Heute findet sich jedes zweite Paar über Dating-Apps wie Tinder oder Bumble. Die Sozialpsychologin Johanna Degen freute sich früher über den Erfolg der Plattformen, sieht heute aber kritisch, wie sie Beziehungen verändern – auch im analogen Leben.
Frau Degen, dank Dating-Apps ist die Suche nach dem oder der Richtigen heute überall möglich, ob auf dem Klo oder an der Ampel. Wie finden Sie das?
Ich hatte zu Beginn meiner Forschung 2017 eine positive und pragmatische Einstellung zu Dating-Apps: Leute lernen sich eben praktischerweise digital kennen, so haben sie eine neue Möglichkeit, in Kontakt zu kommen. Doch mein Narrativ ist gekippt. Dating-Apps verstärken bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen, zum Beispiel eine schwindende Beziehungskompetenz und digitale Vereinsamung – sie sind ein parasoziales Substitut.
Was meinen Sie damit?
Online-Dating funktioniert deshalb, weil wir das Gefühl haben, wir können sonst nirgendwo mehr Menschen treffen. In einer Gesellschaft, in der es in der Öffentlichkeit kaum mehr Raum gibt für zwischenmenschliche Annäherung, haben wir ein Substitut, einen Ersatz gefunden. Aber ist es wirklich eine schöne Möglichkeit, um Beziehungen zu knüpfen? Das möchte ich aus verschiedenen Gründen hinterfragen.
Johanna Degen ist Sozialpsychologin an der Europa-Universität Flensburg und Paartherapeutin. Sie wird von ihren Studenten «Dr. Tinder» genannt, da sie das Forschungsprojekt «Tinder: Profiling the Self» seit 2019 leitet. Gerade ist ihre Studienzusammenfassung «Swipe, like, love» als Buch erschienen.
Was spricht dagegen, wenn einsame Menschen so Kontakte finden?
Aus unseren Studien wissen wir, dass Social-Media-Nutzung und Online-Dating Einsamkeit entgegenwirken können. Doch es kommt auf die Ausgangslage an. Ein Beispiel: Ist die Grossmutter im Altersheim den ganzen Tag allein, so haben natürlich die Bilder von den Enkeln über Whatsapp einen positiven Effekt auf ihre Stimmung. Doch hätte die App die gleiche Bedeutung, wenn sie im Obergeschoss im Haus ihrer Kinder wohnen und am Familienleben teilnehmen dürfte? Sicher nicht. Es handelt sich hier bei der Kommunikation um einen etwas armseligen Ersatz, der ein gesellschaftliches Problem ausbügeln soll. Zusätzlich beobachten wir beim Online-Daten keinen positiven Spill-over-Effekt.
Was ist denn das?
Als Menschen früher auf der Partnersuche waren, mussten sie aktiv werden: Sie sind vielleicht auf Konzerte gegangen, haben die Nächte durchgetanzt, nachts betrunken einen Döner verdrückt oder waren auf einer Weinverkostung – und fühlten sich am nächsten Tag elend und verkatert. Auch wenn sie keinen Partner finden konnten, so haben sie ihr Leben gelebt, wurden darüber vielleicht sogar zum Weinexperten. Ich nenne das «sich das Leben aneignen». Schauen sie in zehn Jahren auf diese Zeit zurück, so haben sie eben keine Beziehung gehabt, aber Erlebnisse. Doch niemand erinnert sich in zehn Jahren gern an Wochenenden zurück, in denen er auf Tinder durchgeswipt hat, oder daran, wie schön es war, sich zwei Jahre lang auf Bumble ghosten zu lassen. Zeit mit Dating-Apps zu verbringen, hat keinen positiven Effekt auf das Wohlbefinden, eher im Gegenteil.
Wer viel Zeit auf Dating-Apps verbringt, hat eine stärkere Neigung zu Depressionen, einem schlechten Körperbild, Stressgefühlen und einem niedrigen Selbstwert.
Ja. Und es gibt die Gefahr, dass wir durch diese Apps verpassen, uns das Leben anzueignen. Und das merken auch viele Menschen. 2017 gab es noch so ein Phänomen, das hiess Tinderneid – viele Menschen wollten es unbedingt ausprobieren, weil die schier unendliche Auswahl potenzieller Partner und die schnelle Möglichkeit, sein Ego zu bestätigen, so verheissungsvoll erschien. Heute leben wir in der Zeit der Online-Dating-Fatigue, die Leute sind erschöpft und merken, das tut ihnen nicht gut.
Aber auch im analogen Leben kann man enttäuscht und abgelehnt werden und muss viel dafür tun, um die Aufmerksamkeit potenzieller Partner zu bekommen. Was ist beim Online-Dating anders?
Ich möchte nicht die Technik verteufeln. Man kann Dating-Apps positiv und gewinnbringend nutzen, und einer bestimmten Gruppe Nutzer gelingt das auch, die finden ihre Partner. Was wir daraus machen, liegt zu grossen Teilen an uns und nicht an den Apps oder Social Media selbst. Wenn ich Instagram nutze, um ein Rezept herauszusuchen, das ich mit meiner Freundin koche, dann hat das keinen negativen Effekt. Aber wenn ich nur auf dem Sofa liege und scrolle und mir Rezepte anschaue, die ich niemals koche, dann hat das einen negativen Einfluss auf das Wohlbefinden. Hinzu kommt, dass Dating-Apps ein parasoziales Substitut mit einer eigenen Logik und eigenen Regeln sind, die viele Menschen verletzen und erschöpfen.
Norman Rockwell (American, 1894-1978)
“Before The Date”
Saturday Evening Post cover, Sep 24, 1949.
Was meinen Sie mit parasozial?
Eine parasoziale Beziehung ist keine Face-to-Face-Beziehung, aber wir nutzen sie, um unsere sozialen Bedürfnisse zu befriedigen: Wir validieren uns, wir lenken uns ab, beruhigen und entspannen uns.
Wo ist das Problem?
Es gelten nicht die gleichen Regeln wie in echten sozialen Beziehungen. Zum Beispiel sind parasoziale Beziehungen in der Regel einseitig. Der eine verfolgt auf Social Media das Leben des anderen, ohne aber selbst einmal im Fokus zu stehen. Wenn Sie Zeit mit Influencerinnen verbringen, investieren Sie Zeit, Fokus, Emotionen und Geld. Und das Gehirn unterscheidet nicht, es bindet sich an die Person, ihm ist es egal, ob das nur digital ist. Und so lernen wir aus der digitalen Welt: Beziehungen dürfen einseitig sein. Mehrere Personen gleichzeitig zu daten und mit ihnen zu flirten, ist normal. Wer früher in einer Bar mit mehreren geflirtet hat, hat sich diskreditiert, heute ist Mehrgleisigkeit dank Dating-Apps Standard. Und einen ganz besonders hohen Preis hat das Prinzip des «low investments»: Viele Menschen gehen nur noch ein geringes emotionales Risiko ein.
Viele Menschen gehen nur noch ein geringes emotionales Risiko ein.
Sind das die Personen, die sich zwischen Mittagspause und Yoga-Training noch ein zwanzigminütiges Date schieben, um dann am Abend die nächste Person zu treffen?
Genau. Dating soll heute möglichst wenig Zeit, Aufwand, Geld und Emotionen kosten. Die Menschen investieren wenig Zeit, um einen Menschen kennenzulernen, aber viel Zeit in die App, um herumzuwischen. Das Problem dabei ist, dass man so Leute trifft, aber irgendwie dann doch nicht. Dabei geht die Spannung und das Besondere verloren. Man hat dann Dates, die nicht besonders aufregend sind, und bedeutungslosen Sex. Deshalb geht es heute so viel um irgendwelche sexuellen Techniken, weil die Menschen denken, das schöne Erlebnis könne man durch Technik herstellen.
Was wäre denn besser?
Es geht um Intimität und Begegnung und nicht darum, ob der Mann weiss, wie gross die Klitoris ist. Früher wäre mir das auch nicht über die Lippen gekommen, aber so vulgär reduzieren wir ja heute Sexualität auf technisches Können. Ich kann das Gerede darüber wirklich nicht mehr hören. Das ganze Unbewusste, das Mystische, Gewaltige, das gar nicht Explizierbare, was Liebe ist, das ist ja in Wahrheit unbeantwortet. Und wir suchen Partner nach Checkliste und versuchen mit quantitativen Maßnahmen qualitative Merkmale zu bekommen. Aber es geht hier nicht um das Was, sondern um das Wie. Da geht mir ein bisschen der Puls hoch.
Schreiben Sie deshalb, dass Online-Dating nicht nur Online-Dater etwas angeht?
Ja. Denn diese technisierte Logik von Beziehungen verändert das Verhalten im analogen Leben. Die Datingkultur hat sich insgesamt verändert. Die Menschen leben heute vor dem Hintergrund der scheinbar unendlichen Möglichkeiten, der Tausenden superattraktiven potenziellen Partner. Habe ich eine Beziehungskrise, kann ich mir auf dem Klo mal kurz Tinder installieren und schon mal weiterschauen. In Beziehungen fragen sich die Leute: Ist es fremdgehen, wenn mein Partner noch einen Tinder-Account hat? Wenn er in ein anderes Land reist und sich da mal umschaut? Für manche ist das das Ende der Ehe, für andere ganz normal – die Menschen müssen neue Normen aushandeln.
Aber die Apps selbst sind ja nicht schuld an der Misere, sondern die Menschen können das selbst beeinflussen. Wer also online die Liebe suchen möchte – welche Tipps haben Sie?
Ich sollte mir vorher bewusst machen, welche Erwartungen ich an eine Beziehung habe: Brauche ich eine Beziehung als Zweck, um mein Leben damit aufzuwerten? Oder interessiere ich mich wirklich dafür, einen anderen Menschen sehr genau kennenzulernen? Auch: Wie möchte ich behandelt werden und wie behandle ich andere? Wenn ich nicht geghostet werden möchte, ghoste ich auch nicht. Und in welches Leben lade ich ein? Im schlimmsten Fall treffen sich zwei Menschen, die sich durch den Partner das Glück, echte Intimität und ein gelebtes Leben erhoffen – dabei bestand das Leben des jeweils anderen in den letzten zwei Jahren auch nur aus Bildschirmen und Herumwischen.
Was raten Sie also?
Ich würde mir Zeit für einzelne Personen lassen, ein emotionales Risiko eingehen, mich nicht hinter einer Fassade verstecken. Wir wissen aus Untersuchungen, dass die Bilder auf Dating-Apps immer gleichförmiger und damit nichtssagender werden. Die Leute versuchen sich damit zu schützen. Aber wir wissen aus unseren Daten: Besonders erfolgreich neben den ganz Schönen sind diejenigen, die sich etwas trauen und ihre Persönlichkeit und auch Verletzlichkeit zeigen. Um eine echte Begegnung zu finden, muss ich mich preisgeben.