Fast jeder Mensch erscheint reizvoll, solange wir nichts über ihn wissen

Frauen wählen härter aus, Männer wischen erst einmal alle nach rechts. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen. Alle Männer, mit denen ich einmal darüber gesprochen habe, gehen so vor.

Die meiste Zeit der Menschheitsgeschichte funktionierte die Partnerwahl recht unkompliziert, und zwar aus einem banalen, aber unumstößlichen Grund: Es war extrem schwierig, jemanden zu treffen, der oder die akzeptabel war – und jeder wusste das. Es gab nur wenige Menschen im Dorf, Reisen waren teuer, und gesellschaftliche Anlässe waren rar gesät.

Gesellschaftliche Anlässe waren rar gesät.

Das hatte viele Nachteile: Es verleitete die Menschen dazu, Anträge von Kandidaten anzunehmen, von denen sie nicht überzeugt waren, und es führte dazu, dass Personen, die sich gegenseitig sehr glücklich hätten machen können, einsam und unerfüllt starben, weil ein paar Berge oder ein Fluss sie trennten.

Erfinder und Ingenieure haben ihr ganzes Können eingesetzt, um diesen historischen Missstand zu beseitigen und uns eine unendliche Auswahl potentiellen Partnern zu bieten. Die Möglichkeit, jemanden Neues kennenzulernen, ist nun ständig präsent. Aber dieser Durchbruch auf der Ebene des Kennenlernens hat eine viel wichtigere Herausforderung verschleiert: Es mag einfacher geworden sein, uns zu begegnen, aber es ist nicht einfacher geworden, uns zu lieben.

Wir bleiben – jeder einzelne von uns – eine große Herausforderung für jeden Menschen, der sich auf uns einlassen will. Wir alle sind mit psychologischen Macken behaftet, die eine dauerhafte Beziehung mit uns äußerst problematisch machen: Wir sind ungeduldig, neigen zu ungerechten Anschuldigungen, strotzen vor Selbstmitleid und sind nicht gewohnt, unsere Bedürfnisse so kommunizieren, dass sie von anderen verstanden werden können – um nur einige Punkte zu nennen …

Die Möglichkeit, so viele Menschen zu treffen, hat uns ganz wunderbar von unseren hässlichen Seiten abgelenkt und uns zu dem charmanten, aber irreführenden Gedanken verleitet, dass wir nur deshalb in Beziehungsschwierigkeiten stecken, weil wir noch nicht „die richtige Person“ getroffen haben. Der Grund für die Spannungen und unsere Sehnsüchte hat, so reden wir uns ein, nichts mit bestimmten hartnäckigen Unzulänglichkeiten in unserer eigenen Natur zu tun oder mit den Paradoxien des menschlichen Daseins an sich, sondern nur damit, dass wir weiter nach einem vernünftigen Kandidaten suchen müssen, der oder die endlich alles so sieht wie wir.

WIR VERGESSEN, DASS FAST JEDER MENSCH REIZVOLL ERSCHEINT, SOLANGE WIR NICHTS ÜBER IHN WISSEN

Die Verlockung der großen Auswahl hat uns die Geduld und Bescheidenheit geraubt, die notwendig sind, um mit den Spannungen umzugehen, die uns immer wieder begegnen werden, egal mit wem wir zusammen sind. Wir vergessen, dass fast jeder Mensch reizvoll erscheint, solange wir nichts über ihn wissen. Um bereit für die Liebe zu sein, müssen wir uns auch die Schwierigkeiten vorstellen, die wir noch nicht im Detail kennen; die schlechte Laune, die hinter dem strahlenden Lächeln lauern wird, die schwierige Vergangenheit, die sich hinter den glänzenden Augen verbirgt, die verworrene Psyche, die wir vor lauter Freude über ihre Liebe zum Camping und zur Natur übersehen.

Auch wenn es Hunderte von anderen Menschen gibt, die wir treffen könnten, gibt es in Wahrheit nicht besonders viele Menschen, die wir wirklich lieben könnten. Dating-Apps haben es sehr viel einfacher gemacht, Kontakte zu knüpfen, aber sie haben uns in keiner Weise geholfen, geduldiger, einfallsreicher, verzeihender oder einfühlsamer zu sein – also die Künste, die eine Beziehung lebensfähig machen, besser zu beherrschen. Die meisten Probleme, die wir mit einem bestimmten Kandidaten oder einer Kandidatin haben, werden daher in vergleichbarer Form bei fast jedem Menschen auftauchen, der uns begegnet.

Die eigentliche Arbeit, die wir (nachdem wir uns gründlich umgeschaut haben) tun sollten, besteht nicht darin, immer wieder zu versuchen, neue Menschen kennenzulernen; sondern vielmehr darin, den Ursachen auf den Grund zu gehen, die es uns so schwer machen, mit einer bestimmten Person zu leben, sobald wir mit ihr zusammengekommen sind.

WIR HABEN EINE GROSSE AUSWAHL, ABER IN WIRKLICHKEIT NICHT BESONDERS VIELE OPTIONEN

Wir sind bereit für die Liebe, wenn wir unseren überreizten Sinn für Möglichkeiten deutlich dämpfen und erkennen, dass wir zwar eine große Auswahl haben, aber in Wirklichkeit nicht so viele Optionen. Das mag düster klingen, aber auf eine Art ist das eine befreiende Erkenntnis. Sie kann uns helfen, unsere Energien weg von dem mühsamen Kreislauf immer neuer Begegnungen und stattdessen auf die Suche nach der Art von beidseitiger emotionaler Reife zu lenken, auf der wahre Liebe gedeihen kann.

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