Authentische Affekte

Ich will meine authentischen Affekte wieder haben!

In diesem Buch stellen wir klinisches und empirisches Material in Verbindung mit Beobachtungsdaten vor, um zu zeigen, daß das Baby nicht mit einem Bewußtsein seiner selbst als geistbegabter Organismus oder als psychologisches Selbst geboren wird. Das Selbst ist eine Struktur, die sich vom Säuglingsalter bis in die Kindheit hinein entwickelt, und diese Entwicklung hängt in entscheidendem Maße von Interaktionen mit reiferen Psychen ab, die das Kind wohlwollend und reflektierend unterstützen.

Wir überzeugt, daß etliche Konzepte, die wir in diesem Buch diskutieren – beispielsweise die Theorie des sozialen Biofeedbacks durch mütterliche Affektspiegelung, der teleologische und intentionale Standpunkt, die Reflexionsfunktion, der Modus der psychischen Äquivalenz und der Als-ob-Modus der Wahrnehmung psychischer Realität, das fremde Selbst, Mentalisierung, Affektivität und natürlich Affektregulierung und Mentalisierung –, der Psychoanalyse und Psychotherapie eine genuin neue Richtung aufzeigen können.

Unter einem anderen Blickwinkel aber geht dieses Buch über psychoanalytische Konzepte und Gegenstände hinaus. Die Philosophie des Geistes dient uns als Grundlage, um den Prozeß, durch den Säuglinge und Kleinkinder die innere Welt anderer Menschen und schließlich ihr eigenes Seelenleben zu verstehen versuchen, herauszuarbeiten und zu erklären. Die Überlegung, daß wir uns selbst durch andere verstehen lernen, wurzelt im deutschen Idealismus und wurde von den Vertretern der analytischen Philosophie des Geistes weiterentwickelt (Jurist, 2000). Die Anwendung der Philosophie des Geistes ist, was die soziale Kognition anlangt, gang und gäbe. Unser Ansatz unterscheidet sich davon insofern, als wir nicht nur die Kognition, sondern auch die Affekte untersuchen. Dabei stützen wir uns auf die Bindungstheorie, die den empirischen Nachweis für das Konzept erbracht hat, daß das Selbstgefühl des Säuglings aus der affektiven Bindung zur primären Bezugsperson hervorgeht. Dennoch berufen wir uns nicht lediglich auf die Bindungstheorie, sondern entwickeln auch eine präzise Neuformulierung. Wir vertreten die These, daß die Bindung kein Selbstzweck ist, sondern daß sie dazu dient, die Entwicklung eines Repräsentationssystems zu ermöglichen, das nach unserer Meinung im Dienste des menschlichen Überlebens steht. Daher könnte
man auch sagen, daß wir uns in diesem Buch anschicken, die historischen Spannungen zwischen Psychoanalyse und Bindungstheorie beizulegen (Fonagy, 2001).

Wir verstehen unter Mentalisierung nicht lediglich einen kognitiven Prozeß; sie beginnt vielmehr mit der »Entdeckung« der Affekte in der und durch die Beziehung zu den Primärobjekten. Aus diesem Grund konzentrieren wir uns auf das Konzept der »Affektregulierung«, das in vielen Bereichen der Entwicklungstheorie und der Psychopathologietheorien eine wichtige Rolle spielt (vgl. Clarkin und
Lenzenweger, 1996). Affektregulierung, das heißt die Fähigkeit, Affektzustände zu modulieren, hängt insofern eng mit der Mentalisierung zusammen, als sie für die Entwicklung des Selbstgefühls und des Gewahrseins der Urheberschaft des Selbst
von grundlegender Bedeutung ist. Wir betrachten die Affektregulierung gewissermaßen als Präludium der Mentalisierung; gleichwohl nehmen wir an, daß sie durch die Mentalisierung auch verändert wird. Hier unterscheiden wir zwischen Affektregulierung als eine Art Anpassung der Affektzustände und einer höherentwickelten Variante, bei der Affekte zur Regulierung des Selbst benutzt werden. Der Begriff »mentalisierte Affektivität« bezeichnet eine reife Fähigkeit, Affekte zu regulieren, und die Fähigkeit, die subjektiven Bedeutungen der eigenen Affektzustände zu ergründen. Mentalisierte Affektivität bildet unserer Meinung nach das
Herzstück der psychotherapeutischen Arbeit – ein über intellektuelles Verstehen hinausgehendes, auf gelebter Erfahrung beruhendes Verstehen der eigenen Gefühle. In ebendiesem Bereich treffen wir auf Widerstände und Abwehrmechanismen, die nicht nur gegen spezifische emotionale Erfahrungen, sondern gegen
ganze Modi des psychischen Funktionierens errichtet werden; wir begegnen nicht allein bestimmten Verzerrungen mentaler Repräsentationen, die den therapeutischen Fortschritt blockieren, sondern auch Hemmungen des mentalen Funktionierens an sich (Fonagy, Edgcumbe, Moran, Kennedy und Target, 1993). Beispielsweise können wir das, was wir fühlen, falsch verstehen: Wir glauben, ein bestimmtes Gefühl zu empfinden, während wir in Wahrheit von einem ganz anderen beherrscht werden. Ja, es ist sogar möglich, daß wir uns selbst der gesamten Erfahrungswelt unserer reichen Emotionalität berauben. Die Unfähigkeit beispielsweise, sich psychische und psychosoziale Verursachungsfaktoren vorzustellen,
kann aus der alles beherrschenden Hemmung und/oder aus entwicklungsbedingten Verzerrungen der psychischen Prozesse resultieren, die diesen Fähigkeiten zugrunde liegen.

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