Wer glaubt, dass die innere Stimme immer auch der Wahrheit entspricht, ist auf dem besten Wege, sich das eigene Leben selbst schwer zu machen. Denn die eigenen Gedanken haben oft wenig mit der Realität gemein. Stattdessen sollte man sich auf etwas anderes konzentrieren.
Sie sind auf der Suche nach sich selbst? Brauchen Sie Orientierung? Ganz einfach: Hören Sie in sich hinein. Dort, tief im Innersten, liegt das Geheimnis Ihrer Identität – Ihre innere Stimme. Sie wissen nicht, was Sie mit Ihrer Zeit anfangen sollen, mit Ihrem Leben, Ihren Beziehungen, Ihrer Karriere?
Kein Problem, Ihre innere Stimme wird es Ihnen verraten. Vertrauen Sie ihr stets, sie wird Ihrer Bitte um Rat und Inspiration gern nachkommen, wird jede kleine Gedankenpause füllen – mit Sorgen, Ängsten, Wünschen, Warnungen, Erinnerungen und To-dos, mit aufgeschnappten Soundbites, Peinlichkeiten aus Ihrer Jugend, mit Dingen, die passiert sind und solchen, die nie passiert sind. All das bietet Ihnen Ihre innere Stimme an, oft auch unaufgefordert. Bunt wie eine YouTube-Playlist, und immer schön auf Ihre minütlichen Interessen und Bedürfnisse eingehend. Ihre innere Stimme ist – wie es so schön heißt – Ihr Kompass. Ihr Kompass für ein miserables Leben.
Um richtig miserabel zu leben, müssen Sie hundert Dinge anpacken und nichts richtig zu Ende bringen, und genau dabei hilft Ihnen Ihre innere Stimme. Sie springt von einem Thema zum anderen. Und dann wieder zurück. Sie fordert das eine und gleich darauf das Gegenteil. Ihr Leben wird einem hektischen Zickzack gleichen, ohne Ziel und Sinn. Vor allem werden Sie sich nie mehr langweilen, denn Ihre innere Stimme ist durchaus fähig, 24 Stunden am Tag zu plaudern, sieben Tage die Woche. Hören Sie ihr aufmerksam zu und hinterfragen Sie nie, was sie sagt. Wer so viel redet, muss doch jede Menge wissen!
Die sanfte Stimme der Vernunft: Es heißt, der Mensch habe pro Tag hunderttausend Gedanken. Macht etwa zwei pro Sekunde, die Schlafzeit ausgenommen. Eine plausible Zahl, wie eine Selbstbeobachtung schnell bestätigen kann. Die wenigsten dieser Gedanken sind gewollt. Die wenigsten sind originell. Und noch weniger sind relevant. Dieses Gedankengewirr kann man zusammenfassend als „innere Stimme“ bezeichnen – ein unaufhörlich speiender Vulkan heißer und gleich wieder erkaltender Gedankensplitter. Sich in diesem Chaos Orientierung zu erwarten, ist schon fast kriminell idiotisch. Vier Anmerkungen:
Erstens: Sie sind nicht Ihre innere Stimme. Sie sind bloß ihr Zuhörer. Sie entscheiden, ob Sie überhaupt zuhören möchten. Weil die innere Stimme meist ein Störsender ist, empfehle ich Ihnen, sie möglichst nicht zu beachten. Die innere Stimme ist nie zufrieden. Sie meldet ständig ein Problem. Schlägt Alarm. Erinnert Sie an etwas, das auf keinen Fall passieren oder vergessen werden darf. Ihre innere Stimme inszeniert ein Nonstop-Melodrama.
Zweitens: Ausschalten kann man die innere Stimme leider nicht. Außer vielleicht, Sie schaffen, was mir noch nie gelungen ist: zu meditieren und alle Gedanken auszublenden. Aber selbst, wenn Sie darin besser sind als ich, werden Sie nicht 24 Stunden pro Tag meditieren können. Sobald die Ruhe der (gelungenen) Meditation vorbei ist, setzt die Kakophonie wieder ein. Also müssen wir anders mit diesem Stimmengewirr umgehen. Lösung: Notieren Sie sich die wenigen relevanten Meldungen aus Ihrem Kopf auf Papier, in einem Kalender oder auf einer To-do-Liste. Tun Sie das laufend. Mein iPhone zum Beispiel ist so programmiert, dass ich mit einem Druck auf den rechten Seitenknopf einen Gedanken ins Micro sprechen kann, der sofort als Notiz in meiner To-do-Liste abgespeichert wird. Ich muss weder eine App öffnen noch einen Buchstaben tippen, muss weder das Zähneputzen noch das Kochen unterbrechen. Mit der Zeit legt sich das Stimmengewirr, denn ich weiß: Die wichtigen Gedanken sind abgelegt, ich muss sie nicht mehr länger im Kopf herumtragen. Zweimal die Woche gehe ich die To-do-Liste durch und konvertiere die Notizen in Kalendereinträge oder füge ihnen Deadlines zu. Schluss mit dem Gedankenstau. Schluss mit den sich unendlich wiederholenden Gedanken-Loops.
Christus im Sturm auf dem See von Galiläa, von Rembrandt
Wenn es um die Orientierung im großen Ganzen geht, also um die Frage, in welche Richtung das Leben gehen soll, hören Sie bewusst auf die innere Stimme.
Drittens: Ihre innere Stimme hat erstaunlich wenig mit der Realität zu tun. Was uns stresst, ist meistens nicht die Realität, sondern es sind unsere Gedanken. Bleiben Sie in der Welt da draußen. Konzentrieren Sie sich auf Ihre langfristigen Ziele und die Aufgaben, die heute anstehen. Das gibt Ihnen Orientierung.
Viertens: Auch wenn es um die Orientierung im großen Ganzen geht, also um die Frage, was Sie mit Ihrem Leben anfangen sollen, hören Sie bewusst nicht auf die innere Stimme. Schauen Sie auf Ihre handfesten Fähigkeiten. Worin sind Sie nachweislich gut? Konzentrieren Sie sich darauf. Angenommen, die innere Stimme sagt Ihnen unter der Dusche in einem Anflug von Begeisterung „Werde Sänger!“, aber Sie können viel besser rechnen als singen – dann werden Sie Buchhalter, Revisor oder Statistiker. Die Welt braucht begabte Zahlenmenschen. Schlechte Sänger braucht sie nicht.
In seiner Kolumne schreibt Rolf Dobelli darüber, wie man sein Leben garantiert in den Sand setzt. Dobelli gründete 2008 WORLD. MINDS, eine Community der weltweit führenden Köpfe in Wissenschaft, Wirtschaft und Geopolitik. Deren Management-Organisation ist heute Teil von Axel Springer.