Antidepressiva

Helfen Antidepressiva wirklich?

Immer mehr Menschen leiden an einer Depression. Viele von ihnen bekommen Antidepressiva verschrieben. Warum die Medikamente keine Heilung garantieren und sogar schaden könnten, erklärt ein Psychiater im Gespräch.

Prof. Tom Bschor ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 2022 leitet er die Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung am Bundesministerium für Gesundheit.

Herr Professor Bschor, Sie sind Mitautor der deutschen Behandlungsleitlinie für Depressionen und waren Chefarzt mehrerer psychiatrischer Kliniken. Wie oft haben Sie schon mit depressiven Patienten zu tun gehabt, denen Antidepressiva nicht geholfen haben?

Millionenfach. Was man aus der Wissenschaft weiß, deckt sich mit meiner sehr umfassenden praktischen Erfahrung: Jeder zweite Patient, dem man ein Antidepressivum verschreibt, spricht nicht darauf an. In der Klinik trifft man ja in der Regel auf Patienten, die schon vorbehandelt sind und bei denen das nicht so gut geklappt hat. Das ist für uns also die absolute Regel. Ich habe aber auch viele Behandlungserfolge gesehen.

Sollten Antidepressiva seltener verschrieben werden?

Ja. Es ist keine gute Idee, das einfach mal auszuprobieren und wieder abzusetzen, wenn es nicht hilft. Meine allergrößte Sorge mit Blick auf Antidepressiva sind Hinweise darauf, dass sich der Langzeitverlauf der Depressionen verschlechtert, wenn Patienten mit Antidepressiva angefangen haben. Setzen sie es irgendwann wieder ab, kann es mit höherem Risiko zu einer sogenannten Rebound-Depression kommen, die schneller und heftiger ausfällt, als wenn man nur mit Psychotherapie oder Placebo behandelt wurde. Deswegen sollte man Antidepressiva wirklich nur bei schwereren Depressionen verschreiben – da ist die Überlegenheit gegenüber einer Placebo-Behandlung größer als bei leicht- und mittelgradigen Depressionen. In leicht- und mittelgradigen Fällen unterscheidet sich die Wirksamkeit von Antidepressiva kaum von Placebo, die Medikamente bringen aber das Risiko der Rebound-Depression mit sich.

Gibt es Studien zu solchen Rebound-Depressionen?

Eine richtige Studie, die man bräuchte, um das Risiko mal mit einer Prozentzahl einordnen zu können, gibt es nach wie vor nicht. Dafür müssten Patienten mindestens ein halbes Jahr mit Antidepressiva behandelt werden, dann das Medikament absetzen und dann noch mal zwei Jahre beobachtet werden, um das Rückfallrisiko mit einer Gruppe zu vergleichen, die nie mit Antidepressiva behandelt wurde. Grundsätzlich werden Studien zur Wirksamkeit von Antidepres­siva meistens von Pharmaunternehmen finanziert, die ein Interesse daran haben, dass eine Wirksamkeit nachgewiesen wird. Diese Studien enden in aller Regel nach wenigen Wochen. Früher haben diese Unternehmen übrigens zehn Studien gemacht und die zwei besten bei der Zulassungsbehörde eingereicht. Dieses Problem wurde aber mittlerweile erkannt.

Wie läuft es jetzt?

Wenn sie jetzt ein neues Antidepressivum zulassen wollen, müssen sie der Zulassungsbehörde jede Studie vor Beginn anmelden. Allerdings gelangen in die Fachzeitschriften immer noch überproportional viele Studien, die einen Behandlungserfolg nachweisen – während die weniger erfolgreichen nicht das Licht der Fachöffentlichkeit erblicken.

In Ihrem Buch „Antidepressiva: Wie man sie richtig anwendet und wer sie nicht nehmen sollte“ schreiben Sie, dass sich die Zahl der Antidepressiva-Verordnungen von 1990 bis 2018 fast verdreifacht hat. Es müsse gefragt werden, „ob inzwischen auch Alltagsphänomene und gewöhnliche Lebensereignisse zu Krankheiten erklärt und mit Medikamenten behandelt werden“. Was ist Ihre Antwort?

Ich schlage jedes Jahr im Arzneiverordnungsreport zuerst die Seite mit den Antidepressiva auf und denke mir: Es kann jetzt nicht noch mal gestiegen sein. Es ist aber jedes Jahr noch mehr. Das könnte zwei Ursachen haben.

Welche?

Erstens, dass Antidepressiva auch jenseits der Indikationsempfehlungen verschrieben werden, also bei leichten Depressionen zum Beispiel. Und zweitens, dass Patienten Probleme beim Absetzen haben – vielleicht auch weil sie schnell in eine Rebound-Depression rutschen, die durch die Medikamente erst ausgelöst wurde. Es fallen also sehr wenig Patienten weg, dafür kommen immer neue dazu. Auf der Bevölkerungsebene sieht man auch die begrenzte Wirkung der Antidepressiva. Man denkt ja erst mal: Das müssen phantastische Medikamente sein, wenn sie so viel verschrieben werden. Aber dann müsste auch ein epidemiologischer Effekt eintreten: Die Krankschreibungen wegen Depressionen müssten zurückgehen, genau wie die Frühverrentungen. Das Gegenteil ist der Fall. Als Penicillin erfunden wurde, ist die Syphilis in den Keller gegangen und wurde schließlich fast ausgerottet.

Warum sind Antidepressiva trotzdem so beliebt?

Es fängt damit an, dass der Name sehr verführerisch ist. Bei Antidepressivum denkt man an Antibiotikum, das innerhalb von drei Tagen die Krankheit besiegt. Oder an die Antibabypille, die zu 99,9 Prozent wirksam ist. Es klingt auch sehr spezifisch, dabei werden damit gar nicht nur Depressionen behandelt, sondern zum Beispiel auch Angststörungen. Außerdem ist unser ambulantes System so gestrickt, dass eine Arztpraxis sich dann rechnet, wenn möglichst viele Patienten in möglichst kurzer Zeit behandelt werden. Bei einem depressiven Patienten geht es am schnellsten, wenn Sie ihm einfach ein Rezept in die Hand drücken. Das ist aber keine Depressionsbehandlung, das ist ein Kunstfehler. So wirken die Antidepressiva kaum, die brauchen bestimmte Rahmenbedingungen, damit auch der Teil der Wirkung, der auf den Placebo-Effekt zurückgeht, voll ausgeschöpft werden kann.

Was sind die Rahmenbedingungen?

Dazu gehört erst mal eine gute Aufklärung über die Krankheit. Schon alleine dadurch wird die Depression besser. Dann ist Tagesstruktur ganz wichtig: Man sollte sich eine bewältigbare Pflicht pro Tag vornehmen und eine schöne Aktivität – also etwas, das früher Freude gemacht hat. Außerdem muss man die Schlafenszeit in die dunkle Zeit legen. Egal wie schlecht die Nacht war, man sollte zeitig aufstehen. Tageslicht ist antidepressiv wirksam, Sport auch.

Ist es sinnvoll, andere Antidepressiva auszuprobieren, wenn eins nicht wirkt?

Nein, es steht in der Behandlungsleitlinie, dass man das nicht machen sollte. Trotzdem passiert das ziemlich oft. Die Patienten, die in die Klinik kommen, haben vorher oft schon vier, fünf Antidepressiva aneinandergereiht. Das ist aber nur scheinbar eine neue Behandlung, weil alle Antidepressiva ähnlich wirken. Es gibt klügere, andere Möglichkeiten.

Welche?

Man kann zum Beispiel Blut abnehmen und nachgucken, wie viel von dem Antidepressivum wirklich im Blut ankommt. Wir wissen für fast alle Antidepressiva, wo dieser Blutspiegel liegen soll. Die Leber baut Medikamente genetisch bedingt unterschiedlich schnell ab. Wenn sie sehr aktiv ist, kann es sein, dass man eine höhere Dosis braucht. Es kann aber auch sein, dass sie träge und der Spiegel deswegen zu hoch ist. Eine andere kluge Möglichkeit ist es, zwei Antidepressiva zu kombinieren. Eine richtige Kombination der Medikamente ist wirksamer als eines allein. Man kann auch ein Medikament dazu geben, das kein Antidepressivum ist – das kann die Wirkung verstärken. Dafür zugelassen sind Lithium und ein atypisches Neuroleptikum, Quetiapin. Und was auch eine gute Möglichkeit für Patienten ist, die schon drei, vier medikamentöse Strategien durchhaben: einfach mal absetzen. Eine Behandlung, die gar nichts bringt, kann man auch beenden. Oft sieht man danach einen Schub aufwärts – die Patienten konzen­trieren sich dann mal mehr auf die anderen Methoden der Depressionsbehandlung, anstatt immer nur auf die Wirkung der Tabletten zu warten.

Vor mehr als 50 Jahren gab es eine mehr als zehnjährige Phase, in der fast alle medikamentösen Grundprinzipien entwickelt wurden, mit denen man bis heute Depressionen behandelt. Jetzt gibt es mit Psilocybin, dem Wirkstoff aus sogenannten Magic Mushrooms, einen neuen Ansatz. Wie vielversprechend ist der?

Es sind in den hochrangigsten Magazinen drei Studien mit absolut eindrucksvollen Ergebnissen erschienen. Es war zwar noch eine mittlere und kleine Fallzahl, aber die Wirkung war viel stärker als man das je mit einem Antidepressivum sieht. Und da ging es um eine Einmalgabe, die Menschen haben es also einmal bekommen, und dann hat die positive Wirkung über Wochen angehalten. Wir brauchen dazu jetzt weitere Studien, das muss von unabhängigen Forschern überprüft werden. Aber ein gewisser Grund zur Hoffnung und zum Optimismus ist das. Auch hier sind die Rahmenbedingungen sehr entscheidend, die Patienten wurden, während sie das genommen haben, über viele Stunden von einem Therapeuten eins-zu-eins betreut. Man wird durch den Rausch begleitet, damit das ein positives Erlebnis ist und nicht zum Horrortrip wird. Das ist aber weniger aufwendig als eine Psychotherapie über zwei Jahre – laut Studien aber genauso wirksam.

Sie setzen also Hoffnung rein?

Im optimistischsten Fall werden wir in zehn Jahren kopfschüttelnd auf die Antidepressiva-Behandlung zurückschauen, bei der Patienten wochenlang warten und Nebenwirkungen von Medikamenten ertragen mussten, bevor wir erkennen konnten, ob sie überhaupt wirken.

Benzodiazepine wirken im Gegensatz zu Antidepressiva sofort – machen aber schnell stark abhängig. Wie wichtig sind diese Beruhigungsmittel im Klinikalltag?

In einem Krankenhaus kann man sie einsetzen, weil sie sofort eine Erleichterung bringen und wahrscheinlich auch die Suizid-Gefahr reduzieren. Man sollte sie aber auch in der Klinik wieder absetzen. Und bei leichten oder mittelschweren chronischen Depressionen und im ambulanten Bereich ist es eine weniger gute Idee, die zu verordnen. Da ist das Risiko zu hoch, dass man darauf hängenbleibt.

Schützen Antidepressiva vor Suiziden?

Das ist auserforscht: Nein. Da brauchen wir keine neuen Studien mehr. Man hat in vielen Hundert Studien zu Antidepressiva immer gezählt, wie viele Suizide und Suizidversuche es in der Placebo- und wie viele in der Antidepressiva-Gruppe gab. Da kommt ganz klar raus, dass es keinerlei Tendenz gibt, dass in der Medikamenten-Gruppe weniger Suizidhandlungen begangen wurden. Es geht eher in die andere Richtung – wobei man das nicht überbewerten sollte. Man kann sich aber schon über die fehlende Schutzwirkung wundern, Suizidalität ist ja ein depressives Kernsymptom. Von einem Medikament, das gegen Depressionen wirkt, würde man erwarten, dass das auch dagegen wirkt. Es kann daran liegen, dass diese Medikamente eben nicht so gut wirken. Oder dass sie gewisse Nebenwirkungen haben, die dem antidepressiven Effekt an dieser Stelle entgegenwirken. Sie können den Schlaf zum Beispiel noch verschlechtern – und Schlafstörungen gehen bei Depressiven mit einem erhöhten Suizidrisiko einher.

Weiß man mittlerweile mehr darüber, wieso Antidepressiva überhaupt antidepressiv wirken?

Nein. Es wird jedenfalls kein Serotonin-Mangel ausgeglichen, wie das oft behauptet wird. Solch ein Mangel konnte bei depressiven Menschen noch nie nachgewiesen werden.

Warum bringt es nichts, die Dosis immer weiter zu erhöhen, wenn ein Antidepressivum nicht wirkt?

Die meisten Antidepressiva setzen im Gehirn am Serotonin-Transporter an. Schon bei einer niedrigen Standard-Dosis werden 80 Prozent dieser Transporter ausgeschaltet. Und wenn wir mit der Dosis höher gehen, kriegen wir die restlichen 20 Prozent nicht. Auch bei der doppelten oder dreifachen Dosis haben wir weiter 80 Prozent Ausschaltung der Serotonin-Transporter. Deswegen bringt das nichts – außer mehr Nebenwirkungen.

Das „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ besagt, dass Menschen je nach Veranlagung ab einer bestimmten Belastung in eine Depression rutschen können. Diese Veranlagung ist individuell, was erklärt, warum viele Menschen trotz schwerer Schicksalsschläge nicht depressiv werden, andere bei kleineren Veränderungen der Lebensumstände aber schon. Wenn man weiß, dass ein Patient anfällig ist, und er jetzt oder demnächst einem größeren Stress ausgesetzt ist – kann man da schon medikamentös eingreifen?

Nein, an dem Punkt setzt man psychotherapeutisch an. Patienten sollen selbst lernen, die Frühwarnzeichen und für sie individuell riskante Situationen zu erkennen. Man kann dann an der Vulnerabilität arbeiten oder den Stress verringern. Mehrere Dinge im Leben sollte man zum Beispiel nicht auf einen Schlag verändern: Also sich nicht gleichzeitig von der Freundin trennen, den Job wechseln und in eine andere Stadt ziehen. Psychotherapeuten arbeiten mit den Patienten daran, wie sie mit Stress besser umgehen können. Aber man verschreibt keine Medikamente, wenn der Patient noch gar nicht depressiv ist.

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