Natürlich bezieht sich dieser Beitrag auch auf Freuds zeitlose Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“, aber darauf komme ich später zurück.
Überzeugend und stark beginnt „Das Tagebuch der Menschheit“ des Evolutionsbiologen Carel van Schaik und des Kulturhistorikers Kai Michel, eine Auseinandersetzung mit der Bibel, die die Autoren verständig und tiefgründig als Evolutionstagebuch der Menschheit lesen.
Der Mensch vor 100.000 Jahren lebte in kleinen Gruppen und war Jäger und Sammler; groß, stark, gesund. Die Geschichte der Menschheit jedoch beginnt, nach Jared Diamond, mit „ihrem größten Fehler“ – der Sesshaftwerdung, und, damit verbunden, einem immer stärkeren Bevölkerungswachstum. Der Mensch wurde kleiner und starb früher, Zivilisationskrankheiten wie Karies, Pest und Pocken entwickelten sich. Ab hier beginnt die Notwendigkeit, das zwischenmenschliche zu regeln, und das steht oft genug in Konflikt mit den natürlichen, genetisch verankerten Anlagen diese Welt zu erfahren und einzuordnen.
So entstanden die drei Naturen des Menschen, die in jedem von uns stecken:
- Die erste Natur sind unsere angeborenen Gefühle, Affekte und Vorlieben, entwickelt und angepasst an jahrhunderttausende Jahre Jäger-und-Sammler-Alltag. Hier sind Liebe, Wut, Hass, Empörung, Abscheu und Furcht, Eifersucht und Ekel.
- Jedoch konnte die genetische Adaption dieser Gefühle mit der Geschwindigkeit der Sesshaftigkeit nicht mithalten, und schnelle kulturelle Lösungen waren vonnöten. Sie sind für uns fast selbstverständlich, fast eine „zweite Natur“, und doch unterscheiden sie sich von Kultur zu Kultur, so wie die einen Kulturen den Männern nur eine Frau zubilligen oder gerne Hunde essen und die anderen nicht.
- Die dritte Natur ist die Vernunftnatur – verankerte Maximen und Praktiken für eine gezielte Situationsanalyse oder den „gesunden Menschenverstand“.
Die Teilung entspricht der Freudschen Dreiteilung Es-Ich-ÜberIch. Und an den Grenzen kommt es halt nun auch da zu Konflikten. Das klassische Beispiel: eine verheiratete Frau verliebt sich neu, ein gebundener Mann verfällt einer anderen Frau. Unsere erste Natur seufzt dann: „Liebe!“ Die zweite Natur mahnt: „Treue!“ Und die dritte Natur gibt zu bedenken: „Denk an die Anwaltskosten, Hypothek und Alimente!“.
Natur zwei und drei sind kulturelle Produkte. Das Leben ist seither vor allem Kopfsache geworden. Manchmal zu viel, um noch Leben genannt zu werden.
Für einen Mathematiker, wie Russell es war, nicht schlecht. Es muss natürlich „fühlen“ statt „denken“ heißen, und das meint er auch. Aber, wie gesagt, für einen Mathematiker nicht schlecht.
Kommen wir zurück zu Freud. Die FAZ hat zu seinem 150. Geburtstag einen schönen Artikel, das „Behagen in der Kultur“ verfasst; Freud kann uns helfen, die Enttäuschungen der Kultur ertragen zu lernen. Es mag sich jede/r selbst entscheiden, wo auf der Achse Natur-Kultur er/sie sich am wohlsten, am behaglichsten fühlt.
Wo deutlicher könnte man nun Aufklärung über die Frage Natur-Kultur erwarten als aus den USA?
Bleibt die Frage, verlieren wir nicht etwas, mit zuviel Kultur? Auch hier hat die FAZ einen schönen, komplementären Artikel „Das Unbehagen in der Natur“ verfasst, zu den Bildern des Photografen Mitch Epstein. „All das, was Freud in seinem Entwurf für ein utopisches Land beschreibt, ist eingetreten. Nur wurde ein Preis dafür gezahlt, mit dem man nicht gerechnet hat und der zu hoch liegt.“
Nach meiner Erfahrung sind Menschen, die hart, unempathisch, gleichgültig, rücksichtslos gegen ihre Liebsten, Freunde, Mitmenschen sind, auch so gegen die Natur – sie gießen alles mit Beton voll, die technisch fortschrittlichste Lösung ist immer die beste, kein Zweifel, keine Besinnung, keine Wahrnehmung was sie zerstören ist in ihnen. Vielleicht wählen wir sie auch deshalb als politische und gesellschaftliche Führer, weil sie uns ja retten vor den Unwägbarkeiten der Natur, mit der wir einst verbunden waren und die unsere Freundin war, auch wenn wir das schon lange nicht mehr brauchen, und einen zu hohen Preis dafür zahlen. Es mag sich jede/r selbst entscheiden, wo er/sie da steht.