Das epistemische Vertrauen wird in der neueren Entwicklung des Mentalisierungskonzepts zu einer zentralen Größe (Fonagy et al. 2014, 2015). Für Fonagy (2017) öffnet es eine Entwicklung der Psychoanalyse von der Triebtheorie über die Bindungstheorie hin zu einer Kommunikationstheorie.
Epistemisches Vertrauen ist das basale Vertrauen in eine Person als sichere Informationsquelle (Sperber et al. 2010, Wilson & Sperber 2012).
Diese Definition ist unscheinbar, aber sie hat es in sich. Zwei Beispiele:
+ Unser Geburtsdatum kennen wir nicht aus unserer eigenen Erfahrung, aber wir sind darüber ziemlich sicher. Personen, denen wir vertrauen, haben es uns gesagt und es stimmt mit anderen Informationen, die wir haben, überein.
+ Wir wissen nicht, wie das WLAN funktioniert, aber irgendjemand hat uns gesagt, wie man es findet und benutzt. Unterstützt von unserem kulturellen Wissen, können wir es dann für uns verwenden.
Epistemisches Vertrauen ist aus Sicht des Mentalisierungskonzepts eine Errungenschaft von frühen sicheren Beziehungserfahrungen, aber auch Beziehungserfahrungen, die eine Person in ihrer weiteren Lebensgeschichte gemacht hat.
Epistemisches Vertrauen steht dabei in enger Beziehung zur Anpassung an einen sozialen Rahmen, in dem sich eine Person – begrenzt durch ihre interpersonalen Kompetenzen und beeinflusst von ihren Konflikten – permanent weiterentwickelt.
Fonagy & Luyten (2016) spezifizieren den Begriff des epistemischen Vertrauens in Hinsicht auf Pädagogik und Psychotherapie. Epistemisches Vertrauen ist „die Bereitschaft eines Individuums, die Kommunikation, die das Wissen einer vertrauenswürdigen Person vermittelt, als für die eigene Person verallgemeinerbar und relevant zu betrachten.“ (Übers. JB). Und weiter: „Vertrauen kommt aus dem Empfinden sich emotional und kognitiv von einer anderen Person verstanden zu fühlen.“ (Übers. JB) Interview mit Fonagy (Duschinsky et al. 2019).
Unsere Welt ist voller komplexer Anforderungen, die Dinge sind nicht selbsterklärend, so dass wir auf Personen als sichere Informationsquellen angewiesen sind. Dabei fungieren „Türöffner“ (sog. „Ostensive“ Zeichen/Hinweise) als Trigger für epistemisches Vertrauen. Von Geburt an öffnen Blickkontakt, geteilte Aufmerksamkeit und „Ammensprache“ Kommunikationskanäle, die die Aufmerksamkeit lenken und das Vertrauen des Kindes in die Wichtigkeit und Generalisierbarkeit von Informationen (Csibra & Gergerly 2009, 2011) fördern.
Mentalisieren bedeutet den oder die Anderen im Blick haben („Holding mind in mind“). Diese Perspektivenübernahme führt dazu, dass sich das Gegenüber wahrgenommen fühlt und das epistemische Vertrauen gefördert wird. Epistemisches Vertrauen und Epistemische Vigilanz (Wachsamkeit) ermöglichen soziales Lernen und die Weitergabe von kulturellem Wissen.
Epistemisches Vertrauen erwerben wir als Kind besonders gut, wenn wir in einer sicheren und vorhersehbaren Umgebung aufwachsen. Sichere Bindung und affektive Resonanz bedeutender Bindungspersonen erleichtern den Erwerb von epistemischem Vertrauen. Epistemisches Vertrauen ist die Grundlage der Entwicklung eines Selbst, das sich als selbstwirksam erlebt. Es ist die Grundlage zur Entwicklung von Mentalisierung (s. Abb. 1) und sozialer Intelligenz.
Mentalisierung ist dabei nicht Selbstzweck, sie erweitert die Möglichkeiten sozialen Lernens erheblich. Die Mentalisierungsfähigkeiten wirken wiederum positiv auf den Erwerb und die Stabilisierung von epistemischem Vertrauen und epistemischer Vigilanz.
Bei einer ungünstigen Entwicklung (s. Abb. 2) stehen am Anfang des Lebens zum Beispiel Vernachlässigung, Gewalt oder sexueller Missbrauch. Bedeutende Bezugspersonen, auf die das Kind angewiesen ist und ohne deren Unterstützung das Kind verloren ist, werden als nicht berechenbar, schlimmstenfalls als bedrohlich und feindselig erlebt.
Bei dieser Erfahrung ist die Entwicklung von epistemischem Vertrauen eingeengt, eine extreme Wachsamkeit (Hypervigilanz) entsteht. Im Selbst wird durch die widersprüchlichen Erfahrungsanteile der Aufbau kohärenter Strukturen erschwert. Anteile eines „Fremden Selbst“ bilden sich verstärkt. Auf dieser Basis wird die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit eingeschränkt. Dies führt zu einer erhöhten Vigilanz. Epistemisches Misstrauen ist häufig mit einem schnellen Wechsel zu einer erhöhten Leichtgläubigkeit verbunden (Kosugi & Yamagishi 1998, Yamagishi 1999). Personen mit einem hohen Misstrauen können weniger auf eigene Explorationserfahrungen und ihre Ergebnisse zurückgreifen (Yamagishi 2011, 2001). Zusammen mit der Einschränkung der Mentalisierungsfähigkeit wird das soziale Lernen erschwert.
Diese theoretischen Zusammenhänge haben in der Therapie sehr praktische Konsequenzen: Wenn z. B. ein Patient in einer Therapie kontinuierlich misstrauisch, oder nicht aufnahmewillig erscheint, sollte der Therapeut in Erwägung ziehen, ob nicht das epistemische Vertrauen stark eingeschränkt ist. Die Annahme, dass es am „guten Willen“ des Patienten liegt, ist eine Deutung, die zwar für den Therapeuten eine gewisse Entlastung liefert, aber in die Irre führen kann. Nicht der Patient ist schwierig, der Patient ist nur für den Therapeuten schwer zu erreichen.
Aktuelle Forschung (Auswahl)
+ Developing an assessment of epistemic trust: a research protocol (Schröder-Pfeifer et al. 2018)
+ Measuring Laypeople’s Trust in Experts in a Digital Age: The Münster Epistemic Thrustworthiness Inventory (METI) (Hendriks et al. 2015)
+ Entwicklung eines Fragebogens zur Selbsteinschätzung des Epidemischen Vertrauens (ETQ)
+ Interpersonelles Vertrauen – Entwicklung eines Inventars zur Erfassung spezifischer Aspekte des Konstrukts (Kassebaum 2004)
Literatur
Corriveau K, Harris P, Meins E, Fernyhough C, Arnott B, Elliott L, Liddle B, Hearn A, Vittorini L, de Rosnay M (2009) Young Children’s Trust in their mother’s claims: Longitudinal links with attachment security in infancy. Child Development 80 750-761
Csibra G & Gergely G (2009) Natural pedagogy. Trends in Cognitive Sciences 13 148-153
Csibra, G., & Gergely, G. (2011). Natural pedagogy as an evolutionary adaptation. Philosophical Transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological Sciences, 366 (1567), 1149– 1157. DOI:10.1098/rstb.2010.0319
Duschinsky R, Collver J, Carel H (2019) “Comes From a Sense of Feeling One’s Self Understood by Another Mind“: An Interview With Peter Fonagy Psychoanalytic Psychology 36(3), 224-227 DOI: 10.1037/pap000024
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Fonagy, P &Luyten, P (2016) A multilevel perspective on the development of borderline personality disorder. In D. Cicchetti (Ed.), Developmental psychopathology: Maladaptation and psychopathology (3rd ed., pp. 726–792). Hoboken, NJ: John Wiley & Sons.
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