Die Gefühlskälte im Elternhaus der Kindheit betrifft vermutlich so einige Menschen. Vor dem Hintergrund eines anderen Zeitgeistes, anderer Erziehungsnormen, der Kriegs- beziehungsweise Nachkriegszeit sowie eventueller eigener traumatischer Erfahrungen sind viele Eltern in einem geringeren emotionalen Kontakt mit sich selbst und ihrem Umfeld. Das hat Auswirkungen auf die Kinder und späteren Erwachsenen. Erst seit kurzer Zeit haben wir gesellschaftlich ein Bewusstsein dafür erlangt, wie wichtig es ist, mit sich selbst und den eigenen Kindern emotional in Kontakt zu gehen, anstatt sie, so wie früher oft, einfach nebenher laufen zu lassen oder wahlweise in die Spur zu verweisen, wenn sie nicht »gehorchen«.
Keine Frage der Schuld
Die meisten Eltern werden versucht haben, ihr Bestes zu geben. (Ausnahme: das Auftreten von physischer, sexueller und psychischer Gewalt im Elternhaus.)
Auf ihre Art und im Rahmen ihrer Fähigkeiten haben die meisten Eltern ihre Liebes- und Bindungsfähigkeit an die Kinder weitergegeben, und zwar oft nach der individuellen und gesellschaftlichen Auffassung, die zu jener Zeit vorherrschte. Gerade eine Elterngeneration, die in der Kriegszeit oder Nachkriegszeit aufgewachsen ist, hatte häufig mit ganz anderen emotionalen Verarbeitungen zu kämpfen. Ihr Ziel war es, den eigenen Kindern ein sicheres Heim zu geben, sie finanziell zu unterstützen und ihnen den Ausbildungsweg zu ermöglichen. Aus der Draufschau haben sie dich unterstützt, waren vielleicht auch bei sportlichen Wettkämpfen in der Kindheit oder der Vergabe des Abschlusszeugnisses zugegen.
Es geht folglich nicht darum, die Verbindung zu den Eltern in Frage zu stellen, sondern es geht darum, die indirekte Gefühlskälte in der Kindheit aufzumachen, um sich selbst im Erwachsenenleben besser zu verstehen und von fehlgeleiteten Annahmen, die man als Kind erlernte, abzugrenzen.
Gefühlskälte im Elternhaus: Die Sicht der erwachsenen Kinder
Ungeachtet dessen fühlen sich viele erwachsene Kinder emotional nicht verbunden mit ihren Eltern und fühlten es in der Rückschau schon als Kinder nicht. Sie haben nicht wirklich den Glauben, mit ihren Problemen zu den Eltern gehen zu können, und spüren wenig Verständnis für ihre Situation. Auch scheint es nicht möglich zu sein, mit den Eltern über die eigenen Gefühle zu reden. Vielleicht hat man es als Kind versucht, aber schnell bemerkt, dass die Eltern bezüglich ihrer eigenen Gefühle und der ihrer Kinder in die Abwehr gehen.
Keine wirkliche emotionale Verbindung
Möglicherweise haben die erwachsenen Kinder auch das Gefühl, ihre Eltern als Menschen nicht wirklich zu kennen. Damit sind nicht die allgemeinen Eckpunkte oder Verhaltensweisen gemeint, also Job oder positive beziehungsweise negative Charakterzüge, sondern vielmehr das tatsächliches Empfinden der Eltern. Wie sieht es in ihrem Inneren aus? Warum haben sie bestimmte Ängste? Fragt man nach, wiegeln sie meistens ab und wechseln das Thema. Ein authentischer Austausch, bei dem man zusammen lernen und erstarken kann, ist meist nicht möglich. Die Kinder fühlen sich in Bezug auf die wichtigen Themen des Innenlebens nicht verbunden mit ihren Eltern. Das Gefühl der Einheit kann nicht zur Gänze entstehen.
Weil viele Eltern ihr Inneres selbst nicht sehen wollen, da es mitunter zu schmerzhaft sein kann, ist man als Kind im Erwachsenenleben im Umgang mit den eigenen Gefühlen eher auf sich gestellt und muss sich viele Werte und Selbstreflexionen selbst aneignen.
Weniger Interesse am Leben der Kinder
Darüber hinaus hast du vielleicht auch das Gefühl, sie würden dich als Menschen nicht wirklich kennen und zeigen auch wenig Interesse an deiner Person. Möglicherweise liegt es daran, weil ein starker Selbstbezug seitens der Eltern vorliegt oder weil sie kein Verständnis für die Wichtigkeit von Authentizität und innerem Einklang in ihrem Leben entwickeln konnten. Insgesamt ist es also so, dass unsere emotionalen Bedürfnisse keine oder kaum Erfüllung in einem Elternhaus fanden, dass von einer Gefühlskälte beziehungsweise Gefühlstaubheit gezeichnet ist. Bei den Kindern kann infolgedessen eine innere Distanz aufkommen, sie fühlen sich nicht zugehörig oder angenommen. Eine innere Leere kann entstehen, die man versucht, im Erwachsenenalter zu füllen.
Weitere Anzeichen emotional nicht verfügbarer Eltern
Nachfolgend aufgeführt haben wir weitere Anzeichen emotional nicht verfügbarer Eltern.
- die Gespräche gehen hauptsächlich um sie selbst und ihr eigenes Leben
- sie fragen selten nach deinem Leben oder arbeiten es nur mit einer knappen Frage ab
- sie hören dir nicht zu oder sprechen dir deine Wahrnehmung ab (eventuell auch abschwächen: »Das ist doch keine große Sache«)
- deine Leistungen werden nicht oder nur am Rande gewürdigt
- sie geben wenig Zuspruch (manchmal viel häufiger Kritik)
- sie haben Probleme mit emotionalen Bekundungen, schaffen es kaum, liebevolle Worte zu sagen (mitunter weichen sie aus, wenn du ihnen sagst, dass du sie lieb hast)
- sie fühlen sich befangen oder unwohl, wenn du deine Emotionen zeigst (als Kind wurden dir eventuell die Emotionen versagt, du solltest dich »zusammenreißen«)
»Mit mir stimmt etwas nicht«
Das Verwirrende für die erwachsenen Kinder ist, dass sie von ihren Eltern in den äußeren Gegebenheiten der Kindheit und beim Großwerden, beispielsweise Obhut, Sicherheit, Versorgung, Schule etc., vollumfänglich unterstützt wurden, aber dennoch mitunter Probleme haben in ihrem späteren Leben. Das Gefühl Mit mir stimmt etwas nicht kann sich dadurch bei ihnen verstärken, denn, schaut man von außen auf das Elternhaus, war im Großen und Ganzen alles gut.
Der innere Groll, der bei den erwachsenen Kindern gegebenenfalls in Bezug auf die Eltern entsteht, ist für die Kinder selbst nicht nachzuvollziehen. Sie fühlen sich vielleicht beschämt und schuldig, weil sie in Bezug auf die Eltern so fühlen, wie sie fühlen, obwohl doch, wie gesagt, eigentlich alles in Ordnung war.
Ein möglicher Grund dafür kann sein, dass die Eltern zwar physisch präsent waren, aber emotional distanziert. Sie sind entweder emotional nicht fähig oder nicht daran interessiert, eine wirkliche Verbindung zum Kind beziehungsweise späteren Erwachsenen aufzunehmen. Deshalb kann es dazu kommen, dass man sich den eigenen Eltern gegenüber wie ein:e Fremde:r fühlt.
Auswirkungen der Gefühlskälte
Bei den später erwachsenen Kindern können aufgrund der Gefühlskälte im Elternhaus durch die emotional nicht verfügbaren Eltern bestimmte innere Glaubenssätze verankert sein, die sie als Kinder unbewusst angenommen haben:
- Ich bin nicht wichtig
- Niemanden interessiert, was ich zu sagen habe
- Meine Gedanken und Gefühle spielen keine Rolle
- Ich kann niemandem vertrauen
- Ich muss meine Probleme alleine bewerkstelligen
- Niemand ist für mich da, ich muss alleine zurechtkommen im Leben
Ferner kann es sein, dass sie in späteren Beziehungen die emotionale Nähe suchen, die sie in der Kindheit missen mussten, sie jedoch aufgrund ihrer kindlichen Prägungen an emotional nicht verfügbare Partner:innen geraten, die sie ebenfalls unbewusst ständig versuchen zu erreichen.
Von der Gefühlskälte freimachen
Viele versuchen bis heute, von ihren Eltern gesehen zu werden, und versuchen sie, emotional zu erreichen. Sie suchen nach Bestätigung und Anerkennung von Eltern, die nicht fähig oder willens sind, diese zu geben. Wenn wir unsere Eltern so sehen, wie sie tatsächlich sind, vor dem Hintergrund ihrer eigenen Geschichte, können wir aufhören, bei ihnen nach etwas zu suchen, dass sie uns nicht geben können. Wenn wir die emotionalen Begrenzungen der Eltern akzeptieren, können wir loslassen und in eine neue, passendere Beziehung zu ihnen gehen.
Die meisten Eltern haben versucht, so zu lieben, wie sie Liebe verstanden haben. Indem wir im Inneren begreifen, dass die Gefühlskälte im Elternhaus nicht an uns lag und nichts mit unserer Wertigkeit als Kind und als Mensch zu tun hat, können wir uns abgrenzen und für uns selbst als Erwachsene die emotionale Fürsorge angedeihen lassen, nach der wir uns als Kinder sehnten.