»Ich habe nur Probleme in meinem Leben, immer gehabt. Ich hatte einfach schon einen schlechten Start.« Selma ist sechsundvierzig Jahre alt. Sie ist frisch geschieden und die Mutter von drei Kindern. Der jüngste Sohn ist fünfzehn Jahre alt. Seitdem sie denken kann, lastet etwas auf ihrer Seele, sagt sie. Sie fühlt sich minderwertig und schlechter als alle anderen. Selma weiß, dass es eine gewisse Zeit braucht, um den inneren Frieden finden zu können. Sie ist entschlossen in diesen Prozess der Aufarbeitung zu gehen, damit sie in ihrer zweiten Lebenshälfte mehr Leichtigkeit empfinden kann im Vergleich zu den vergangenen vier Jahrzehnten.
Generationslast aufbrechen: Inneren Frieden finden
»Mein Vater hatte das Sagen in der Familie. Alle hielten ihn für klug. Was er sagte und wie er über andere urteilte, war Gesetz. Und niemand wollte vor seine Flinte geraten und von ihm abgestraft werden.«
Die dreifache Mutter Selma ahnt, dass sie sich gedanklich der damaligen Konstellation in ihrer Kernfamilie stellen muss. Nur so kann sie verstehen, warum sie (nach ihrem Empfinden) nicht das Leben zu seinen Bedingungen bestreiten kann. Selma hat keine Ausbildung, damals die Schule abgebrochen, war dreimal verheiratet und hangelt sich neben dem Vollzeitjob einer Mutter mit Minijobs durch das Leben.
Wenn man sich dem eigenen Leben in Ehrlichkeit stellt, beginnt man zu erkennen, wo die Baustellen sind. Deren Bearbeitung kann eine Verbesserung der Lebensqualität und eine größere Zufriedenheit mit sich bringen. Das Aufbrechen der alten Strukturen macht vulnerabel für neue Sichtweisen und Ansatzpunkte. Aus dem anfänglichen Chaos entsteht eine neue Ordnung.
1. Schritt: Kapitulation
Zunächst einmal hilft es, für sich in aller Deutlichkeit zu erkennen, dass das Leben, wie es sich bisher gestaltet hat, so nicht weitergehen kann. Die Einsicht mag vielleicht schmerzlich sein und hilflos machen, doch sie fördert auch eine große Hoffnung und viel Stärke zutage. Erst wenn man kapituliert und bereit ist, das Alte loszulassen, kann man den Blick auf neue Möglichkeiten und Ansatzpunkte im Leben richten.
2. Schritt: Erkenntnisse und Gespräche
Warum ist mein Leben so verlaufen? An welchen Punkten kann ich ansetzen, um eine Verbesserung zu etablieren? Wie finde ich die Kraft, um neue Gewohnheiten herbeizuführen? Wie finde ich die Gelassenheit, um das, was ich nicht ändern kann, gedanklich loszulassen? Wichtig ist es, zu reden: mit FreundInnen, TherapeutInnen oder in einer Selbsthilfegruppe.
3. Schritt: Aushalten der Gefühle
Das Aushalten von Gefühlen fällt nicht immer leicht. Vor allem dann nicht, wenn man in der Vergangenheit den Gefühlen stets ein Verhalten hat folgen lassen. Viele von uns reagierten impulsiv, da sie glaubten, allen Gefühlen müsse zwingend eine Handlungsweise folgen. Gefühle sind Anzeiger für das gegenwärtige oder vergangene Leben. Womöglich fühlst du dich auch heute noch in manchen Situationen ungerecht behandelt oder sogar ausgeliefert, obwohl nüchtern betrachtet gar nichts so wirklich Schlimmes passiert ist. Meistens empfinden wir in der Art, weil die jeweilige Situation uns an vergangene traumatische Erfahrungen erinnert. In solchen Momenten fühlen wir unser inneres hilfloses Kind von einst. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die aktuelle Situation zu verstehen und einzuordnen. Damit man die aufkommenden Gefühle loslassen kann.
Gefühle auf Wolken ziehen lassen
Häufig sind die Gefühle auch Warnsignale, die deutlich machen, dass es so nicht in einem Job/einer Beziehung/einer Freundschaft weitergehen kann. Impulsivität, also das Ausagieren eines Gefühls, ist allerdings in den seltensten Fällen gut. Besser ist es, die Gefühle zu erkennen und zu hinterfragen – und sie dann wie auf einer Wolke vorbeiziehen zu lassen. Mit kühlem Kopf und mehr Abstand lässt sich eine wesentlich klügere Schlussfolgerung sowie gegebenenfalls eine Verhaltensantwort ableiten.
Ungeachtet dessen wird der Prozess, um inneren Frieden finden zu können, bei den meisten Menschen von heftigen Gefühlen begleitet sein. Du wirst Wut spüren, Trauer, absolute Hilflosigkeit, Erschöpfung, vielleicht auch Hoffnungslosigkeit. Doch die Empfindungen werden zumeist schwächer, sobald du in die Aktion gehst und dein Leben in die Hand nimmst.
4. Schritt: Etablieren neuer Gewohnheiten
Der Prozess der Aufarbeitung benötigt vor allem eines: Geduld. Schritt für Schritt nähert man sich einer neuen Lebensweise an. Neue Gewohnheiten werden erprobt, neue Erfahrungen werden gemacht. Alte Gefühle, die mit alten Glaubenssätzen verknüpft sind (Bsp. »Ich bin nicht gut genug.«, »Das schaffe ich nie.«, »Ich bin viel zu ängstlich.«), werden abgelegt. Die neuen Erfahrungen überschreiben sozusagen kognitiv die alten Annahmen, die einem aus der Kindheit mitgegeben wurden. Diese Umprogrammierung geht nicht sofort und nicht ständig. Sie ist auch mit vielen Fehlern verbunden, so wie jeder andere Lernprozess auch. Anstatt die gemachten Fehler zu bereuen und sich selbst wieder zu verunglimpfen, sollte man die Fehler als das annehmen, was sie sind: Die wichtigen und sehr wahrscheinlich effektivsten Lernerfahrungen, die man machen kann.
Befreie dich von den Ressentiments
Das Umlernen auf dem Weg zu mehr innerer Balance und einem größeren seelischen Wohlbefinden erfordert viel Zeit und auch so einige Rückschläge, die es emotional zu bewältigen gilt. Doch das Dabeibleiben lohnt sich. Schließlich ist die Arbeit an sich selbst die wichtigste Aufgabe im Leben, um sich aus Wut, Rache und Ressentiments zu befreien und inneren Frieden finden zu können.
Schritt 5: Vergeben und Loslassen
Insbesondere familiäre, aber auch partnerschaftliche Kontakte können so wie bei Selma aufgrund früherer negativer Erfahrungen und toxischer Konstellationen wie festgefahren sein. Die Familienmitglieder beziehungsweise (Ex-) PartnerInnen geraten immer wieder aneinander, da sie sich – begründet und manchmal auch unbegründet – für die bestehenden Probleme im Leben verantwortlich machen. Das Erkennen toxischer Konstellationen ist die eine Sache, eine andere ist es, selbstständig dafür in die Verantwortung zu gehen, um die Hürden zu bewältigen. Niemandem nützt es – am wenigsten dir selbst –, wenn stille Vorwürfe im Raum stehen. Oder wenn man davon ausgehen muss, dass sich der Umgang miteinander niemals wieder entspannen würde. Das kann er durchaus.
Es mag irrational klingen, aber um Loslassen zu können, kann es hilfreich sein – nur für sich selbst! – zu vergeben, was einem angetan wurde. Andernfalls bleiben die Energien bei den traumatischen Ereignissen, den Fehlprägungen und den toxischen Konstellationen gefangen. Der persönliche Fokus bleibt auf die Vergangenheit ausgerichtet und nicht auf die Zukunft.
Vergeben heißt nicht versöhnen
»Mein Vater war übergriffig, meine Mutter teilnahmslos. Sie hat einfach weggesehen. Ich weiß, dass sie mich liebt, aber sie wusste einfach nicht, wie sie sich gegen ihren Mann behaupten sollte.«
Selma kann sich nicht vorstellen, sich mit ihren Eltern zu versöhnen, aber sie will versuchen, zu vergeben, um ihren inneren Frieden finden zu können. In einigen Kernfamilien ist dermaßen viel Schadhaftes und Traumatisches vorgefallen, dass man sich aufgrund des Geschehenen einfach nicht aussöhnen kann. Und jenes muss man auch nicht. Das, was ein Opfer dysfunktionaler Familienverhältnisse am wenigsten gebrauchen kann, ist noch mehr persönliche Belastung beziehungsweise der Druck, sich mit den Verursachern des Leids versöhnen zu müssen.
Energien in Richtung Zukunft, nicht Vergangenheit
Aber: Mit dem Vergeben ist eben nicht das Versöhnen gemeint. Vergebung ist ein Prozess, der allein dir zugute kommt. Durch Vergebung kannst du inneren Frieden finden. Die Vergebung ist als Annahme der eigenen Vergangenheit zu verstehen, die nicht zwingend damit einhergeht, sich mit dem anderen zu versöhnen. Versöhnen ist ein zwischenmenschlicher Prozess, der beinhaltet, dass man einem anderen Menschen für sein vergangenes Verhalten verzeiht und sich einander auf neutraler Ebene begegnet. Vergebung dagegen geschieht nur für dich, da sie dich von der Last der Erinnerung befreit und dir hilft Energien freizusetzen, die dich auf dein Leben und deine Zukunft orientieren lassen. Man verkehrt etwas Negatives in etwas Positives. Du kannst Geschehenes vergeben und hast das Recht, darüber zu entscheiden, ob und inwieweit du einen Menschen noch in deinem Leben haben möchtest. Wie man trotz schwieriger Familienkonstellationen lernen kann, zu vergeben, beschreiben wir im zweiten Teil der Artikelserie: Wie verzeihen können – Inneren Frieden finden (2).