Immer mehr ältere Frauen leben wie früher nur die Männer: Sie haben Sex mit vielen Partnern und genießen es. Nach dem Motto: Was ihr Männer könnt, können wir schon lange. Und schämen tun wir uns dafür auch nicht.
Dieser Text ist von Katrin Hummel, Redakteurin im Ressort „Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.
Das Allerschönste, sagt Bettina Selbert, ist morgens aufzuwachen, sich noch mal umzudrehen und dann zu überlegen: Was könnte ich heute tun? Was gibt das Wetter her? Was ist so los? Wozu habe ich Lust? Keine Rücksicht nehmen zu müssen auf einen Mann an ihrer Seite – weil da keiner ist. Trotzdem ab und zu schöne Stunden zu verbringen mit anderen Männern. Das Beste aus diesen beiden Welten zu haben. Und niemanden, der ihr ein schlechtes Gewissen macht.
Selbert, 60, hat seit acht Jahren unverbindlichen Sex mit Männern. Sie trifft sich ab und zu mit ihnen, redet davor und danach ein bisschen, und dann geht sie wieder. Damit ist die Betriebswirtin Teil einer größer werdenden Gruppe: Frauen über 50, die gar keine feste Beziehung mehr suchen nach der ersten Ehe, sondern eher – wie früher zumindest offiziell nur Männer – für jedes Bedürfnis jemand anderen haben: einen feinsinnigen Begleiter für die Oper, einen sportlichen Kumpel für die Radtour und einen oder mehrere junge Liebhaber fürs Bett. Nach dem Motto: Was ihr Männer könnt, können wir schon lange. Und schämen tun wir uns dafür auch nicht.
Da ist die hochattraktive frühere Leistungssportlerin, die sagt: „Mit einem festen Partner würde ich viel Freiheit verlieren.“ Da ist die Psychologin im Ruhestand, die sagt: „Einen festen Partner zu haben ist nicht die Rettung in allen Situationen.“ Den letzten Mann, der mehr von ihr wollte, hat sie nach dem Kennenlernen im Urlaub wieder auf Abstand gebracht. „Im Urlaub passte das super, aber als wir wieder in Deutschland waren, wurde er mir zu aufdringlich. Je mehr Druck er gemacht hat, desto weniger wollte ich. Und dann habe ich auch gemerkt, dass er meinen intellektuellen Ansprüchen nicht genügt.“
Eine exklusive Beziehung mit einem Mann sei sinnvoll, während man Kinder großziehe. Doch für Frauen über 50 nicht mehr, findet Susanna Valerius, die Psychologin im Ruhestand. „Warum nicht die eigenen Bedürfnisse mit mehreren Menschen teilen?“ Schon länger hat sie einen schwulen Freund, mit dem geht sie ins Theater, und einen anderen schwulen Freund, der liebt schöne Gärten, genau wie sie. Dann ist da noch der Wanderfreund, mit dem sie tolle Ausflüge macht, der ist eigentlich sehr nett, aber er redet ihr zu viel und ausschließlich von sich selbst. Einmal hat er sie zu sich aufs Land eingeladen, „und dann ist er allen Ernstes mit mir Traktor gefahren“, erzählt sie lachend und winkt ab.
„Frauen bekommen bestimmte jahrhundertealte Rollen zugeschrieben“
Tatsächlich haben Singles über 50 laut einer Parship-Studie seltener als jüngere Menschen den Anspruch, die große Liebe zu finden. Dafür wollen sie häufiger interessante Menschen kennenlernen oder einfach eine gute Zeit haben. Für Bettina Selbert bedeutet das: keine Verpflichtungen, keine Zwänge, keine falschen Rücksichtnahmen. Nur Spaß, auch in Form von unverbindlichem Sex – mit zum Teil verheirateten Männern. An die große Glocke hängen will sie das freilich nicht, daher trägt sie wie alle Frauen in diesem Text nicht ihren wirklichen Namen. Sie fürchtet, dass andere verwerflich finden, was sie tut.
(Anmerkung der Redaktion: Tun wir nicht.)
Und das zu Recht. Denn sobald eine Frau keine monogame, romantische Liebesbeziehung mit ihrem Partner lebt, wird sie gesellschaftlich sanktioniert, sagt die Soziologin und Buchautorin Andrea Newerla: „Die Leute rümpfen die Nase, fragen scheinheilig: ‚Tut dir das denn wirklich gut?‘, und denken: Die ist bindungsunfähig oder bindungsunwillig. Manche brechen sogar den Kontakt zu solchen Frauen ab.“
Das liegt daran, dass ein solches Verhalten von Frauen weniger erwartet wird als von Männern. „Frauen bekommen bestimmte jahrhundertealte Rollen zugeschrieben: dass sie zu Hause bleiben und dass sie sich kümmern um Kinder oder Kranke.“ Dass sie sich fragen, was sie wirklich wollen, und ihr Leben aktiv gestalten – das ist für Frauen immer noch nicht selbstverständlich. Wenn sie es aber in unserer immer noch patriarchalen Gesellschaft doch tun – dann brauchen sie „viel Mut, viel Selbstbewusstsein und sehr viel Bei-sich-Sein“, sagt Newerla.
Katja Renger, 54, Beamtin, geschieden, kann das mit dem Bei-sich-Sein nur bestätigen. „Die Suche nach der großen Liebe hab ich aufgegeben. Nach Kindern, neben meinem Beruf, und nach mehr als 20 Jahren Ehe möchte ich mich vor allem selbst in den Mittelpunkt stellen. Ich lebe nach der Devise: Was möchte ich in den zehn Jahren bis zur Rente noch erleben?“, erzählt sie freimütig. Und das ist seit nunmehr drei Jahren ein um erotische Ausflüge erweitertes Single-Dasein: „Es ist einfach schön, sich zu fragen: Was brauche ich, was tut mir gut – ohne Kompromisse zu machen.“ Mit jemandem zusammenzuziehen, das könnte sie sich nicht mehr vorstellen. Sex mit unterschiedlichen Männern schon.
Und so trifft sie sich seit ihrer Scheidung regelmäßig mit drei Männern, die 53, 54 und 65 Jahre alt sind. Der Vorteil: „Ich kann sehr unterschiedliche Seiten von mir selbst mit ihnen ausleben.“ So würden alle ihre Bedürfnisse erfüllt – was ein einzelner Mann niemals könnte. Außerdem seien solch lockere Beziehungen auch schön, weil man „den ganzen Alltagskram nicht an der Backe hat und nur den Moment genießt. Man kann sich dann sehr gut fallen lassen.“ Sie glaubt mittlerweile, dass mit Menschen, mit denen man nicht zusammenwohnt, eine erfülltere Sexualität möglich ist.
Zwei Kinder, den Beruf nach der Heirat aufgegeben
Susanna Valerius, die Psychologin, die sich mit unterschiedlichen Männern umgibt, rät selbstbewusst zu einem Perspektivwechsel: „Die eigenen Vorstellungen hinterfragen und gegebenenfalls abstauben, wenn sie sich als veraltet herausstellen oder von der Werbung über ein glückliches Alter geprägt sind. Und sich ehrlich fragen: ,Was wünsche ich mir wirklich?‘“ Dann müsse man nur noch bereit sein, das auch auszuprobieren.
Frauen über 50 suchen seltener noch einmal nach der wahren Liebe: Viele wünschen sich eher die Freiheit, ihre Sexualität ohne Zwänge auszuleben.
Bei Bettina Selbert hat es allerdings lange gedauert, bis sie an diesem Punkt war. Sie hat zwei Kinder, hat nach der Heirat ihren Beruf aufgegeben, um ihrem Mann den Rücken freizuhalten. Nach 17 Jahren kam die Scheidung. Und dann eines Tages der deutlich jüngere Nachbar, der ihr im Treppenhaus Avancen machte. Sie verliebte sich, hatte drei Jahre lang eine Affäre mit ihm. Dann hatte er eine andere, und sie war eifersüchtig. „Aber zurück in eine monogame Beziehung wollte ich nicht mehr“, erzählt sie.
Einmal noch machte sie den Versuch und ließ sich auf jemanden ein. Aber dieser Mann, der ihr regelmäßig spätestens am Samstagmorgen um 10.30 Uhr schrieb: „Wie ist dein Plan für heute?“ wurde ihr nach gut zwei Jahren immer mehr zur Belastung. „Manchmal wollte ich einfach zurückschreiben, dass ich keinen Plan hätte und auch wirklich keinen haben wollte. Ein total freier Tag wäre zur Abwechslung klasse gewesen: nicht auf die Uhr schauen und einfach tun und lassen, was ich wollte.“
Sich selbst mit ihrem Bedürfnissen besser wahrnehmen
Sie trennte sich und hat seitdem nur noch Affären, die sie auf Datingportalen findet. Und mittlerweile möchte sie diese Freiheit, die sie jetzt hat, „nicht mehr opfern für diesen Alltag, den man dann so hat. Dieses: Wir haben keine Milch mehr. Wir müssen noch Butter kaufen.“ Sie hat Freundinnen, die nach einer Trennung nicht allein bleiben wollten und mit einem neuen Partner leben, mit dem sie nicht richtig glücklich sind. „Die haben ein unschönes Leben, weil sie abends nicht allein auf der Couch sitzen wollen. Da ist mir mein Modell lieber.“
Nach Meinung der Soziologin Andrea Newerla können Frauen heute so wie Bettina Selbert leben, weil die Frauenbewegungen der letzten 100 Jahre den Boden dafür bereitet haben. Angefangen bei den Suffragetten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für das Wahlrecht der Frauen kämpften und forderten, dass Frauen als mündige Subjekte in der Gesellschaft mitentscheiden dürfen, über die 68er und den Feminismus bis hin zu den Medien, in denen viele Geschichten erzählt werden über Menschen, die andere Wege gehen. Auch die Sexualität von Frauen werde nicht mehr als passiv dargestellt: „Frauen gelten heute als viel aktiver als früher, sie dürfen sich entscheiden für oder gegen etwas.“
So sei es kein Wunder, dass Frauen sich selbst mit ihren Bedürfnissen besser wahrnähmen und mehr zu ihrer eigenen Sexualität stünden. Hinzu komme, dass es in romantischen Liebesbeziehungen heute mehr darum gehe, wie man sich selbst fühle, als darum, um jeden Preis zusammenzubleiben. Wenn Frauen unglücklich seien, billige die Gesellschaft ihnen zu, sich zu trennen. „Es ist heute viel legitimer für Frauen als noch vor 50 Jahren, sich als handlungsfähige Menschen, die ihr Leben gestalten, wahrzunehmen“, sagt Andrea Newerla.
Angst, wieder eine Verpflichtung einzugehen
Und deswegen kann das bei der einen Frau, die mit mehreren Männern schläft, so aussehen und bei der anderen so. Die Beamtin Katja Renger sagt zum Beispiel ganz klar: „Eine monogame Beziehung wäre nichts mehr für mich. Das kann ich so nicht mehr geben, das steht fest. Ich will meine drei Männer nicht alle sitzen lassen, weil ich eine monogame Beziehung eingehe. Die sind mir wichtig als Menschen, nicht nur wegen des Sex. Das sind Freunde von mir.“
Bettina Selbert, die Betriebswirtin, die zurzeit mit zwei verschiedenen Männern schläft, sagt indes: „Nur Sex, das wäre mir zu technisch. Wir reden auch.“ So etwas wie Freundschaft will sie aber auf keinen Fall – aus Angst, wieder eine Verpflichtung einzugehen wie mit ihrem Mann, dem sie den Rücken freihielt. Sie verabredet sich alle zwei oder drei Wochen mit ihren Männern, jeweils einzeln. Die beiden wissen nichts voneinander, und der eine hat eine feste Beziehung. Dann trinken sie einen Kaffee zusammen, reden ein bisschen und gehen anschließend miteinander ins Bett. „Vielleicht ist es auch so interessant, weil das eben nicht jeden Tag ist, sondern man schon was dafür tun muss, dass es zu solchen Treffen kommt“, sagt sie.
Der Vorteil liegt indes auf der Hand: Die Beziehungen bleiben unverbindlich, und gegenseitige Fürsorge ist ausgeschlossen, was ihr sehr recht ist. „Ich habe Angst davor, dass ich dann wieder anfange, so ein männliches Wesen zu umsorgen. Das habe ich bei meiner Mutter so erlebt, und das habe ich selbst so gemacht. Ich möchte nicht, dass meine Tochter das auch noch macht.“
Bei aller Freiheit, die sie sich nehmen: Offen darüber zu reden bleibt ein Tabu. Dass sie in ihrem Umfeld auf wenig Verständnis stoßen würde, weiß Bettina Selbert. Deswegen erzählt sie keinem, wie sie lebt. Nicht ihrer Mutter, nicht ihren Kindern, nicht ihren Freundinnen oder Kollegen. Schweigen und genießen ist ihre Devise. Außerdem war sie schon immer diejenige, die gern aus der Reihe getanzt ist. An ihrem ersten Tag in der Bank war sie die einzige Frau, die in Hosen erschien. Und kürzlich hat sie einen Tandemsprung gemacht aus 4000 Meter Höhe – obwohl sie panische Angst hatte.
Sie ist zutiefst davon überzeugt, „dass man eigentlich keine Grenzen hat außer denen, die man sich selbst setzt“. Wenn sie also mit so vielen Männern schläft, wie sie will, dann pfeift sie auf die Grenzen, welche die Gesellschaft ihr setzt. „Das war moralisch gesehen eine Überwindung, genau wie auf körperliche Art der Fallschirmsprung, aber dann habe ich eben festgestellt: Das ist eine völlig neue Erfahrung, die ich nie gemacht hätte, wenn ich mich nicht getraut hätte – und die ist eigentlich ganz schön.“