Atmen ist nicht gleich atmen. Bewusste Atmung gilt als Schlüssel zur Entspannung, sogar als Weg zum eigenen Selbst. Wie kommt man dorthin?
„Der Atem ist Ihr Anker.“ Wenn Michael Bordt das sagt, klingt es beschwörend. Ein einfaches Bild. Und doch nicht leicht umzusetzen. Unter Leitung des Münchner Jesuitenpaters und Universitätsprofessors sowie der Berliner Yoga-Lehrerin Patricia Thielemann üben wir – 15 Teilnehmer aus Deutschland und der Schweiz – auf Schloss Elmau, in die Stille zu tauchen. Üben, den sanften Fluss des Atems immer wieder etwa in der Nasenscheidewand zu spüren. Oder im Rachen. Und dabei unsere stetig plappernde innere Stimme zu befrieden. Und dem, „Was in Krisen trägt“ (so der Titel des mehrtägigen Retreats), auf die Spur zu kommen. Gelingen soll dies über die aufmerksame Wahrnehmung des eigenen Atems.
Sich mit dem inneren Pulsieren zu verbinden gilt in Yoga und Meditation als Königsweg. Seit Jahrtausenden. „Manche opfern den ausströmenden Atem im einströmenden, durch Beherrschung des aus-und des einströmenden Atems“, so beschreibt schon die Bhagavad Gita uralte Atemtechniken. Das Heilige Buch des Hinduismus entstand wahrscheinlich zwischen dem fünften und dem zweiten Jahrhundert vor Christus. Die auf wenige Jahrhunderte später datierte Textsammlung Yogasutra fasst die Übung des Atems unter dem Wort „Pranayama“ zusammen und begreift sie als eine der Grundvoraussetzungen für ein yogisches Leben.
Atmen ist wieder in aller Munde
Möglicherweise wurden schon vor mehr als 4000 Jahren in Indien Techniken zur Atemkontrolle entwickelt. Über diese These berichtet der amerikanische Autor und Pranayama-Experte Richard Rosen in seinem Buch „The Yoga of Breath“. Die Priester hätten damals die wichtigsten Schriften durch Rezitieren weitergegeben, bevor sie später in schriftlicher Form als „Veden“ bekannt wurden. Beim rhythmischen Singen und Sprechen der Texte wurde durch das Verändern ihres Atems auch ihr Gemütszustand beeinflusst.
Gezielte Berührungen des Körpers mit den Händen und bestimmte Bewegungen unterstützen bei der Atemtherapie die Fähigkeit, zu spüren.
Atmen ist wieder in aller Munde, buchstäblich. Vor drei Jahren landete der amerikanische Journalist James Nestor mit seinem Buch „Breath“ einen Weltbestseller. Eine der Erkenntnisse seiner wissenschaftlichen Recherchen und zahlreichen Gespräche mit „Pulmonauten“, so nennt Nestor die Experten: Die meisten Menschen hätten verlernt, durch die Nase ein- und auszuatmen. Demnach ist der Mundatem verantwortlich für die Verengung des Rachen- und Nasenraums und damit indirekt für zahlreiche moderne Erkrankungen wie Allergien und Asthma. Laut Nestor liegt die Wurzel des Übels in der Verbreitung industriell verarbeiteter Nahrungsmittel seit etwa 300 Jahren. Weich gekochtes Essen muss kaum noch gekaut werden. Und der mangelnde Gebrauch von Zähnen und Unterkiefer führe zu geschrumpften Mundhöhlen, schiefen Zähnen, verstopften Nasenhöhlen – und einem stark eingeschränkten Atem.
Der Journalist nahm für sein Buch an einem Mund- und Nasenatmer-Experiment an der Stanford-Universität teil. Zehn Tage lang ließen er und der Stockholmer Atemexperte Anders Olsson sich die Nasenlöcher verstopfen, um nur durch den Mund Luft zu holen. In den darauffolgenden zehn Tagen ließen sie sich den Mund mit einem Pflaster zukleben und atmeten nur durch die Nase. Ergebnis: Beide verfielen in den ersten zehn Tagen regelrecht körperlich und geistig. Und regenerierten in den „Nasentagen“ dafür mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit.
Viele waren von Nestors Schilderungen so beeindruckt, dass sie sich nachts ebenfalls den Mund zuklebten. Auch ich. Es war mühselig. Nach zehn Minuten am ersten Tag schaffte ich 30 Minuten am zweiten mit zugeklebten Lippen. An Schlaf war nicht zu denken. Aus lauter Angst, nachts zu ersticken oder ein sich lösendes Pflaster zu verschlucken. Danach gab ich auf. Olsson rät auf seiner Website „Conscious Breathing“ dazu, vier Wochen durchzuhalten. Danach schlafe man tiefer und besser. Bis dahin ist man wahrscheinlich ein nervliches Wrack. Vielleicht klappt es besser mit einer Packung „Sleep Tape“ für schlappe fünf Monate, die man bei Olsson für 25 Dollar bestellen kann. Ein halbes Jahr mit Pflaster auf dem Mund, das erinnert an Foltermethoden wie das Knebeln. Allerdings muss man zugeben, dass Olsson auf allen Bildern beeindruckend fit aussieht.
Während es bei Olsson darum geht, möglichst langsam zu atmen, lehrt der „Ice Man“ Wim Hof Atemübungen in wesentlich flotterem Tempo.
Nasen-oder Mundatem spiele keine Rolle. Wichtig ist laut Hof die Aufnahme von möglichst viel Sauerstoff. Nach der Energetisierung durch die Atmung in drei Runden zügigen In-und Exhalierens sind die Hof-Anhänger bereit für eine kalte Dusche oder in einem fortgeschritteneren Stadium fürs Eisbaden. Hof ist dank seiner Methode schon den Kilimandscharo in Shorts hochgelaufen, hat fast zwei Stunden in einer Wanne voller Eiswürfel verbracht, allerlei Rekorde gebrochen und sich an Universitäten für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt. Es scheint so, als ob seine Atem- und Kältekombination dem Immunsystem einen enormen Booster verschafften.
15 Teilnehmerinnen üben auf Schloss Elmau das bewusste Atmen.
So richtig Spaß macht seine Atemmethode aber nicht und noch weniger das eiskalte Duschen. Sympathischer sind da die sofort Ruhe bringenden Pranayama-Methoden aus dem Yoga – der Wechselatem Nadi Shodhana etwa oder die quadratische Atmung mit gleich langen Atemphasen bei Einund Ausatmung und der Pause dazwischen.
Verbindung zu einer höheren Macht
In Elmau erinnert Patricia Thielemann die Teilnehmer immer wieder an den für ein fließendes Vinyasa-Yoga typischen „siegreichen“ Ujjayi-Atem. Durch die Verengung der Stimmritze werden die Atemzüge hörbar und zudem lang und tief. Die Synchronisation von Ujjayi und Bewegung führt dazu, dass die yogischen Sonnengrüße zu einer Art Meditation werden. Diese dynamische Einkehr fällt vielen leichter als ganz in Stille auf den hölzernen Meditationshockern nach innen zu lauschen. Dabei teilen Yoga und die kontemplative Meditation das gleiche Ziel: Die Übenden möchten ein tieferes Bewusstsein des eigenen Selbst bekommen. Und wer religiös ist, möchte durch die Praxis vielleicht sogar Gott oder das Göttliche erfahren.
Atem gilt in vielen Traditionen als eine Verbindung zu einer höheren Macht. Er hütet das Geheimnis des Lebens. Während des Retreats erinnert Michael Bordt uns an die mittelalterliche jüdische Legende des Golem. Diese Figur ist von Menschenhand aus Lehm gemacht, und auf geheimnisvolle Weise wird ihr der Lebensatem Gottes in die Nase geblasen. In der biblischen Schöpfungsgeschichte formt Gott Adam aus Erde und haucht ihm den Odem ein. Michelangelo stellte das in seiner „Erschaffung Adams“ auf dem Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle als Berührung mit dem Finger dar.
Kursteilnehmerin Karin gähnt während einer Übung in der Atemtherapie.
Diese Berührung mit dem Finger Gottes als Platzhalter für das Einhauchen des Atems ist in der westlichen Kunst immer wieder zu finden. Manchmal wird der Lebenshauch auch durch Strahlen aus dem Mund einer himmlischen Figur dargestellt, wie es unlängst zu sehen war in der Schau „Atmen“ in der Hamburger Kunsthalle. Die Ausstellung zeigte 45 künstlerische Positionen aus 18 Ländern zum Atmen und seiner Bedeutung, vom Mittelalter bis in die Gegenwart. Auch die Frage, was passiert, wenn uns die Luft fehlt, wurde nicht ausgespart. Die letzten Worte von George Floyd, „I can’t breathe“, als ihm 2020 ein amerikanischer Polizist die Atemwege abdrückte, gingen um die Welt. Das Töten durch Erdrosseln, Erwürgen oder Erhängen ist seit Jahrtausenden verbreitet. Im 20. Jahrhundert kam der Einsatz von Giftgas als furchtbare Kriegswaffe hinzu. Und die Errichtung von Gaskammern, die den systematischen Massenmord ermöglichten. Die Luft, Spender der Lebenskraft, wird dabei auf perfide Weise zum Todesbringer umgekehrt.
In Hamburg wurden auch die „Cloud Studies“ der internationalen Recherche-Agentur Forensic Architecture gezeigt, die mit bildgebenden Verfahren Menschenrechtsverletzungen, staatlicher Gewalt und Umweltverbrechen nachgeht. Ihre Untersuchungen zu toxischen Wolken zeigen, wie die Luft durch Staaten oder Unternehmen kontaminiert wird und die Lebensbedingungen der Menschen untergraben werden.
Die 4711-Methode
„Der Atem ist politisch geworden“, sagt Brigitte Kölle dazu, Kuratorin der Hamburger Ausstellung und Mitherausgeberin des Buchs. Immer wieder werde er als Mittel der Trennung, Beherrschung und Vernichtung eingesetzt. Aber auch sonst dringe er meistens ins Bewusstsein, wenn etwas schieflaufe. Bewusst geworden sei uns das zum Beispiel während der Pandemie. Unser Verhältnis zur Luft hat sich durch Corona verändert. Atmeten wir sonst bei einer Bedrohung zur Beruhigung tief durch, barg nun gerade das ungeschützte Inhalieren die Gefahr. Aber eigentlich verbinde uns der Atem, sagt Kölle. Er ist unsere unmittelbarste Beziehung zur Welt. Wir teilen die Luft miteinander und mit anderen Lebewesen, Tieren und Pflanzen.
Der Atem ist die einzige Funktion des vegetativen Nervensystems, die wir willentlich steuern können. Einerseits atmet es gleichsam auch ohne unser Dazutun in uns. Andererseits können wir die Respiration steuern und damit sogar unser Nervensystem beeinflussen. So führt eine verlängerte Ausatmung zur Aktivierung des Parasympathikus und damit zur Entspannung. Dafür gibt es sogar eine Formel: 4711, wie das berühmte Kölnisch Wasser. Vier Sekunden einatmen, sieben Sekunden ausatmen, das Ganze über einen Zeitraum von elf Minuten. Danach ist man vollkommen entspannt. Wissenschaftler empfehlen die 4711-Methode als regelmäßige Übung.
Aber wie wäre es, wenn wir all diese Mühen nicht brauchten? Und stattdessen den Atem fließen lassen könnten, uns auf ihn verlassen als Stütze unseres Seins? Als „Leitseil“ hat die Berliner Atempionierin Ilse Middendorf (1910-2009) den Atem bezeichnet. Den beiden gängigen Komponenten eigentlich jeder Atemlehre fügte Middendorf eine dritte hinzu. Neben den vom vegetativen Nervensystem gesetzten unbewussten und den willentlich gesteuerten Atem setzte sie den „Erfahrbaren Atem“. Was könnte das sein? Im Film „Atem – Stimme der Seele“ von Gerd Conradt (2008) erläutert die 98 Jahre alte Ilse Middendorf ihre Technik – vital, leicht skurril und von innen her seltsam leuchtend.
Das Berliner Ilse-Middendorf-Institut liegt im ehemaligen Stadtpalais der preußischen Prinzessin Viktoria Louise.
Fundament des Lebens
Die Spur der Atemtherapeutin führt ins Middendorf-Institut in Berlin-Schöneberg. Es liegt im einstigen Stadtpalais von Viktoria Louise von Preußen. Das großbürgerliche Wohnhaus wurde für die junge Prinzessin hochherrschaftlich ausgeschmückt. Heute leiten Hiltrud Lampe und Michael Maar, die beide intensiv mit Ilse Middendorf gearbeitet haben, die Ausbildungen am Institut. Im früheren Tanzsaal finden die Schulungen statt. Die vorgelagerten kleinen Räume dienen zur Therapie und für Besprechungen, zum Ausruhen und Austauschen. Die Einrichtung sieht noch so aus wie zu Zeiten Middendorfs, die das Institut 1965 gründete.
Der erfahrbare Atem, sagt Hiltrud Lampe, werde nicht geführt, sondern bewusst in seinem Kommen und Gehen erfahren. Er geschehe von alleine. „Doch in dem Moment, in dem ich den Atem, mich bewegend, in meinem Inneren erlebe, verändert sich seine Qualität. Ich erlebe ihn als Lebenskraft, als eine Quelle, durch die ich mit der Welt im Austausch bin.“ Das erklärt auch, warum die unermüdliche Atemarbeiterin Ilse Middendorf ihn zum Leitseil erklärte: Der Atem wird zum Fundament des Lebens. Verstärkt wird die Atemerfahrung nach Middendorf durch manuelle Behandlungen und Bewegungen, die das rhythmische Weitwerden und wieder Zurückschwingen des atmenden Körpers aufnehmen.
„In meiner zweiten Middendorf-Stunde lernte ich eine für sie typische Bewegung: ein Öffnen der Hand und Wieder-Loslassen“, sagt Michael Maar. „Das war für mich ein Moment tiefer Erschütterung. Ich dachte, die Hand atmet. Im tiefen Bauch atmet es. Und es entstand ein Moment von Zuhause-Ankommen.“ Der Atem kann uns zu unserem inneren Kern führen. Middendorf und viele andere Atemtherapeuten, Yogis und Yoginis vieler Generationen, Anders Olsson, Wim Hof: Sie alle glaubten und glauben an diese Verbindung.
So richtig nachvollziehen kann das wohl nur, wer es erlebt. Bei einer Behandlung nach Middendorf liegt man also auf dem Rücken, während die Therapeutin Sätze sagt wie: „Sagen Sie Ja zum Atem, wenn er kommt, und lassen ihn dann wieder gehen. Und warten, bis er wieder kommt.“ So schwer das am Anfang fällt, so nachhaltig lösen sich dadurch Körperspannungen auf. Die Hände der Therapeutin liegen mal unter dem Kreuzbein, mal umfassen sie die Knie, beugen und kreisen Gelenke, ruhen auf dem Bauch und wandern leise die Nackenwirbel nach oben. Dann ist sie plötzlich da: die große verlässliche Säule des Atems, die alles durchdringt. Ein Aha-Erlebnis! Innerlich juchze ich auf. Wohl das erste Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass sogar mein kleiner Zeh vom Atem geweitet ist.