Der Hirnforscher Joseph LeDoux erzählt von seinen merkwürdigsten Fällen. Was er aus ihnen gelernt hat: »Wir erfinden unbewusst Geschichten, um unser Verhalten zu erklären.«
Joseph LeDoux ist ein Pionier der Hirnforschung. Seine Vorfahren stammten aus dem französischsprachigen Kanada und waren im 18. Jahrhundert in den US-Bundesstaat Louisiana ausgewandert. Dort wurde LeDoux 1949 geboren. Seine Eltern betrieben eine Metzgerei, und der kleine Joseph half mit, Kugeln aus geschlachteten Tieren zu entfernen. So hielt er schon als Kind das erste Mal ein Gehirn in den Händen. Doch bis er in der Hirnforschung arbeitete, sollte noch einige Zeit vergehen: Zunächst studierte er Marketing.
»Spektrum.de«: Wie gelangt jemand mit einem Abschluss in Marketing in die Neurowissenschaften?
Joseph LeDoux: Ich wollte schon als Teenager unbedingt studieren. Meine Eltern erlaubten mir das, unter der Bedingung, dass ich zurückkomme und Geschäftsmann oder Banker werde. Deshalb habe ich Marketing studiert. Ich schämte mich ein bisschen für das Fach, denn es passte nicht zum damaligen Hippie-Zeitgeist. Aber ich interessierte mich sehr für die Psychologie dahinter. In meinem Abschlussjahr kam ich mit jemandem in Kontakt, der Rattenhirne untersuchte. Ich durfte eine Zeit lang in seinem Labor arbeiten, und wir haben gemeinsam einige Studien veröffentlicht. Diese Art von Arbeit wollte ich dann fortsetzen. Nach meinem Masterabschluss bewarb ich mich dazu an einigen Universitäten und wurde an der Stony Brook University in New York angenommen. Dort traf ich meinen Doktorvater Michael »Mike« Gazzaniga, der mit Split-Brain-Patienten arbeitete. Diese Forschung bot einen faszinierenden und relativ einfachen Weg, in die Hirnforschung einzusteigen. Mitte der 1970er Jahre wusste man noch nicht viel über das Gehirn, so dass man kaum etwas über Biochemie, Neurophysiologie oder Genetik wissen musste.
Joseph LeDoux | Der Hirnforscher ist Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der New York University und Direktor des Emotional Brain Institute, einer gemeinsamen Initiative der New York University und der New York State University. Er erforscht die neuronalen Grundlagen der Angst bei Tier und Mensch. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Bewusstsein. Die ersten vier Milliarden Jahre«.
Was genau sind Split-Brain-Patienten?
Bei den Betroffenen ist die zentrale Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften operativ durchtrennt worden (um epileptische Anfälle zu verhindern, die Red.). Eine solche Operation wird bei einer extremen Form der Epilepsie durchgeführt, bei der keine andere Behandlung mehr hilft. Die beiden Hemisphären sind dann zwar noch vorhanden, sie können aber nicht mehr miteinander kommunizieren.
Hat eine solche Operation nicht gravierende Folgen für die Patienten?
Alles in allem ist es nicht so schlimm. In der Regel ist ihr Leben nach der Operation besser, weil die epileptischen Anfälle stark nachlassen. Doch natürlich hat es Folgen. Die beiden Hirnhälften haben unterschiedliche Funktionen, sie sind jeweils für die gegenüberliegende Körperhälfte zuständig. Die linke Hemisphäre sieht alles auf der rechten Seite des Gesichtsfelds und steuert die rechte Hand sowie das Sprechen. Als wir einem Patienten einen Apfel zu seiner Linken zeigten, konnte die linke Hemisphäre ihn also nicht sehen. Und da nur sie allein fürs Sprechen zuständig ist, sagte der Patient auch, er sehe nichts. Die rechte Hemisphäre sah den Apfel jedoch, wie wir daran erkennen konnten, dass die linke Hand nach dem Apfel griff. Die rechte Hirnhälfte war wie ein schlauer Schimpanse: Sie konnte auf den Apfel reagieren, aber nicht über ihn sprechen.
Was war Ihre interessanteste Erkenntnis aus dieser Zeit?
Einmal hatten wir einen ungewöhnlichen Patienten: Wie alle anderen konnte er dank seiner linken Hemisphäre Sprache verarbeiten und sprechen. Aber er war außerdem noch in der Lage, mit seiner rechten Hemisphäre zu lesen. So konnten wir auch mit dieser Hälfte kommunizieren. Wir projizierten Fragen zu seiner Linken und ließen ihn die Antwort mit Scrabble-Buchstaben mit der linken Hand buchstabieren. Auf diese Weise teilte er uns mit, dass er Paul hieß und Rennfahrer werden wollte. Beim Kommunizieren mit seiner linken Hirnhälfte sagte er zwar ebenfalls, dass er Paul hieß, gab aber an, Architekt werden zu wollen. Ich möchte aus dieser Beobachtung nicht zu viel folgern, da es sich nur um einen einzigen Fall handelte. Die Vermutung wäre jedoch, dass diese Person zwei Bewusstsein hatte. Beide waren Paul, hatten aber unterschiedliche Ziele im Leben.
Das klingt spektakulär. Haben Sie den Patienten noch weiter untersucht?
Ja, ein Experiment hatte großen Einfluss auf meine späteren Ideen. Wir projizierten ein Bild einer Hühnerklaue in sein rechtes Blickfeld und ein Bild einer Schneelandschaft in das linke. Zusätzlich hatten wir Bilder vor ihm platziert und ihn gebeten, auf ähnliche Bilder zu zeigen. Mit seiner rechten Hand zeigte er auf eine Schaufel und mit der linken auf ein Huhn. Er sagte, er habe das Huhn wegen der Hühnerklaue gewählt und die Schaufel, weil man sie zum Reinigen des Hühnerstalls braucht. In Wirklichkeit hatte seine linke Gehirnhälfte nur die Hühnerklaue gesehen und nicht die Schneelandschaft, deretwegen seine rechte Hirnhälfte die Schaufel wählte. Um das dennoch rational zu erklären, erfand die linke Hirnhälfte eine Geschichte, die die Schaufel mit dem Huhn in Verbindung brachte. Wir haben dies dann auch auf andere Weise getestet. Als wir ihn beispielsweise über die rechte Hemisphäre aufforderten, aufrecht zu stehen, erklärte er über die linke Hemisphäre, sich kurz die Beine vertreten zu wollen. Jedes Mal erfand die linke Hemisphäre eine Geschichte, um das Verhalten zu erklären.
Warum tut sie das?
Unsere Hypothese war, dass es um das Gefühl der Kontrolle geht. Wir alle glauben, einen freien Willen zu haben und eine psychologische Einheit zu sein. Doch Pauls Hirnhälften bildeten keine Einheit mehr, und seine linke Hand tat Dinge, die von der linken Hemisphäre nicht geplant waren. Um das Gefühl von Einheit und Kontrolle zurückzuerlangen, dachte sich die linke Hemisphäre eine Geschichte aus. Am selben Abend sprachen Mike Gazzaniga und ich über dieses Thema. Er meinte, dass das, was wir bei Paul gesehen hatten, vielleicht uns alle betrifft. Ein Großteil unseres Verhaltens entsteht unbewusst. Das stellt den freien Willen in Frage; deshalb erfinden wir unbewusst eine Geschichte, um unser Verhalten zu erklären, und glauben dann selbst daran. Das Bewusstsein interpretiert unser unbewusst entstandenes Verhalten. Diese Vorstellung hatte großen Einfluss auf mich. Seitdem denke ich, dass Emotionen dazu da sind, jene unbewussten Prozesse zu deuten, die unser Verhalten steuern.
Der Schritt zu den Emotionen war also getan?
Richtig. Eines Abends sagte Mike, dass es nicht so viel neurowissenschaftliche Forschung zu Emotionen gäbe. Von da an wusste ich, dass ich Emotionen erforschen wollte. Aber zu dieser Zeit gab es nicht die nötige Technik, um das auch beim Menschen zu tun. Also begann ich wieder, Ratten zu untersuchen. Ich landete im Labor von Donald Reis, der damals über so ziemlich jede mögliche neurowissenschaftliche Technik verfügte und mir die Freiheit ließ, zu tun, was ich wollte. Ich erforschte Ratten mittels der pawlowschen Angstkonditionierung. Dabei bekommen die Tiere immer dann einen Elektroschock, wenn sie einen bestimmten Ton hören, und schließlich erstarren sie bereits, wenn sie den Ton hören. Ich habe im Gehirn der Ratten bestimmte Teile weggeschnitten, um herauszufinden, wie sich das auf die beschriebene Reaktion auswirkt.
So sind Sie auf die Amygdala gestoßen?
Genau. Damals interessierte mich vor allem der Weg, den der Ton im Rattenhirn nimmt, um eine Reaktion wie das Erstarren auszulösen. Neue Techniken ermöglichten es uns, diesen Weg durch das Gehirn zu verfolgen. Auf diese Weise stießen wir unter anderem auf die Amygdala. Obwohl schon seit Jahrzehnten bekannt war, dass die Amygdala eine Rolle bei Angst spielt, war sie bis dahin kaum erforscht. Als wir die Amygdala entfernten, stellte sich heraus, dass sie für die körperlichen Angstreaktionen verantwortlich war: für Kampf-, Flucht- und Erstarrungsreaktionen sowie für den Anstieg von Blutdruck, Herz- und Atemfrequenz.
Und auch für das Gefühl von Angst?
Nein, das ist ein verbreiteter Irrglaube. Die Amygdala ist ein Gefahrendetektor, der nur unbewusste körperliche und physiologische Reaktionen steuert. Diese Reaktionen dienen dem Überleben und gehen auf die allerersten Zellen auf der Erde zurück. Auch Bakterien bewegen sich von der Gefahr weg. Sie brauchen dafür keine Angst zu spüren. Aber da dieses Gefühl in der Regel gleichzeitig mit den körperlichen und physiologischen Reaktionen auftritt, denken wir fälschlicherweise, dass unsere Angst die Ursache für diese Reaktionen ist.
Woher kommt denn dann das bewusste Angstgefühl?
Viele meinen, das Bewusstsein befinde sich im visuellen oder auditiven Kortex. Das sind die Teile des Gehirns, die Seh- und Hörreize verarbeiten. Meiner Meinung nach müssen die Reize allerdings auch im präfrontalen Kortex interpretiert werden. Dieser Teil des Gehirns ist stark an kognitiven und emotionalen Funktionen beteiligt. Ich denke, Emotionen sind kognitive Interpretationen der Situation, in der man sich befindet. Angst zum Beispiel ist die Erkenntnis, dass man sich in Gefahr befindet. Dieses Gefühl entsteht aus einer Vielzahl von Informationen. Angenommen, vor Ihnen befindet sich eine Schlange. Dann brauchen Sie Ihre Wahrnehmung, um die Schlange zu sehen. Sie brauchen Ihr Gedächtnis, um zu wissen, dass manche Schlangen gefährlich sind, und um sich daran zu erinnern, dass Ihre Eltern Sie vor Schlangen gewarnt haben. Ihre Amygdala versetzt Sie in einen Zustand der Reaktionsbereitschaft, fixiert Ihre Aufmerksamkeit auf die Schlange und aktiviert körperliche und physiologische Reaktionen. Ich glaube, all diese Informationen laufen im Arbeitsgedächtnis zusammen und verdichten sich dort zu einem Gefühl der Angst.
Warum denken dann alle, dass die Amygdala für Angstzustände verantwortlich ist?
Daran bin ich zum Teil selbst schuld. Ich habe die Amygdala als Ort der »impliziten Angst« bezeichnet. Damit wollte ich eigentlich den körperlichen und physiologischen Reaktionen einen Namen geben. Doch viele Leute dachten, ich meinte damit das bewusste Gefühl der Angst, die »explizite Angst«. Zunächst war mir das egal, aber nach einer Weile dachte ich: Das ist falsch. Ich musste meinen Standpunkt klarstellen, nicht nur für mich selbst, sondern vor allem, weil es sich auf die Behandlung von Ängsten auswirken kann. Medikamente, die auf die Amygdala einwirken, sind eher geeignet, körperliche und physiologische Reaktionen zu verändern, als die Angstzustände selbst zu lindern. Das ist zwar auch wichtig, aber es reicht nicht aus. Die irrige Vorstellung, wir könnten alle Angstprobleme mit einer Pille lösen, die auf die Amygdala wirkt, rührt daher, dass wir implizite und explizite Angst verwechseln. Wenn man ein Angstmedikament an Ratten testet und sie daraufhin weniger erstarren, weiß man nur, dass das Medikament ihre körperlichen Reaktionen beeinflusst. Man weiß nichts über etwaige Angstgefühle.
Lassen Sie uns über das Bewusstsein von Tieren sprechen. Ich habe gelesen, dass Ihre Ansichten zu diesem Thema oft missverstanden werden.
Viele Leute meinen, ich würde sagen, dass Tiere keine Gefühle und kein Bewusstsein haben. Das stimmt nicht. Ich sage nur, dass wir das nicht erforschen können. Wenn ein Hund von einem Auto angefahren wird und heult und sich windet, sind das körperliche, reflexartige Reaktionen. Wir projizieren darauf ein Schmerzgefühl, aber das können wir von außen nicht feststellen. Ich sage nicht, dass sie kein Bewusstsein haben, sondern dass wir darüber nur spekulieren können.
Bedeutet das nicht auch, dass ich nur spekulieren kann, dass Sie ein Bewusstsein haben?
Das könnte man so sagen. Doch jeder Mensch hat ein menschliches Gehirn. Wenn ich ein Bewusstsein habe, haben Sie es wahrscheinlich auch. Ein Tier hat das nicht, es verarbeitet Informationen anders als wir. Es gibt natürlich Ähnlichkeiten. Beispielsweise haben wir Menschen einige Bereiche im präfrontalen Kortex mit allen Säugetieren gemeinsam, andere wiederum nur mit Primaten. Dort gibt es jedoch einen Bereich, den wir offenbar nur mit anderen Menschen teilen. Vielleicht sogar mit Menschenaffen, aber das wissen wir nicht, da Hirnforschung an Menschenaffen nur begrenzt möglich ist. Wenn wir wüssten, was diese Hirnregionen zu unserem Bewusstsein beitragen, könnten wir daraus auf das Bewusstsein anderer Tiere rückschließen.
Abgesehen von der Wissenschaft: Glauben Sie, dass Tiere Gefühle haben?
Absolut! Man muss nicht immer durch die wissenschaftliche Brille gucken. Ich habe selbst Katzen. Wenn ich sie streichle und sie schnurren, gehe ich davon aus, dass sie glücklich sind.
Das heißt, dass Sie zwar daran glauben, aber als Wissenschaftler können Sie es nicht wissen?
In der Tat, wir wissen es nicht. Genau wie beim freien Willen. Ich glaube daran, dass wir einen freien Willen haben, ich schreibe auch in meinem neuen Buch darüber. Aber ich kann mir nicht sicher sein. Wenn man sich mit so komplexen Themen beschäftigt, muss man bereit sein zu sagen, dass man etwas nicht weiß. Ich habe meine Vorstellungen. Ob sie richtig sind, wird die Zeit zeigen.