Was es bedeutet, zu „wachsen“

Edward Hopper "Morning Sun"

Es gibt einen Begriff, der häufig verwendet wird, aber bei genauerem Hinsehen gar nicht so eindeutig ist. Man spricht davon, dass Menschen „wachsen“ und meint damit eine wichtige psychologische Entwicklung.

Welche Fähigkeiten entwickeln wir, wenn wir „wachsen“, und was lassen wir dabei hinter uns? Und vor allem: Wie gelingt es uns, ein wenig mehr und vielleicht auch schneller zu wachsen?

Was wir mit dem Begriff „Wachstum“ im Wesentlichen meinen, ist die Fähigkeit, Situationen in der Gegenwart nicht mehr durch eine Brille wahrzunehmen, die unbewusst durch unsere psychologische Geschichte und vor allem durch die Eigenheiten und Verzerrungen geprägt ist, die wir durch unsere unweigerlich etwas komplizierte Kindheit übernommen haben.

Ein Mensch, der „wächst“, ist vermutlich besser in der Lage, andere Menschen und Situationen fair zu betrachten.

Die Person erkennt, inwieweit sie selbst Konflikte verschärft, ungerechtfertigtes Misstrauen schürt oder ihre Chancen ruiniert, weil sie Annahmen in sich trägt, die durch kaum erinnerbare Erfahrungen von Einsamkeit, Angst, Verrat und Demütigung geprägt sind.

Ein Mensch, der Wachstum durchlaufen hat, wird eher in der Lage sein, die ersten, wenig hilfreichen Reaktionen auf die Dinge zu überprüfen und nach komplizierteren, objektiveren Erklärungen zu suchen.

Es muss nicht immer die Schuld des Partners oder der Partnerin sein. Vielleicht war das Fehlverhalten – in diesem Fall – unverschuldet. Vielleicht war ein großes Missverständnis im Spiel und es könnte sogar angebracht sein, sich bei der anderen Person zu entschuldigen.

Wachstum bedeutet, den Mut für neue Fragen zu entwickeln:

– Könnte es sein, dass ich mich immer wieder gegen Nähe und Hoffnung sperre?
– Was, wenn ich die Begegnung mit meinen Gefühlen durch ständiges Beschäftigt-Sein blockiere?
– Was, wenn ich insgeheim eine Beziehung vorzeitig habe scheitern lassen, weil es sich für mich sicherer angefühlt hat, mich isoliert und zurückgewiesen zu fühlen?
– Was ist, wenn ich vor Gelegenheiten davonlaufe, mich anderen authentisch zu zeigen?

Solche Fragen könnten wir als kopernikanische Fragen verstehen; also als Fragen, die ein grundlegendes Überdenken des eigenen Platzes in der Ordnung der Dinge erfordern.

Je mehr man „wächst“, desto mehr muss man vielleicht eine bestimmte Art von Vertrauen und Gewissheit aufgeben – nicht im Sinne von Kleinmut oder Selbsthass, sondern eher im Sinne einer neu entdeckten Skepsis, einer geduldigen Bescheidenheit und einer humorvollen Bereitschaft, mit einem Augenzwinkern Irrtümer einzugestehen und Schwächen zuzugeben.

Eine Person, der es gelungen ist, zu wachsen, könnte:

– mit einem lebendigen Gespür dafür leben, wie viel sie missversteht
– sich ihrer Angst vor Intimität und Freude bewusst sein
– häufiger sagen: „Ich weiß nicht“ oder „Darüber muss ich noch einmal nachdenken“. Und manchmal, bei ganz besonderen Anlässen, sogar: „Ich glaube, da hast du recht.“
– Freundschaften wertschätzen, die auf der Anerkennung von Verletzlichkeit und Ängsten aufbauen.

Was Wachstum antreibt, ist – leider – sehr häufig Schmerz. Wir wachsen, weil wir gefeuert wurden und dann, bereits am Boden zerstört, endlich Zusammenhänge sehen, die wir tapfer verdrängt hatten. Wir wachsen, weil wir eine große Liebe verloren haben – und endlich (während wir in einer Ecke der Flughafenlounge heulen) erkennen, dass wir vielleicht viel zu vorsichtig oder fordernd oder ängstlich waren. Wir wachsen vielleicht, weil wir in einer schweren Stunde nicht mehr ertragen, auf uns selbst gestellt zu sein, und (wie zum ersten Mal) erkennen, wie wichtig Freundschaften sind.

Ein Mensch, der wächst, wird überhaupt nichts Anstößiges darin sehen, sondern stoisch akzeptieren, dass er oder sie in der Tat sehr oft in einigen ziemlich wichtigen Dingen (um es vorsichtig auszudrücken) nicht besonders schlau war – und wird sich intensiv bemühen, in der kostbaren Zeit, die noch bleibt, etwas weniger unbeholfen zu sein.

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