhält man mehr als 6,7 Millionen Verweise. Jüngst diagnostizierten Psychologen und Psychologinnen von der Graduate School of Education der Harvard University, dass Einsamkeit auf dem Vormarsch sei, vor allem bei der Altersgruppe der 18- bis 25-Jährigen, auch infolge coronärer Kontaktsperren.

Genau an diesen Themenkreis knüpft Daniel Schreiber in seinem Buch mit dem Titel Allein an. Der in Berlin lebende Journalist konzentriert sich bereits seit längerem auf das Genre des personal essay – er schrieb schon über Trinken und GlückZuhause und Heimatsuche. Nun räsoniert er über das Alleinsein. Etwas weitschweifig ist das geraten.

Daniel Schreiber: Allein. Hanser Berlin, München 2021, 160 S., € 20,–

Nicht selten muss man sich durch intime Geständnisse hindurcharbeiten, die in früheren Zeiten einem Tagebuch anvertraut worden wären, bis man auf irisierend funkelnde Beobachtungen stößt. Etwa: „Unser Unglücklichsein wird heute häufig als ein individuelles Scheitern definiert, obwohl es durchaus eine adäquate Reaktion auf die Welt und unsere Gesellschaft sein kann. Auch unser Alleinsein wird in der Regel als solch ein persönliches Scheitern wahrgenommen, als eine Folge mangelnder Attraktivität, mangelnden wirtschaftlichen Erfolgs, mangelnder psychischer Fitness.“

Rüdiger Safranski, 77, ist Literaturwissenschaftler und Philosoph und gut eine ganze Generation älter als Daniel Schreiber. Er hat viele Biografien publiziert, über die Philosophen HeideggerNietzsche und Schopenhauer und über Dichter wie GoetheSchiller und E.T.A. Hoffmann. Er dachte auch über Zeit an sich nach. Nicht wirklich philosophisch ist sein neuer Band Einzeln sein, auch nicht strikt soziologisch. Dafür geht Safranski zu gern in die Historie zurück, von der Renaissance bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, von Michel­angelo bis Sartre, von Luther bis Stefan George und dem sich als ein nonkonformistischer Partisan inszenierenden Ernst Jünger.

Rüdiger Safranski: Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung. Hanser, München 2021, 288 S., € 26,–

Mitgefühl über Einsamkeit

Safranski erweitert den Denkraum des Alleinseins in die für intellektuelle wie künstlerische Aktivitäten nahezu unumgänglichen Zustände der „Egoklausur“, des Rückzugs, des sich Entziehens. Dabei geht er auch auf Massen- und Ich-Psychologie ein, von Montai­gne über Freud zu Elias Canetti und Hannah Arendt. Die Gesellschaft per se löst als Großveranstaltung bei Safranski eher Unwohlsein aus. „Noch nie“, formuliert er apodiktisch, sei die Gesellschaft „dem Einzelnen so dicht auf den Leib gerückt wie heutzutage und dringt mit ihren digitalen Gespenstern in jeden Winkel der Seele“. Safranskis geistesgeschichtliche Studie kreist weniger um Angst oder psychische Notlagen, hier wird Alleinsein eher als Raum für Kreativität, Individualität und gesellschaftlichen Rückzug begriffen, der es Genies ermöglicht, sich zu entfalten.

Der Psychoanalytiker und Psychiater Rainer Gross hat 35 Jahre als Sozialpsychiater gearbeitet, davon die Hälfte als Chefarzt an einem Lehrkrankenhaus der Medizinischen Universität Wien. Heute arbeitet er als Therapeut und Supervisor in Wien. In viele angenehm kurze Kapitel hat Gross sein gut lesbares Buch Allein oder einsam? untergliedert. Er geht von medizinischen und psychiatrischen Positionen aus, die er mit sozialwissenschaftlichen anregend kollidieren lässt. Darauf folgen Untersuchungen der Identitätskonstruktion und der Außenperspektive.

Rainer Gross: Allein oder einsam? Die Angst vor der Einsamkeit und die Fähigkeit zum Alleinsein. Böhlau, Wien 2021, 232 S., € 28,–

Hier geht es dann etwa um honjok, das südkoreanische Lebensmodell selbstgewählten Alleinseins, und hikikomori, ein japanischer Begriff, der Menschen beschreibt, die sich für viele Monate oder Jahre in ihre Häuser oder sogar nur in ihre Schlafzimmer zurückziehen und zu anderen Menschen – außer ihrer Familie – den Kontakt meiden. Einsamkeit und gestörte Resonanz sind demzufolge nicht erst Produkte einer atomisierenden Massenmoderne. Woraufhin Gross spannende Darstellungen der „Innenansichten“ folgen lässt, über Trennungsangst, soziale Phobien, Kindheitstraumata und therapeutische Behandlungsmöglichkeiten.

Im Finale plädiert er für Selbst- und somit Außenweltakzeptanz, denn dann „erscheinen andere Menschen meist als weniger bedrohlich, ihre Schwächen weniger dramatisch und kritikwürdig“. Und der einzelne einsame Mensch als weniger einsam. Im Ausklang zitiert Rainer Gross Bertrand Russell: „Jeder, der überhaupt begreift, worum es im menschlichen Leben geht“, so Russell, „fühlt manchmal die seltsame Einsamkeit jeder einzelnen Seele. Die Entdeckung derselben Einsamkeit in andern aber bewirkt eine seltsame Verbindung und ein Wachsen des Mitgefühls.“

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