Ist Buddhismus eine Psychotherapie?

Wie weit können wir sie in die meditative Schulung mit einbeziehen? Sollte man vor Aufnahme eines buddhistischen Trainings eine Psychotherapie machen?

Wo geht der Buddhismus über sie hinaus? Worin unterscheiden sich Psychotherapie und Buddhismus? Kann die Psychotherapie vom Buddhismus profitieren bzw. lernen und wenn ja, dann was?

Ich habe mich in den letzten Jahrzehnten viel mit Psychologie, Psychotherapie und moderner Physik auseinandersetzen müssen. Psychologen, Psychotherapeuten und Physiker besuchten mich in Indien, Europa und in den USA. Und so blieb es nicht aus, dass die Fragen, die sie an mich richteten, ebenso wie die Gespräche, die wir führten, sich zu einem guten Teil um ihre Fachgebiete drehten.

Allgemein gesprochen:

Psychotherapie ist im allgemeinen der Versuch, Menschen zu helfen, die verunsichert sind, seelische Fehlhaltungen aufweisen, oder die an sich und/oder der Welt leiden. Sie will den Menschen sozial und wirklichkeitsentsprechend angepasster machen, will sein Ich stärken, damit er sein Leben besser meistern kann und sich in der Welt bewährt. Psychotherapie ist also eine Therapie für seelisch kranke oder zumindest seelisch angekränkelte Menschen, die an seelischen Symptomen leiden wie andere an Halsweh, Bauch- oder Herzschmerzen.

Der Buddhismus hat einen etwas anderen Ausgangspunkt. Er stellt den Menschen in die Eigenverantwortung und Eigenbemühung. Sein Ziel ist es, die Ichstruktur zu durchschauen, transparent zu machen und ihren illusionären wie auch ihren von Moment zu Moment sich in allem Wandel neu integrierenden Charakter zu erfassen und schließlich die Subjekt-Objekt-Schranke zu durchbrechen.

Was die moderne Psychologie betrifft, so habe ich immer wieder darauf hingewiesen, dass sie sicherlich sehr viel zum Verständnis religiöser Erfahrungen und Strukturen beigetragen hat und daher zu einer Brücke zwischen moderner Wissenschaft und östlicher Weltanschauung geworden ist.

Andererseits kann die moderne Psychologie noch viel vom Buddhismus und seiner 2500 Jahre alten empirischen Psychologie meditativer Erfahrung lernen.

Und nun zur Frage: Der Dharma des Buddha hat einen psychologischen Hintergrund, da er in der Erfahrung eines meditativen Heilsweges seine Wurzeln hat. Ja, der Dharma wird in den buddhistischen Schriften als das große „Heilmittel“ beschrieben, und der Erwachte wird der „große Arzt“ genannt.

Auch der Buddhismus will Menschen heilen, allerdings in einem viel universelleren Sinne. Aber er wendet sich dabei vor allem an Menschen, die man nicht als psychisch krank bezeichnen würde, sondern an solche, die schon eine gewisse Einsicht in das Wesen der Wirklichkeit entwickelt haben und die Enge des Ichs durchbrechen wollen. Natürlich zieht der Buddhismus auch viele Menschen an, die psychisch krank sind und die besser erst einmal eine Psychotherapie durchlaufen sollten, um Einsicht in ihr eigenes Verhallen und in ihre Ängste zu gewinnen: Dann würden sie vom Buddhismus wesentlich mehr gewinnen.

Denn der Buddhismus geht von der Situation des „normalen“ Menschen aus und macht dann diesem klar, dass sehr viel mehr in ihm steckt als er glaubt. Er versucht den Menschen zu einer inneren Offenheit und Gelöstheit zu stimulieren, um ihn dann nicht nur zu einem erweiterten Bewusstsein zu führen, sondern vor allem zu einem intensivierten, immer umfassender werdenden Bewusstsein anzuleiten. Mittel dazu ist die buddhistische Meditation.

Nun zur Beziehung des Buddhismus zu den modernen Psychotherapien: Alle diese Methoden haben ihre unterschiedlichen Ziele – meist die soziale Wiedereingliederung des psychisch Fehlgesteuerten. Der Buddhismus bzw. der Buddha-Dharma aber will den Menschen nicht von falschen Verhaltensmustern, Fehlhaltungen, Zwängen und gewissen Ängsten befreien, sondern erstrebt die vollkommene innere Freiheit des Menschen, die nur durch die Überwindung von Gier, Hass und Ich-Wahn zu erreichen ist.

Die modernen Psychotherapien sind sicher für viele psychisch Gestörte oder in Fehlhaltungen Befangene wichtig. Sie liegen aber vor dem Betreten des buddhistischen Heilsweges und sollten nicht damit vermischt werden. Buddhist sein setzt eine gewisse Selbst- und Welterkenntnis voraus, die man durch jene Verfahren unter Umständen erreichen kann. Buddhist sein fordert aber auch die Entwicklung von Fähigkeiten, unter anderem Willenskraft, Selbstverantwortlichkeit, klares Denken, eine intuitive Aufnahmefähigkeit, eine heiter-freudige Gemütsverfassung, ein vorurteilsfreies Offenstehen, etc. und geht allein damit schon über die normale Psychotherapie hinaus.

Wenn wir ganz still geworden sind und der Strom der Gedanken nachlässt, dann werden wir uns eines Stromes von Bildern bewusst. Sie steigen in uns auf, drängen sich gewissermaßen von unten aus dem dunklen Hintergrund – ständig sich wandelnd – zur Mitte in den Vordergrund, um dann nach oben entgleitend wieder in das hintergründige Dunkel zu verschwinden. Wir werden als Zuschauer plötzlich gewahr, dass wir an vielen Lebensformen innerlich teilhaben und dass wir selbst uns in diese verschiedenen Formen verwandeln können, die alle Ausdruck unserer Potentialität sind. Letztlich sehen wir nur uns selbst in allen Schichten unseres Menschseins, in deren tiefster Schicht wir am Tierischen teilhaben, aber auch am Dämonischen in der mittleren und am Göttlichen in der höheren Schicht sowie schließlich am Wesen höchster Erleuchtung.

So sehen wir, dass wir alle die „höllischen“ und „himmlischen“ Welten in uns selber haben und wie die eine in die andere fließend übergeht. Unsere Aufgabe wird so klar: Wir müssen die eine Erlebnisform in die andere transformieren, um schließlich erlebnishaft zu jener Erkenntnis zu reifen, dass alle diese Welten nur relativ sind und – in der letzten Wirklichkeit sich lösend –, am Ende ihre Integration erfahren. Und wir erkennen jenseits des Denkens, dass das, was uns zunächst dämonisch erschien, im Grunde nur etwas ist, was wir noch nicht in seiner Ganzheit erfasst haben. So wie in der Schizophrenie der Mensch sich in viele getrennte Persönlichkeitsaspekte aufspaltet und durch die Therapie am Ende wieder „ganz“ werden muss, um geheilt zu sein, so ist auch das Dämonische als eine Abspaltung aus dem Natürlichen aus der Lebenskraft – wieder zu integrieren. Statt es zu verdammen und erschreckt davonzulaufen, müssen wir es als einen mächtigen, kraftvollen Aspekt unseres Menschseins sehen und akzeptieren lernen: Nur so „überwinden“ wir es und machen seine Kraft zu unserer eigenen. Wer davor wegläuft, bleibt im Banne des Dämonischen und wird von ihm beherrscht.

Das Vajrayana beinhaltet sehr viele solcher Symbole, die uns furchterregend erscheinen und/oder mit der Vorstellung des Todes verbunden sind. Aber hinter jeder dieser furchtbaren Gestalten steht eine friedvolle, beseligende Gestalt, und erst beide zusammen machen das vollkommene Wesen aus, das als Ganzheit einen Aspekt der Buddhaschaft zum Ausdruck bringt sei es nun in Form eines Bodhisattva-Mahāsattva oder in der eines Dhyāni-Buddha. Das Vajrayana in allen seinen Ausprägungen aber strebt zur vollkommenen Ganzheit, aus der ein neues Verstehen erwächst, das alle Lebensformen in ihrer Verschiedenheit akzeptiert. Auf diesem Wege wird es uns möglich, eine Toleranz zu entwickeln, die nicht mehr die Dinge nach den eigenen Vorstellungen beurteilt und ummodeln will, sondern die die Einheit in aller Verschiedenheit und in allem Wandel erkennt und bejaht.

Hier möchte ich noch daran erinnern, dass auch in unserem Kulturkreis das Dämonische und das Göttliche ursprünglich nicht verschieden waren: Der Dämon war den Griechen die Gottheit eine unausdrückbare Kraft, die der Mensch in Erscheinungen sieht, die er nicht versteht. Zugleich aber war der Dämon auch die Eigenart jedes einzelnen Menschen selbst bzw. seine innere Stimme. Die negative Bewertung erfuhr der Begriff Dämon erst durch das Christentum. Göttliches, das übermächtig in unser Bewusstsein tritt, erschüttert und ängstigt, weil es nicht verstanden werden kann und verunsichert dadurch. Im Augenblick aber, wo wir eine Erscheinung in ihrer ganzen Tiefe und Fülle sehen und verstehen, verliert sie ihre Furchtbarkeit. Die Kräfte der Tiefe – wie alle Kräfte der Natur – sind von sich aus weder zerstörerisch noch aufbauend: Wir selber sind es, die sie zu dem einen oder anderen machen bzw. ihnen diese Bewertung unterschieben.

Wichtig ist, was wir sehend erkennen, d.h. nicht intellektuell konstruieren, sondern ganzheitlich erfahren und erleben. Eine bloße intellektuelle Analyse führt zu nichts – bleibt im Begrifflichen und damit in einem sterilen, abstrakten Bereich, ohne dass eine Wandlung im Bewusstsein erfolgt. Das psychologische Motiv der sog. „Verdienstübertragung“ (puññānamodana) ist, dass man selbst nicht an den Früchten seiner sogenannten „guten Taten“ hängen soll und dass man dahin kommen muss, spontan ohne Erwartung einer Belohnung – wie immer man sich diese vorstellen mag – zu handeln zum Wohle aller Wesen, auch dass man nicht am Erworbenen „haftet“, sondern innerlich bereit sein soll, mit anderen zu teilen.

(Aus dem „Buch der Gespräche“ von Lama Anagarika Govinda. Titel der Neuauflage: „Leben im Geiste des Buddhismus“)

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