Nietzsche und Moral

Philosophisches Basiswissen: Nietzsche

Mit Friedrich Nietzsche (1844-1900) begann eine Wende in der Moralphilosphie. Der Philosoph hielt Moral für lebensfeindlich, weil sie vitale Triebe hemme. Dies belegte er mit Verweis auf die Geschichte der Moralvorstellungen. Gabriele Neuhäuser stellt Nietzsches Kritik der Moral vor.

Das Nachdenken über die Moralität des Menschen ist eines der großen Themen der Philosophie. Von ihren Anfängen bis in das 19. Jahrhundert waren Philosophen sich weitgehend einig, dass der Mensch der Moral bedürftig und fähig ist. Uneinigkeit herrschte in der Frage, worin das Kriterium für Moralität besteht.

Ein moralischer Mensch.

Sind es die Charaktereigenschaften, Tugenden oder Motive der Menschen? Liegt Moralität in unserer Vernunft begründet oder unseren Gefühlen? Entscheiden die Folgen einer Handlung über ihre Moralität? Oder liegt sie im Handlungstypus selbst begründet, unabhängig von Gründen und Folgen der Handlung? Wie die Antwort ausfällt – darin liegt der jeweilige moralphilosophische Ansatz.

Doch die Moral war immer auch skeptischen Einwänden und Zweifeln ausgesetzt, ihre Inhalte, Reichweite und Begründung wurden hinterfragt und diese Kritik begründete immoralistische und antimoralistische Positionen. Dieser moralkritischen Strömung ist Friedrich Nietzsche zuzurechnen, mit einer radikalen und umfassenden Kritik, die die zentralen Elemente der Moral angreift.

Ein radikal kritischer Mensch.

Er selbst bezeichnete sein Vorhaben als „grossen Krieg“ 1 gegen die Moral, in dem er alle argumentativen Waffen der moralkritischen Tradition der Philosophie einsetzt. Insbesondere in seinem Spätwerk, in den Schriften „Jenseits von Gut und Böse“ und „Zur Genealogie der Moral“2 treibt er die Kritik mit äußerster Konsequenz voran: „Wozu überhaupt Moral, wenn Leben, Natur und Geschichte ‘unmoralisch’ sind?“3

Radikale Lebensbejahung

Nietzsche wird der Lebensphilosophie zugerechnet, einer philosophischen Strömung, die von Arthur Schopenhauer (1788-1860) begründet wurde. Ihn nannte der junge Nietzsche seinen „Erzieher“, obwohl er dessen Werk nur aus seinen Schriften kannte.

Ein radikal lebensbejahender Mensch.

Von Schopenhauer übernimmt Nietzsche den Begriff des Willens, verleiht ihm jedoch eine andere, entgegengesetzte Bedeutung. Für Schopenhauer ist der allgegenwärtige metaphysische Wille eine die gesamte Welt durchwirkende Kraft, die bei Lebewesen in Form von Bedürftigkeit und Triebunterworfenheit beständig Leiden verursacht, die es stillzustellen gilt. Für Nietzsche ist der Wille zur Macht eine vitale Kraft, das zentrale Merkmal des Lebens, das gesteigert und nicht beschnitten werden sollte.

In dem Maße, wie er die radikale Lebensbejahung in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellte, wandte er sich von Schopenhauers Pessimismus ab, den er für lebensfeindlich hielt. Mit dieser Denkentwicklung ist schon ein wesentliches Motiv seiner Moralkritik bezeichnet: Moral ist für ihn lebensfeindlich, weil sie mit ihren Handlungsnormen auf die Hemmung vitaler Triebe und Kräfte ziele.

Ein vital triebhafter Mensch.

Alles Leben ist Willen zur Macht und in ihm findet Nietzsche ein letztes Prinzip aller Wertungen: „Was ist gut? Alles, was das Gefühl Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht. Was ist schlecht? Alles, was aus der Schwäche stammt“. 4

Für Nietzsche existiert ein unaufhebbarer Widerspruch zwischen Moral und Leben, und seine Moralphilosophie versucht, diesen bis in bis in feinste Verästelungen moralischer Begriffe hinein bloßzulegen.

Ein unaufhebbar widersprüchlicher Mensch.

Wie Moralvorstellungen entstehen

Nietzsches Schrift Genealogie der Moral. Eine Streitschrift (1887) gilt als Höhepunkt abendländischer Moralkritik und Wende der Moralphilosophie, denn er verrichtet nicht die geläufige Arbeit des Moralphilosophen, Moral zu begründen und zu rechtfertigen. Statt nach Begriff, Kriterium und Prinzip der Moral zu suchen, unternimmt er es, genealogisch die „Hieroglyphenschrift“ der Moral-Vergangenheit zu entziffern. Alles müsse aus seiner Genese verstanden werden, schlechterdings feststehende Tatsachen oder Wahrheiten gebe es nicht.

Stattdessen gelte es im Sinne der ursprünglichen Bedeutung des Begriffes „Genealogie“ Verwandtschaftsbeziehungen aufzuspüren und die Herkunft der moralischer Vorstellungen auszuleuchten, die kein überhistorischer Katalog von Normen und Werten, sondern etwas Gewordenes ist. Zum Aufspüren bedient er sich real-, kultur- und sprachwissenschaftlicher Mittel.

Ein analytischer Mensch.

Der genealogischen Analyse kommt eine doppelte Aufgabe zu: erstens die systematisierende Beschreibung von Moralsystemen und zweitens die Aufdeckung von Ursprung und Entwicklung des grundlegenden Verständnisses von Moral. Dabei will er nicht ihr Verteidiger oder Richter, sondern ihr Ankläger sein.

Mit dieser Haltung greift er Philosophen an, die herrschende moralische Wertvorstellungen insbesondere des Christentums einfach unkritisch übernehmen, statt ihre Herkunft zu überprüfen, insbesondere daraufhin, von welchen Personen oder Gruppen und deren biologischer und psychologischer Verfassung sie ausgingen.

In drei Abhandlungen zeichnet er die Genese zentraler moralischer Begriffe nach wie „gut“, „böse“, „Gewissen“, „Schuld“, „Strafe“, „Versprechen“. In der ersten Abhandlung skizziert er den schon in der Vorgängerschrift Jenseits von Gut und Böse (1886) dargelegten Unterschied zwischen Herrenmoral und Sklavenmoral. Das Begriffspaar „gut und böse“ habe ursprünglich gar keine moralische Bedeutung, sondern bezeichne soziale Rangunterschiede. Die Herren waren die „guten“ Menschen im Sinne von „edel“ und die Sklaven/Untergebenen die „schlechten“ im Sinne von „schlicht“.

Ein Herrenmensch.

Von der Herrenmoral zur Sklavenmoral

Diese verschiedenen Gruppen von Menschen entwickelten unterschiedliche Normen und Werte. Die Herrenmoral betont die Rangunterschiede zwischen Menschen. Herren sind die „Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden (…), im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften.“5

Herren, die Nietzsche auch als „Raubtiere“, „Raubvögel“, „blonde Bestien“6 bezeichnet, zeichnen sich durch Stärke, Stolz, Vornehmheit, Privilegien und Härte gegen die Niedrigen aus; sie dürfen diese ungestraft berauben, vergewaltigen, töten. Regierte in vorchristlicher Zeit die Herrenmoral vor, beginnt mit den jüdischen Propheten des Alten Testaments und dem Christentum „der Sklavenaufstand in der Moral“.7

Ein Sklavenmensch.

Sklavenmoral drängt die Herrenmoral zurück. Getrieben von Hass und Ressentiment, die der Ohnmacht entspringen, treiben die Sklaven die Umwertung der Werte voran; nun werden die „Elenden (…) allein die Guten, die Armen, die Ohnmächtigen, Niedrigen (…), die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen“ zu Gottseligen und die Vornehmen zu den Bösen.8

Mit der Aufwertung der Niedrigen – von Nietzsche auch als Haustiere und Lämmer bezeichnet – beginnt die Hochschätzung ihrer Werte, die das Christentum prägen, aber auch philosophische Strömungen wie den Platonismus, den Pessimismus Schopenhauers und die Aufklärungsmoral: Mitleid, Barmherzigkeit, das Prinzip der Nichtverletzung, der Unparteilichkeit und des Altruismus. Durch dieses „süße Gift“ würde die ganze Menschheit vergiftet.

Ihren späten Widerhall finden diese Umwertung der Werte in den modernen sozialen Bewegungen Europas, die auf Gleichheit aller Menschen zielen wie die Emanzipationsbewegungen der Arbeiter und Frauen oder das Streben nach Demokratie. Der europäische Mensch des 19. Jahrhunderts mit seinem Gleichheitsforderungen ist für Nietzsche ein verweichlichtes, degeneriertes und domestiziertes Herdentier.

Die ganze Moderne leide an Dekadenz, gegen die wiederum nur eine radikale Umwertung der Werte helfen kann. n der zweiten und dritten Abhandlung der Genealogie verfährt er parallel zu ersten. Dort untersucht er moralische Begriffe wie Schuld, Gewissen, Strafe auf ihre Ursprünge hin. Diese drei Begriffe haben ihren Ursprung alle im Obligationenrecht, in dem es in Beziehungen, die auf Gegenseitigkeit angelegt sind, um die Wiederherstellung eines gestörten Gleichgewichts geht.

Schuld beispielsweise komme von Schulden und beim Strafen gehe es um einen Ausgleich von Schuldigkeit: Der Gläubiger darf für einen erlittenen Schaden eine Rückzahlung, einen Ausgleich verlangen und erlebt damit ein „Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen. (…) Vermittelst der Strafe am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte theil: endlich kommt auch er ein Mal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein „Unter-sich“ verachten und misshandeln zu dürfen.“9

Zweifel daran, dass Grausamkeit die große Festfreude des Menschen ist, kann nach Nietzsche nur haben, wer krankhaft verzärtlicht ist, wie die moderne Seele, die solche archaischen Affekte sublimiert.

Ein sinnloser und grausamer Mensch.

Die Natur als sinnloses, grausames Spiel

Die historische Entwicklung der Moral vollzieht sich nach Nietzsche in einem Dreischritt:

1. In der moralisch-psychologische Frühgeschichte mit Herrenvölkern herrscht auf ungebrochene und heitere Weise die vorsittliche Herrenmoral vor.

2. Die zweite ist die sittliche Phase, in der sich allmählich die Sklavenmoral entwickelt, mit ihrem Vorherrschen von Ressentiment gegen die Starken, dem schlechten Gewissen und den zentralen Begriffen, die sich um die Schwächen der Sklaven drehen.

3. Die künftige Moral soll die des autonomen und freigeistigen Individuums der Zukunft sein, des Übermenschen, der wieder eine ressentimentfreie Übersittlichkeit lebt.

Am Ende des Prozesses steht das souveräne Individuum, das zu Recht über Sklaven-Individuen und über die nicht-menschliche Natur herrscht und zugleich über innere Souveränität verfügt, denn Herr ist auch, wer Macht über sich hat und nicht nur über andere.

Dieses Individuum erkennt an, dass die Natur ein dynamisches, sinnloses und grausames Spiel von Wachstum, Steigerung, Überwältigung und Kampf ist, die Starke und Begünstigte sowie Schwache und Benachteiligt hervorbringt. Die Moral des Übermenschen akzeptiert keine Sklavenmoral, welche die Lebensvollzüge des Individuums einschränkt, in denen der Mensch sich am stärksten bejaht: Sexualität, Habsucht, Herrschsucht, Grausamkeit.

Ein Übermensch.

Die Moral des Übermenschen

Doch Nietzsche klagt nicht hemmungsloses Ausleben vitaler Triebe ein. Vielmehr enthält sein Lebensbegriff ein dynamisches, auf die Gattung Mensch bezogenes Element: Leben müsse wachsen, um seine Macht zu erweitern. Es ist auf die Ermöglichung höchster Typen ausgerichtet und strebt somit auch nach der Erhöhung des Typus Mensch zum Übermenschen im Sinne einzelner wertvoller Individuen. Ziel der Ethik der Vornehmheit ist der herausragende Ausnahmemensch.

Nietzsche beklagt nicht die Beschränkung und Unterdrückung der Einzelnen überhaupt, sondern nur die der höheren Menschen. Moralische Verbote treffen die Schwachen ohnehin nicht, denn sie bekommen etwas verboten, was sie gar nicht können; die Moral der Nichtverletzung ist keine Einschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten.

Für die Starken hingegen sind alle Moralgebote Einschränkungen, sie gehen zu Lasten der wertvollen Menschen, denen der Egoismus die angemessene Haltung ist. Die naturgegebene Rangordnung begründet ein Sonderrecht und Moral ist deshalb lebensfeindlich, weil sie kein Sonderrecht anerkennt. Sie beschneidet die Vorrechte der Individuen, verlangt die Berücksichtigung der Interessen anderer, verbietet Aggression, gebietet Anerkennung der Rechte Aller und bemüht sich um friedliche Konfliktlösung.

Für Nietzsche sind Konflikt und Aggression jedoch lebensförderlich, der Starke bewährt sich im Kampf. Friedliche Konfliktlösung durch Moral und Recht hingegen ist ein Zeichen von Niedergang und Verfall.

Ein kritischer Mensch.

Kritisches Resumee

Dass Nietzsches Moralphilosophie höchst umstritten und angreifbar ist, liegt auf der Hand. Zu offensichtlich sind die Ideen, die einen Missbrauch zulassen. Beispiele dafür sind der Militarismus des ersten und zweiten Weltkrieges, die auf Nietzsches Lob der kriegerischen Tüchtigkeit zurückgreifen 10, oder die missbräuchliche Deutung des Übermenschentums und des Ariers durch die Nationalsozialisten.11

Auch widersprechen Nietzsches Ideen in vielerlei Hinsicht dem Selbstverständnis des Menschen in modernen, demokratischen und auf der Vorstellung der Gleichheit aller Menschen beruhenden Gesellschaften und Kulturen.

Doch was bleibt, wenn man all die rassistischen, sexistischen, antisemitischen und sozialdarwinistischen und antidemokratischen Elemente seiner Philosophie abzieht? Kann man von ihm nur lernen, wie man Moral nicht betreiben darf? Oder ist philosophische Geringschätzung Nietzsches ungerechtfertigt?

Zu seiner Verteidigung lässt sich anbringen, dass auch andere vor ihm, beispielsweise die englischen Utilitaristen mit ihrer Moral der Nützlichkeit oder Schopenhauer mit der Moral des Mitleids Modelle entwickelt haben, die deutlich Zwecke der Moral herausstellen, die den von der Moral vorgegebenen Zwecken widersprechen. Ein Beispiel ist das im Mitleid sehr häufig versteckte Selbstinteresse. Insofern steht er mit seinen drastischen Hinweisen auf die moralfremden Zwecke der Moral nicht alleine.

Wir verdanken Nietzsche, dass er den Blick für die historischen Zusammenhänge der Moralentwicklung geöffnet hat. Damit sensibilisiert er dafür, dass sich überzeitlich, universell gültige moralische Normen nicht so ohne Weiteres finden lassen. Und zuguterletzt enthält der Binnenverhaltenskodex der Vornehmen Elemente einer auf Gleichheit, Achtung und Fairness beruhenden Moral.

Literaturhinweise

Gerhardt, Volker (1999): Friedrich Nietzsche, 3. Auflage, München: Beck.

Höffe, Otfried (Hg.) (2004): Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, Reihe Klassiker auslegen, Berlin: Akademie-Verlag.

Nietzsche, Friedrich (2003): Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral, Kritische Studienausgabe, Band 5, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin: dtv, de Gruyter.

Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin: dtv, de Gruyter, 1967-1977; 1988 2. durchgesehen Ausgabe.

Safranski, Rüdiger (2000): Nietzsche. Biographie seines Denkens, München, Wien: Hanser.

Schröder, Winfried (2005): Moralischer Nihilismus. Radikale Moralkritik von den Sophisten bis Nietzsche, Stuttgart: Reclam.

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