Was Menschen wollen, wenn sie Sex wollen? „Nicht bloß einen Orgasmus“
Das meiste, was uns über Sexualität beigebracht wurde, sei falsch, meint Sexualtherapeutin Emily Nagoski. Sie plädiert dafür, Intimität neu zu definieren – und nein, ein Orgasmus gehört nicht (unbedingt) dazu. Wie großartiger Sex in langen Beziehungen aussehen kann, erklärt sie hier.
„Werde ich jemals wieder Lust auf Sex haben?“ – eine Frage, die viele Menschen in langen Partnerschaften irgendwann beschäftigt. Die meisten Paare kommen an den Punkt, an dem sie Mühe haben, ihre sexuelle Beziehung befriedigend aufrechtzuerhalten – man ist gestresst, überarbeitet, dann noch die Kinder. Und Ratschläge zum Thema Sex sind oft nicht hilfreich und von Annahmen und Erwartungen geprägt, die am Ende manchmal eher schaden.
„Was in der allgemeinen Diskussion über das Funktionieren von Sex und langen Beziehungen völlig fehlt, ist, dass diejenigen, denen es an ‚Verlangen‘ mangelt, ihr Sexleben nicht als intensiv lustvoll, tief verbunden, authentisch und spielerisch beschreiben; sie beschreiben Sex, der trist und enttäuschend ist“, erklärt die amerikanische Sexualwissenschaftlerin, Psychologin und Bestsellerautorin Emily Nagoski kürzlich in einem Interview mit „The Cut“. Und: „Es ist doch normal, dass man keinen Sex will, den man nicht mag“.
In ihrem neuen Buch „Kommt zusammen!“ (der langersehnte Nachfolger von „Komm, wie du willst“ – das sich sogar in Gwyneth Paltrows Bücherregal befindet) wirft sie einen Blick auf diesen Sex in langen Beziehungen. Sie meint: Es geht nicht darum, wie sehr wir Sex wollen oder wie oft wir ihn haben. Entscheidend ist, ob wir den Sex, den wir haben, auch mögen. Denn Sex muss nicht auf eine bestimmte Art und Weise oder in einer bestimmten Häufigkeit stattfinden, um befriedigend zu sein! Lesen Sie hier einen Auszug aus dem Kapitel „Was zählt, ist das Vergnügen“, indem Nagoski eine andere Art, über Sex nachzudenken, vorstellt.
Ist Sex so wichtig?
Was, wenn wir das ganze Konzept von Begehren zurückstellen und stattdessen Vergnügen priorisieren und wie wir das in unserem Alltag erzeugen können? Falls Sie den Sex genießen, den Sie haben, ist das großartig. Bei tollem Sex in einer Langzeitbeziehung geht es nicht um das Ausmaß Ihres Begehrens oder um die Häufigkeit. Es geht nicht darum, was Sie machen, in welcher Stellung, mit wem oder wo oder in welchen Klamotten, nicht einmal darum, wie viele Orgasmen Sie haben. Es geht einfach darum, ob Sie den Sex mögen, den Sie haben.
Ihre Aufgabe als Paar besteht darin, Wege zu erkunden, um einen gemeinsamen Kontext zu erschaffen – ein gemeinsames Leben, eine Verbindung, einen Seelenzustand, eine Form des Zusammenseins –, der Vergnügen leicht zugänglich macht. Das fängt an mit dem Verständnis, warum Sex in Ihrer Beziehung eine Rolle spielt – falls er eine Rolle spielt, was nicht immer der Fall ist. Und es setzt sich fort mit Überlegungen dazu, wann und warum und inwiefern Sex sich gut anfühlt – falls er sich gut anfühlt, was nicht immer der Fall ist.
Also, wie wichtig ist Sex?
Sex ist für manche Leute in manchen Beziehungen oder in manchen Kontexten sehr wichtig. Aber für die Bewältigung unseres Alltags spielt Sex im Allgemeinen keine große Rolle. Niemand wird sterben oder auch nur erkranken, wenn er oder sie keinen Sex hat. Niemand ist krank oder dysfunktional, wenn Sex mehr Last als Lust zu sein scheint, genauso wie niemand krank oder dysfunktional ist, wenn er oder sie Sex tagein, tagaus als absolut wichtig empfindet.
Egal ob Sex wichtig erscheint oder nicht – ein Tag hat nur vierundzwanzig Stunden und eine Woche lediglich sieben Tage. Keiner bekommt mehr. Und in dieser Zeit haben wir eine Menge zu erledigen. Aber warum entscheiden wir uns für Sex, wenn wir doch so viele andere Sachen machen könnten?
Warum überhaupt Sex?
Seien wir ehrlich, Sex ist doch irgendwie albern. Wir ehrwürdigen Menschen stecken einander die Zunge in den Hals, pressen unsere Münder auf die Genitalien des anderen, reiben unsere Haut aneinander und toben wie Hundewelpen miteinander. Wir lassen unseren Körper von einem Orgasmus durchschütteln, obwohl ein anderer Mensch das mitansieht. Wir hüpfen und grunzen und zucken und schwitzen. Was um alles in der Welt passiert während dieser ganzen Albernheit, sodass es sich lohnt, mit allem anderen aufzuhören, um einfach nur das zu machen?
Für manche von Ihnen ist das ein Kinderspiel. Sie verstehen die Frage nicht. Sollten Sie zu den Menschen gehören, denen Sex sehr, sehr wichtig ist – und wenn vielleicht schon die Aussage „Sex ist nur manchmal und für manche Leute wichtig“ Sie ein wenig in Panik versetzt – keine Angst. Sie sind normal! Aber selbst Sie werden nicht sterben, verletzt oder krank werden, wenn Sie diese alberne, oft genüssliche, manchmal überhaupt nicht gute, gelegentlich extrem wichtige Sache, zu der wir Menschen in der Lage sind, bleiben lassen.
Einige von Ihnen stellen sich die Frage „Warum Sex?“ insgeheim schon seit Jahren. Vielleicht sind Sie erleichtert oder fühlen sich sogar bestätigt, wenn Sie lesen, dass Sex nicht sehr wichtig sein muss. Und auch Sie sind normal!
Egal, wie Sie dazu stehen, dass Sex keine große Sache sein muss, hier kommt eine Frage, mit der Sie sich bitte sehr ernsthaft auseinandersetzen möchten:
Was wollen Sie, wenn Sie Sex mit einer Partnerperson wollen?
Tipp: Die Antwort lautet grundsätzlich nicht „einen Orgasmus“. Wenn Sie einen Orgasmus wollen, dann gönnen Sie sich einen. Das kriegen Sie allein hin. Aber was wollen Sie, wenn Sie Sex mit der Partnerperson haben wollen, mit der Sie auf absehbare Zeit eine sexuelle Verbindung aufrechterhalten möchten?
Nehmen Sie sich Zeit und überlegen Sie gründlich. Was am Sex mit dieser anderen Person motiviert und inspiriert Sie? Was gibt Ihre Partnerperson Ihnen, wenn sie Ihnen erotische Aufmerksamkeit schenkt? Was bekommen Sie, wenn Sie berührt werden? Und wenn ein Teil von Ihnen denkt, ich will einfach Sex, und das ist die einzige Person, mit der ich ihn haben sollte, dann … überlegen Sie, was am Sex mit einer anderen Person wichtig ist. Was verändert sich, wenn da ein anderer Mensch ist, den Sie berühren können und von dem Sie berührt werden?
Bei meinen informellen Umfragen liefen die Ergebnisse auf die Frage „Was wollen Sie, wenn Sie Sex mit einer Partnerperson wollen?“ meist auf die von mir „The Big Four“ genannten Punkte hinaus: Verbindung, gemeinsames Vergnügen, begehrt werden und Freiheit.
1. Verbindung: Was sich die Leute mit überwältigender Mehrheit am häufigsten wünschen, ist die Verbindung zu ihrer Partnerperson. Was genau meinen sie damit? Das zu definieren, überlasse ich Ihnen. Aber manche Antworten, die ich bekam, zeigen, dass „Verbindung“ körperlich, emotional und mehr als beides zusammen bedeuten kann. Beispielsweise
„Ich möchte den anderen halten und gehalten werden und rummachen und gegenseitig unsere Körper erforschen.“
„Ich wünsche mir das Gefühl, dass jemand mir zuhört und mich umsorgt.“
Wenn „Verbindung“ auch in Ihrer eigenen Antwort vorkommt, dann können Sie sich folgende weitergehende Fragen stellen: Wie fühlt sich Verbindung an? Wo im Körper, Geist und / oder der Seele erlebe ich Verbundenheit? Welche Worte oder welches Verhalten steigern das Gefühl von Verbundenheit?
2. Gemeinsames Vergnügen: Wie ein Orgasmus ist Vergnügen etwas, das wir allein erfahren können, doch das ist nicht, was Leute sich wünschen, wenn sie Sex mit einer Partnerperson wollen. Am häufigsten besteht das Vergnügen darin, die Lust des Gegenübers zu beobachten, dessen Freude an unserem eigenen Vergnügen oder an gemeinsamem Vergnügen zu erfahren. Die Leute wollen nicht bloß das Gefühl genießen, Körperteile an einem anderen Menschen zu reiben, wir wollen Vergnügen für alle Beteiligten. Dazu sagen Leute Dinge wie:
„Ich möchte, dass jemand sich um mein Vergnügen kümmert.“
„Ich will mich auf den Körper meiner Partnerin konzentrieren – auf ihre Bewegungen, darauf, wie sie schmeckt, klingt und riecht.“
Das Vergnügen unserer Partnerpersonen ist uns wichtig, und wir möchten, dass unser eigenes Vergnügen ihnen wichtig ist.
3. Begehrt werden: Dieser Punkt wurde ungefähr genauso häufig genannt wie Vergnügen. Was Leute wollen, wenn sie Sex wollen, ist, von ihrer Partnerperson begehrt werden, gewollt werden. Nicht nur als Reaktion auf das Vergnügen, das wir gemeinsam erzeugen, sondern in Vorfreude auf das Vergnügen, das wir teilen können:
„Ich möchte spüren, dass mein Partner mich liebt und jeden Aspekt meines Körpers und meiner Seele schätzt, selbst die Schwächen.“
„Ich will Zustimmung und Akzeptanz.“
Andere formulierten den Wunsch, sich „begehrenswert“ oder sich „sexy“ zu fühlen. Als ich mit Leuten sprach, die sich begehrenswert fühlen wollten, stellte sich heraus, dass sie sich im Grunde nach Wertschätzung sehnten. Viele tragen Verletzungen mit sich herum und sind zu einem gewissen Grad davon überzeugt, unerwünscht oder sogar nicht liebenswert zu sein. Fühlen wir uns begehrt, lindert das diese Befürchtungen.
Falls Sie sich sexy / begehrenswert fühlen möchten, wenn Sie Sex mit einer Partnerperson wollen, dann stellen Sie sich folgende weitere Fragen: Was will ich, wenn ich mich sexy oder begehrenswert fühlen will? Gibt es einen Unterschied zwischen „sexueller Attraktivität“ und dem Gefühl oder der Tatsache, begehrt zu sein?
4. Freiheit: Hier geht es um das Gefühl, sich einer erotischen Erfahrung gänzlich hinzugeben. Die Leute wünschen sich eine Auszeit vom Alltag und das Gefühl, an nichts anderes mehr denken zu müssen und einen Moment voller Lust zu erleben. Sie wollen in der Lust aufgehen – zum Beispiel:
„Ich will den Kopf freikriegen und aufhören zu denken. Mich so auf meinen Partner einlassen, dass die Welt verschwindet.“
„Ich will entspannen und die Kontrolle aufgeben und ganz in der Gegenwart sein.“
Auch das Gegenteil wurde geäußert, als Befragte beschrieben, was sie nicht wollten oder mochten. Die Leute wollen oder mögen keinen Sex, wenn sie sich abgelenkt fühlen und den Eindruck haben, ihr Verstand werde in eine Million Richtungen gelenkt. Sie wollen oder mögen keinen Druck zu „performen“. Sie wollen oder mögen es nicht, sich zum Sex verpflichtet zu fühlen.
Kurz gesagt, wenn Menschen Sex wollen, wünschen sie sich oft, nichts anderes zu wollen. Sie wollen frei sein von Stressoren, Leid, Unzufriedenheit und Kummer. Sie wollen in einen Bereich gelangen, der so voller lustvollem Vergnügen ist, dass darin kein Platz für irgendetwas anderes bleibt.
Gaspedal und Bremse
Wenn Sie eine Frage wie „Was will ich, wenn ich Sex will?“ beantworten, kriegen Sie ein Gefühl dafür, inwiefern Sex es wert ist, dafür aufs Fernsehen zu verzichten. Wenn wir wissen, warum Sex mit unserer Partnerperson wichtig ist, wenn er wichtig ist, dann können wir uns als Nächstes darauf konzentrieren, einen Kontext zu erzeugen, in dem er tatsächlich stattfindet. Ihr Verstand hat seine Ansichten dazu, wann Sex wichtig ist.
Der Mechanismus in Ihrem Verstand, der die sexuelle Reaktion steuert, besteht aus zwei Elementen, „Gaspedal“ und „Bremse“. Das Gaspedal nimmt alle sexbezogenen Reize der Umgebung auf – alles, was Sie sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken, denken, glauben oder sich vorstellen, plus all die Empfindungen im Körperinneren, die als relevant für Sex wahrgenommen werden. Dann sendet das Gaspedal das Signal „Anturnen!“, das vielen von uns vertraut ist. Das funktioniert immer, aber unterbewusst. Alle möglichen Dinge können das Gaspedal aktivieren, vom Geräusch der Stimme Ihrer Partnerperson bis zum Anblick eines sexy Körperteils oder wenn Sie Ihre Partnerperson etwas tun sehen, was völlig unsexy ist, und Sie sie dafür bewundern und sich glücklich schätzen, ihre Partnerperson zu sein. Viele Ihrer Antworten zu „Was will ich, wenn ich Sex will?“ dürften Vorstellungen sein, die Ihr Gaspedal aktivieren.
Die Bremse registriert all die guten Gründe dafür, gerade nicht angeturnt zu sein. Alles, was Sie sehen, hören, riechen, fühlen, schmecken, denken, glauben oder sich vorstellen, plus Ihre Empfindungen im Körper, die Ihr Gehirn als potenzielle Bedrohung abgespeichert hat. Dann wird das Signal „Abtörnen!“ ausgesandt. Auch das passiert ständig und unterbewusst. Alles Mögliche kann die Bremse aktivieren, von Beziehungsstress über Erschöpfung, Traumata, Probleme mit dem Körperbild oder negative gesellschaftliche Botschaften bis hin zu der Sorge, dass die Kinder stören könnten oder es Flecken auf der Bettwäsche gibt.
Ihr Niveau sexueller Erregung in jeglichem Augenblick wird davon bestimmt, wie stark Ihr Gaspedal aktiviert oder Ihre Bremse gedrückt wird.
Wenn Leute Probleme mit irgendeiner Form von sexueller Funktionsfähigkeit haben, ob beim Orgasmus, bei Begehren, Erregung oder Lust, dann liegt es manchmal daran, dass das Gaspedal nicht ausreichend Stimulation bekommt. Manchmal ist es so einfach.
Aber oft auch nicht. Dann gibt es Probleme nicht wegen zu wenig Stimulation fürs Gaspedal, sondern wegen zu viel Stimulation der Bremse. Zumindest aus Sicht Ihres Gehirns ist die Bremse aktiviert, weil Sex in diesem Moment keine Priorität hat.
Das bedeutet, es ist normal, weniger Erregung, weniger Begehren und weniger Lust zu empfinden, wenn Sie sich wegen Geld oder der Kinder Sorgen machen, wenn die Arbeit gerade wirklich stressig ist, wenn Sie sich mitten in einer Auseinandersetzung mit Ihrer Partnerperson befinden, wenn Sie sich zum Sex verpflichtet fühlen, aber eigentlich lieber die Wäsche fertig zusammenlegen und dabei einen Podcast hören möchten. Oder wenn Sex schmerzhaft, langweilig oder auf andere Weise unangenehm ist. Normal! Keine Dysfunktionalität! An Ihrer sexuellen Reaktion ist nichts falsch, denn ein anderer Kontext kann alles verändern.
Ein paar wirklich hilfreiche Fragen, die Sie sich stellen sollten, lauten: Was aktiviert Ihr Gaspedal? Gemeint ist alles, was Erregung, Vergnügen und Interesse am Sex steigert. Was drückt auf die Bremse? Gemeint ist alles, was Erregung, Vergnügen und Interesse am Sex schwächt. Wie können Sie einen Kontext schaffen, der das Gaspedal aktiviert und, was noch besser wäre, weniger oft bremst?Bei manchen drückt das echte Risiko, ertappt zu werden, auf die Bremse, doch wenn sie allein masturbieren, kann die Fantasie über dieses Risiko das Gaspedal betätigen.
Hier eine weitere Frage für Sie und Ihre Partnerperson: Wenn Sie sich an eine Zeit erinnern, als Ihnen Vergnügen leichtfiel, wie standen Sie dann damals zu Ihrem Job, Finanzen, Familie oder dem Zustand der Welt?
Viele Menschen, insbesondere jene, die beim Thema Sex Schwierigkeiten haben, können oft zahlreiche Punkte nennen, die ihre Bremse aktivieren (Die Kinder! Arbeit! Die Schwiegereltern! Geld! Die Nachrichten! Ich bin so müde!). Aber sie sind aufgeschmissen, wenn sie sich vorstellen sollen, was ihr Gaspedal aktivieren könnte. Sollten Sie den Eindruck haben, irgendwie nicht weiterzukommen, hilft es oft, sich an eine positive sexuelle Erfahrung oder Fantasie zu erinnern und zu überlegen, was an dieser Erfahrung oder Fantasie bei Ihnen funktioniert.
Sex-Tipps entstehen, wenn Sie Ihr Wissen über Gaspedal und Bremse nutzen. Wenn Sie anwenden, was Sie über die gegenseitigen Vorlieben beim Sex wissen. Und wenn Sie miteinander über all das kommunizieren.